aleph hat geschrieben: ↑Freitag 1. September 2023, 08:21
Beim Spiegel gibts eine gute Zusammenfassung
https://www.spiegel.de/politik/deutschl ... f8ddb752dc
Es wird behauptet, Hubert Aiwanger hätte ein Exemplar von Mein Kampf besessen. Das glaube ich nicht. Helmut Aiwanger wird als Gegentyp zu Hubert Aiwanger geschildert, ein Led Zeppelin Fan. Warum sollte er sich dann für Hubert Aiwanger einsetzen?
Weil es sich um seinen Bruder handelt? Den Helmut Aiwanger muss es heute nicht mehr groß kümmern, wenn er als Autor des 35 Jahre alten Nazi-Hetzblatts gilt. Für ihn hängt davon nichts ab. Seinen Bruder hingegen kann es politisch den Kopf kosten. Die ganze Entwicklung läuft immer mehr in diese Richtung. Aber das nur am Rande... Es bleibt sehr auffällig, dass damals nicht Helmut sondern Hubert Aiwanger in Verdacht geraten ist, der Autor des Nazi-Geschmiers gewesen zu sein. Es muss ja irgendeinen Grund gegeben haben, warum man seine Schultasche gefilzt und die Hetzschrift darin gefunden hat.
Also, man soll nicht alles glauben, aber ich halte es schon für möglich und plausibel, dass Hubert Aiwanger in seiner Jugend Antisemit war. Ich vertraue aber darauf, dass er jetzt kein Antisemit mehr ist.
Bei der ganzen Diskussion geht es gar nicht mehr darum, was Hubert Aiwanger damals für eine Gesinnung hatte. Es geht auch nicht darum, dass er jetzt noch Nazi-Gesinnung haben könnte. Wenn er über die Affäre fällt, dann fällt er wegen der Art und Weise, wie er heute mit der Sache umgeht. Der Chefreporter der SZ hat bei Lanz klar gesagt, dass seine Zeitung über den ganzen Mist wahrscheinlich gar nicht berichtet hätte, wenn Aiwanger offen und glaubwürdig auf die ihm gestellte Bitte um Stellungnahme geantwortet hätte.
Genauso ist das mit der öffentlichen Debatte, die sich jetzt immer weiter aufheizt. Aiwanger hat sich unglaubwürdig gemacht, in dem er erst alles pauschal abgestritten, dann nach und nach nur ohnehin beweisbare Fakten zugegeben und sich ansonsten auf irgendwelche "Erinnerunglücken" berufen hat. Der erste Gipfel war dann sein verschwurbeltes Eingeständnis, dass er "seit dem Erwachsenenalter" kein Antisemit gewesen sei und dass man sein Verhalten als 17-Jähriger "so oder so interpretieren" könne. Der zweite Gipfelpunkt war dann seine "Entschuldigung"? Wofür hat er sich eigentlich entschuldigt, wenn er als nächsten Satz gleich hinterherschiebt, dass er Opfer einer "Kampagne" sei? Das stinkt alles danach, dass er nicht die Wahrheit gesagt hat. Heute! Nicht damals!
Das unsägliche Nazi-Schmierblatt steht gar nicht mehr im Zentrum. Aiwangers HEUTIGES Verhalten hat dazu geführt, dass inzwischen parteiübergreifend die Forderungen nach seinem Rücktritt oder Rausschmiss immer lauter werden. Der ganze Skandal wäre nicht derartig hochgekocht, wenn Aiwanger offen erklärt hätte, dass er damals eine "rebellische Phase" hatte und provozieren wollte, das alles aber politisch-ideologisch nie so gemeint habe. Mit größter Wahrscheinlichkeit hätte es dann nichtmal die SZ-Berichterstattung gegeben. Selbst nach der Veröffentlichung hätte Aiwanger das noch sagen und öffentlich beteuern können, dass er nie ein Antisemit oder Nazi-Anhänger war. Das hat er aber nicht gemacht. Stattdessen hat er versucht, sich rauszureden und sich selbst als "Opfer" darzustellen. DAS fällt ihm jetzt auf die Füße.
Was das für die Freien Wähler für Folgen hat, vermag ich nicht einzuschätzen. Die Freien Wähler bzw. ähnliche Gruppierungen gibt es fast überall in Deutschland. Das ist aber eine in sich sehr heterogene "Bewegung", die eigentlich nur auf der kommunalen Ebene aktiv ist und eigentlich auch nur da aktiv sein will. In Bayern und in BaWü sehen wir die eher ungewöhnliche Situation, dass die auf Landesebene als geschlossene "Partei" auftreten. Speziell in Bayern hing diese "Parteiwerdung" dieser "Graswurzelbewegung" sehr stark mit der Person Aiwanger zusammen.
Ich habe keine Ahnung, wie es sich auswirken wird, wenn Aiwanger durch diesen ganzen Skandal jetzt "verbrannt" wird. Die Funktionsträger der FW auf Landesebene haben sich hinter ihn gestellt. Aber wie sieht es an der Basis aus? Wie gesagt: Das ist ein "Zusammenschluss" von sehr heterogenen Gruppen, die ihrem Selbstverständnis nach auf kommunaler und lokaler Ebene Politik ganz unabhängig von Partei-Ideologie machen wollen. Das wird bei der Betrachtung des "Skandals" um oder der "Kampagne" gegen Aiwanger zu wenig berücksichtigt. Es wird vorausgesetzt, dass die FW eine "Stammwählerschaft" auf Landesebene haben. Das war im Grunde aber nie so. Die FW werden im öffentlichen Diskurs wie eine "Partei" betrachtet. Das waren sie aber nie und wollten es eigentlich auch nie sein. Soweit es mir aus der Ferne bekannt geworden ist, gab es einige Vorbehalte dagegen, die FW von der kommunalen auf die Landesebene hochheben zu wollen. Es war Hubert Aiwanger, die PERSON Hubert Aiwanger!, die den "Zusammenschluss" herbeiführen konnte.
Tja, welche Folgen könnte die Causa Aiwanger jetzt haben? Sie könnte dazu führen, dass die FW sich nun in Bayern quasi aus Trotz endgültig als "Partei" festigen. Diverse Analysten haben ja schon geschrieben, dass der Nazi-Schmierblatt-Skandal Aiwanger sogar stärken könnte. Es könnte aber auch dazu führen, dass die "Graswurzelbewegung" an der Basis sich angewidert von dem ganzen Parteien-Gezänk (nur zur Erinnerung: Um sich von dem Parteigezänk zu lösen, hat sich die Graswurzelbegegung überhaupt gegründet!) abwendet und wieder zu ihren Graswurzeln zurückkehrt. In dem Fall würden die FW auf Landesebene einfach aufhören zu existieren, auf kommunaler Ebene aber ungebrochen ihr Gewicht erhalten.
Nur zur Klarstellung, damit das nicht wieder irgendwer in gehässiger Absicht falsch interpretiert: Ich habe hier nicht die Existenzberechtigung der Freien Wähler (oder wie auch immer die einzelnen Gruppen sich nennen) infrage gestellt. Aufgrund meiner eigenen kommunalpolitischen Erfahrung weiß ist, dass es in diesen Gruppen viele, viele engagierte und auch sachkundige Leute gibt, die gute Absichten haben und sich dankenswerter Weise in öffentliche Entscheidungsprozesse "einmischen". Das ist gut und richtig und kann nicht hoch genug gelobt werden. Ich habe nur darüber herumphilosophiert, welche Auswirkungen die Causa Aiwanger auf den Versuch hat, in Bayern eine Partei aus den Graswurzelbewegungen zu schmieden.