Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

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Skull
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Skull »

Polibu hat geschrieben:(05 Feb 2018, 11:08)

Die Ossis wählen nicht falsch. Man kann gar nicht falsch wählen in einem freiheitlichen demokratischen Staat.
Wir sind hier nicht in einer Scheindemokratie aka Diktatur.

Und gerade die Ossis wissen warum sie so wählen. Die haben ein Gespür dafür, wenn was falsch läuft. :)
Die bemerken es, wenn die freiheitlich demokratische Grundordnung in Gefahr ist.
Solche Sätze sind einfach nur...schwach.

Natürlich kann man falsch wählen.
Wenn man etwas wählt oder etwas gewählt hat, was sich später als Gefahr herausstellt.

Und ebenfalls sind Menschen in Ostdeutschland nicht die schlechteren oder besseren Menschen
mit einem besseren Gespür.

Wie albern ist denn so was ? :D

mfg
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schokoschendrezki
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von schokoschendrezki »

Selina hat geschrieben:(05 Feb 2018, 10:45)

Wie ich schon oft sagte, geht es mir absolut nicht darum, sich die DDR "zurückzuwünschen". Da hast du mich komplett falsch verstanden. Mir geht es einfach um weniger Selbstgerechtigkeit einiger Leute, mit der sie auch heute noch auf den Osten schauen. Vieles hat sich einfach völlig anders zugetragen, als immer wieder kolportiert wird. Da gibt es deine Geschichten, meine Geschichten und die Geschichten vieler anderer. Alle spannend, alle unterschiedlich. Mit unterschiedlichen Motivationen, so und so und nicht anders zu handeln. Das tut doch auch keinem weh, mal ein weniger differenzierter an die deutsch-deutsche Geschichte heranzugehen, zu schauen, welches Ursachengeflecht es gab, warum die DDR und die BRD damals so waren, wie sie waren und welche Viermächte-Interessen es gab. Im Gegenteil: Ich sehe in einer differenzierten genauen Betrachtung der Geschichte eine enorme Chance, den Ostlern ein wenig mehr Selbstbewusstsein zu geben. Was wiederum in der heutigen Rechtsruck-Situation unheimlich wichtig wäre. Denn nur auf Ost-West-Augenhöhe lassen sich die Verhältnisse wieder mehr demokratisieren. Nur so wars gemeint, denn ich bin wohl die Letzte, die die DDR wiederhaben wollte.
Meine Frage nach der Zurückgewünschtheit richtete sich auch nicht an dich persönlich sondern an die Allgemeinheit.

Was ich an deinem Beitrag einfach nicht akzeptieren kann, ist die Bezeichnung "Ostler". Niemand. Kein Mensch ist ein "Ostler". Weil es, wie es in einem politischen Essay heißt, auf den ich einige Beiträge weiter oben hinwies, keine kulturelle Identität gibt. Was es gibt, das sind Selbstkonstruktionen.

Aus einer Rezension:
Jullien hält die Vorstellung von "Identität" mit Blick auf Kulturen für einen grundsätzlichen Denkfehler: Die Verschiedenheit von Kulturen lasse sich nicht in Kategorien der Differenz von in sich geschlossenen Identitäten denken, sondern müsse eher in Begriffen des "Abstandes" gefasst werden. Was die derart einander mehr oder weniger nahen oder fernen Kulturen dann auszeichne, seien nicht ihre jeweiligen "Identitäten", sondern ihre jeweiligen "Ressourcen".
Ich selbst definiere mich weit weniger über irgendeine "Zugehörigkeit" und weit mehr über einen Abstand. Zum Beispiel zur DDR-Gesellschaft. Aber nicht nur zu der. Und begreife positive Dinge, die sich dort und dann abspielten eben einfach als Ressource. Literatur. Theater. Musik zum Beispiel. Und nicht als Teil irgendeiner DDR-Identität.

