NicMan hat geschrieben: ↑Sonntag 25. Juni 2023, 00:54
Putin bezeichnet Prigoschin Morgens noch als Verräter, spinnt eine Dolchstosslegende und vergleicht die Situation mit 1917. Einen dramatischeren Vergleich kann man in Russland in Bezug auf einen bewaffneten Aufstand wohl kaum wählen.
Am Abend lässt man dann genau diesen Prigoschin unter Straffreiheit (!) ziehen, nachdem dieser mit seiner Privatarmee 6 Kampfhubschrauber und ein Flugzeug abgeschossen hatte und Putin verbal direkt angegriffen hatte.
Die hektisch aufgebauten Maschienengewehrnester, der temporäre Verlust des für den Krieg nötigen HQ in Rostov und der kaum vorhandene Widerstand des ohnehin nicht anwesenden russischen Militär sind dabei noch nicht erwähnt.
Mir ist angesichts dessen nicht wirklich klar, wo manche hier einen Machtzuwachs von Putin sehen. Heute schien mir das erste Mal in 23 Jahren Putin, dass jemand sich überhaupt als eine Art „Alternative“ in Stellung bringen konnte.
Du gehst davon aus, dass die russische Bevölkerung jedes Wort von Putin auf die Goldwaage legen würde und jetzt "unzufrieden" mit Putin sein müsste. Ich denke, hier genau liegt die Fehlannahmen. Die meisten dürften glücklich darüber sein, dass es zu keinem internen militärischen Konflikt gekommen ist, der ihr Leben massiv eingeschränkt hätte. Der ganze Rest (Widersprüchliche Aussagen, Besetzung von Rostov etc.) lässt sich dagegen schon irgendwie erklären. Am Ende ist Schoigu der Böse, der Papa Putin und Prigoschin gegeneinander ausgespielt hat und jetzt (vermutlich) wird gehen müssen. Eine solche Sicht würde einer kritischen Analyse nicht standhalten, aber das russische Volk hinterfragt nicht kritisch... Sie entscheiden sowieso nicht.
Dass Putin geschwächt ist, sehe ich zwar auch, die Frage ist aber, ob das irgendwelche relevanten und unmittelbaren Auswirkungen auf den Konflikt in der Ukraine hat. Das sehe ich nicht (Bis auf einige Hubschrauber weniger). Wenn Prigoschin/Wagner jetzt an die Front zurückkehrt und wieder mit dem russischen Militär zusammenarbeitet, ändert sich recht wenig. Zumal, falls Prigoschin jetzt wirklich nach Weißrussland geht, Putin tatsächlich einen starken internen Konkurrenten verlieren würde. Unklar würde in diesem Fall bleiben, was sich Prigoschin bei dieser Sache gedacht hat bzw. was er von diesem Deal hat. Meine einzige Erklärung wäre, dass er auf mehr Unterstützung im russischen Establishment gehofft hat, diese nicht erhielt und daraufhin klein beigegeben hat.
Fakt ist, dass die Ereignisse letztlich für Putin/Russland sehr glimpflich ausgegangen sind. Sowohl mit Blick auf die Front in der Ukraine als auch auf Kämpfe innerhalb von Russland. Wenn wir uns in gestern 18:00 zurückversetzen, dann sind die meisten sicherlich von deutlich mehr ausgegangen. Teilweise war gedanklich schon die halbe russische Armee von der ukrainische Front abgezogen, Moskau in der Hand von Wagner und auch in Weißrussland geputscht worden. Das dürfte auch Putin gesehen haben. Dagegen ist der Deal mit Wagner das klar kleinere Übel.
Wir wissen nicht, wie es weiter geht und wie der Deal im Detail aussieht. Von daher kann es natürlich zu weiteren Auseinandersetzungen kommen. Aus einer ukrainischen Perspektive, welche zumindest für mich relevant ist (Mir ist es egal, wer die Macht in Russland hat), ist der Verlauf ernüchternd. Für sie ändert sich erstmal leider sehr wenig. Da ist es dann auch egal, wie sehr Putin angeblich "gedemütigt" wurde. Entscheidend ist die Front in der Ukraine.
Von Bedeutung bleiben die Aussagen von Prigoschin zu den russischen Lügen über den Ukraine-Krieg (Dass die Ukraine die besetzten Gebiete seit 2014 bombardiert hätte etc.). Diese sollten wir im Westen hervorheben, um die Putin-Freunde und ihre Narrative zu zerstören.