Das ganze Thema treibt mich schon einigermaßen um. Am 22. Februar gibts von der ZLB Berlin und am 20. März von der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Veranstaltung (http://www.franz-fuehmann.de/_veranstal ... tungen.htm), die (im zweiten Fall) mit "Sprachschöpfung in der Nachschöpfung. Übersetzung in Zeiten der Diktatur" betitelt ist und an denen ich selbst mitbeteiligt bin. Sorry für etwas Schleichwerbung. An sich gehts um Lyrik-Nachdichtungen in der DDR. Und speziell um dieses komplexe Verhältnis zu den Staaten, die damals offiziell als "Bruderländer" bezeichnet wurden. "Diktatur" ist ein ziemlich harter Begriff. Ich bin mir nicht sicher, ob er angemessen ist. Ich hoffe aber mal, dass auch darüber diskutiert wird.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(05 Feb 2018, 07:51)

Die Verbindung von "Nation" und "Staat" zumindest ist ein historisch sehr junges Phänomen. Und ich bin absolut überzeugt davon, dass es auch ebenso schnell wieder von der Bildfläche verschwindet, wie es aufgetaucht ist.
Nein ist es nicht! Nation i.S.v. Volk war überhaupt die Grundvoraussetzung für Staatenbildung/Entwicklung staatlicher Strukturen. Im Imperium Romanum stand Nation für die Unterscheidung mit Ein- und Zuwanderern sowie deren (bürger)rechtlichtliche Stellung.
Als Selbstbezeichnung von Volk als politische Einheit (Nation) - heißt auf gemeinsame Vorfahren und [auf] Geschichte begründeter Eigenart erlangt der Begriff Nation bereits im 16. Jh. zunehmend an Bedeutung.
So "sehr jung" ist diese Verbindung von Nation und Staat nicht, sie ist im Gegenteil historisch gewachsen.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von schokoschendrezki »

Selina hat geschrieben:(05 Feb 2018, 10:56)

Damit meine ich vor allem die zumeist einheitlichen Zeitungsüberschriften seit der Wende, die hier wiedergegeben werden. Da brauchst du die letzte Diskussion (und viele ähnliche Diskussionen) nur anschauen, da siehst du es. Ist auch überhaupt nicht böse oder abwertend gemeint. Ich mag nur einfach nicht diese stark verknappenden Diskussionen im Stile: "Wir investieren Milliarden in den Osten und nun wählen die undankbaren Ossis auch noch falsch". So eine vereinfachende Sichtweise bringt uns hier nicht weiter.
Und das ist sowieso noch mal ein ganz anderes Thema. Es ist ziemlich kompliziert, eine Gesamtrechnung dieser Transferleistungen aufzumachen bzw. die tatsächlich hinter diesen Transfers stehenden Interessenslagen zu analysieren. Selbst ein so konservatives Blatt wie die "Welt" schrieb 2010 anlässlich 20 Jahre Deutsche Einheit
Der Westen hat die Kosten für den Aufbau der neuen Länder nicht allein getragen. Im Gegenteil, er hat vom Osten profitiert.
Meine Meinung dazu (als zugegebenermaßen ökonomischer Laie) ist immer mehr die, dass es im Grunde gar nicht möglich ist, Finanzen nettobetragsmäßig irgendwo hinzutransferieren. Sie fließen automatisch in größerer Menge zurück. Infrastrukturprojekte werden ja nicht einfach bezahlt und "hingestellt" sondern von konkreten Firmen als Auftrag übernommen. Insofern erweisen sich solche Transfers dann sehr häufig einfach als verdeckte Subventionen.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(05 Feb 2018, 08:19)

Der Punkt ist, dass beides historisch sozusagen höchst vorübergehende Zuordnungen sind. "Es gibt keine kulturelle Identität" ist der Ttitel eines der klügsten politischen Essays der letzten Jahre. Geschrieben von dem französischen Philosophen und Sinologen François Jullien. Nochmal: "Es gibt keine kulturelle Identität". Jedem Erdenbürger des 21. Jahrhunderts steht die Gesamtheit aller kulturellen Leistungen der Menschheit als Ressource zur Verfügung. Zumindest perspektivisch. Wurde man irgendwann früher in eine bestimmte Kultur hineingeboren, so werden diese vorgefundenen kulturellen Zuordnungen in Zukunft immer weiter erodieren. Bzw. sind jetzt schon erodiert. Was habe ich herkunftsmäßig - sagen wir mal exemplarisch - mit dem Blues als ursprünglich afroamerikanischer Kulturerscheinung zu tun? Nichts! Und dennoch nehme ich mir 'ne Gitarre und spiel darauf einen Blues. Und wenn ich mir ordentlich Mühe gebe, dann wird der auch authentisch und in nichts von einem von einem Afroamerikaner gespielten Blues unterscheidbar sein. Und so gehts mit allen anderen Phänomenen auch. Der Mensch der Gegenwart und näheren Zukunft wird sein soziales und gesellschaftliches Selbst mehr und mehr als Projekt, als konstruierbare Wirklichkeit erleben. Und das ist etwas absolut großartiges und begrüßenswertes. Und gerade die Tatsache, dass es aktuell in Form von Besinnungen auf nationale und ethnische Identitäten heftigste Gegenwehr gibt, bestärkt mich in der Überzeugung davon. Umwälzungen sind in aller Regel für Mehrheiten nicht so einfach verkraftbar.
Typisches Geschwafel von Sozialkonstruktivisten und Kulturrelativisten. Typische Negation und Ignoranz allgemeingültiger (universeller) Werte. Angesichts der Tatsache, dass Generationen für diese universellen Werte (Menschenrechte) gekämpft haben und gestorben sind, einfach nur zum Ko****.
Die Werte der Aufklärung (Menschenrechte) werden auf dem Altar der Beliebigkeit geopfert - warum denn sich denn noch für Gleichberechtigung der Frau, für Recht auf körperliche Unversehrtheit, Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit einsetzen und/oder sich mit solchen Werten identifizieren? Die erodieren doch sowieso. Schließlich kann sich ja jeder auch der "Gesamtheit der kulturellen Ressourcen" heraus suchen, was ihm am meisten liegt. Warum dann noch Ehrenmorde, Unterdrückung der Frau, Enfernen von Frauen aus dem öffentlichen Raum mittels sexueller Gewalt kritisieren oder gar sanktionieren - ist doch alles gleichwertig.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(05 Feb 2018, 11:21)

Meine Frage nach der Zurückgewünschtheit richtete sich auch nicht an dich persönlich sondern an die Allgemeinheit.

Was ich an deinem Beitrag einfach nicht akzeptieren kann, ist die Bezeichnung "Ostler". Niemand. Kein Mensch ist ein "Ostler". Weil es, wie es in einem politischen Essay heißt, auf den ich einige Beiträge weiter oben hinwies, keine kulturelle Identität gibt. Was es gibt, das sind Selbstkonstruktionen.
Sorry, aber du quasselst mal wieder Unsinn!
Selbstverständlich gibt es eine kuklturelle Identität, werden Menschen von der und durch die Kultur geprägt, in die sie hinein geboren werden und in der (bzw in deren Traditionen) sie aufwachsen.
Und daran ändern auch noch so viele unbewiesene Behauptungen irgendwelcher Philosophen nichts.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(05 Feb 2018, 11:21)

Meine Frage nach der Zurückgewünschtheit richtete sich auch nicht an dich persönlich sondern an die Allgemeinheit.

Was ich an deinem Beitrag einfach nicht akzeptieren kann, ist die Bezeichnung "Ostler". Niemand. Kein Mensch ist ein "Ostler". Weil es, wie es in einem politischen Essay heißt, auf den ich einige Beiträge weiter oben hinwies, keine kulturelle Identität gibt. Was es gibt, das sind Selbstkonstruktionen.

Aus einer Rezension:



Ich selbst definiere mich weit weniger über irgendeine "Zugehörigkeit" und weit mehr über einen Abstand. Zum Beispiel zur DDR-Gesellschaft. Aber nicht nur zu der. Und begreife positive Dinge, die sich dort und dann abspielten eben einfach als Ressource. Literatur. Theater. Musik zum Beispiel. Und nicht als Teil irgendeiner DDR-Identität.

Das ganze Thema treibt mich schon einigermaßen um. Am 22. Februar gibts von der ZLB Berlin und am 20. März von der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Veranstaltung (http://www.franz-fuehmann.de/_veranstal ... tungen.htm), die (im zweiten Fall) mit "Sprachschöpfung in der Nachschöpfung. Übersetzung in Zeiten der Diktatur" betitelt ist und an denen ich selbst mitbeteiligt bin. Sorry für etwas Schleichwerbung. An sich gehts um Lyrik-Nachdichtungen in der DDR. Und speziell um dieses komplexe Verhältnis zu den Staaten, die damals offiziell als "Bruderländer" bezeichnet wurden. "Diktatur" ist ein ziemlich harter Begriff. Ich bin mir nicht sicher, ob er angemessen ist. Ich hoffe aber mal, dass auch darüber diskutiert wird.
Ja, alles interessant. Ich empfinde mich gleichfalls nicht "als Teil irgendeiner DDR-Identität". Und ja, "Ostler" und "Ossi" sind Scheißbegriffe genau wie "Westler" und "Wessi". Das geschieht hier nur als Reaktion auf vorgegebene Diskussions-Klischees. Wenn der ganze Osten als "falsch wählend" und "undankbar" abgetan wird, gibt es dazu halt ne passende Replik. Was ich aber an anderer Stelle deutlich sagte, war etwas, woran mir viel mehr gelegen ist: Jeder hat seine eigene Wahrnehmung, seine eigenen Geschichten über sein DDR-Leben, seine Erinnerungen, seine Reflexionen. Und genau das ist das Spannende, diese Differenziertheit, die so aber - zumindest in vielen Medien - nicht publiziert wird. Die Gründe sind bekannt, warum. Da sollte man aber einfach genauer hinschauen, falls man wirklich eine halbwegs vernünftige Vergangenheits-Betrachtung haben möchte. Mehr war damit nicht gemeint. Mit Klischees vom "undankbaren Ossi" kommt man da nicht weiter. Die Geschichte mit der so genannten "kulturellen Identität" sehe ich ähnlich wie du. Habe ich auch Dutzende Male geschrieben.
Zuletzt geändert von Selina am Montag 5. Februar 2018, 12:38, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Polibu »

Selina hat geschrieben:(05 Feb 2018, 12:36)

Ja, alles interessant. Ich empfinde mich gleichfalls nicht "als Teil irgendeiner DDR-Identität". Und ja, "Ostler" und "Ossi" sind Scheißbegriffe genau wie "Westler" und "Wessi".
Warum?
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Selina »

Polibu hat geschrieben:(05 Feb 2018, 12:37)

Warum?
Weil a) jeder Mensch ein Individuum ist und sich nicht aus einer Gruppenzugehörigkeit heraus definiert oder definieren sollte. Er wird geprägt durch alle möglichen Erlebnisse, Erfahrungen, Begegnungen, durchs Elternhaus, Freunde, Kollegen. Aber das Ergebnis ist dennoch immer das einzelne unverwechselbare Individuum. Und b) weil die DDR seit fast drei Jahrzehnten Geschichte ist.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Dark Angel »

Selina hat geschrieben:(05 Feb 2018, 12:36)

Ja, alles interessant. Ich empfinde mich gleichfalls nicht "als Teil irgendeiner DDR-Identität". Und ja, "Ostler" und "Ossi" sind Scheißbegriffe genau wie "Westler" und "Wessi". Das geschieht hier nur als Reaktion auf vorgegebene Diskussions-Klischees. Wenn der ganze Osten als "falsch wählend" und "undankbar" abgetan wird, gibt es dazu halt ne passende Replik. Was ich aber an anderer Stelle deutlich sagte, war etwas, woran mir viel mehr gelegen ist: Jeder hat seine eigene Wahrnehmung, seine eigenen Geschichten über sein DDR-Leben, seine Erinnerungen, seine Reflexionen. Und genau das ist das Spannende, diese Differenziertheit, die so aber - zumindest in vielen Medien - nicht publiziert wird. Die Gründe sind bekannt, warum. Da sollte man aber einfach genauer hinschauen, falls man wirklich eine halbwegs vernünftige Vergangenheits-Betrachtung haben möchte. Mehr war damit nicht gemeint. Mit Klischees vom "undankbaren Ossi" kommt man da nicht weiter. Die Geschichte mit der so genannten "kulturellen Identität" sehe ich ähnlich wie du. Habe ich auch Dutzende Male geschrieben.
Und genau da liegt der Hase im Pfeffer, genau das ist dein Problem. Du unterscheidest nicht (kannst offensichtlich auch nicht unterscheiden) zwischen Geschichten und Geschichte, bist unfähig zu abstrahieren.
Es besteht nämlich ein himmelweiter Unterschied zwischen Geschichten/Einzelschicksalen und der Entwicklung eines Staates, es besteht ein Unterschied zwischen den Möglichkeiten/Nischen, den Arrangements des Einzelnen und den gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen, dem sozialen und gsellschaftlichen Rahmen in welchem Möglichkeiten vorgegeben und begrenzt werden.
Geschichte Vergangenheitsaufarbeitung kann jedoch nur aus gesamtgesellschaftlicher Sicht erfolgen bzw betrachtet werden und nicht aus den Befindlichkeiten Einzelner.

Und selbstverständlich ist niemand "Teil einer (DDR) Identität", weil es beim Menschen keine Gruppenidentität i.S.v. gemeinsamer/gemeinschaftlicher Identität gibt, sondern nur individuelle Identität. Menschen identfitieren sich mit etwas, identifizieren sich mit einer Gruppe, fühlen sich dieser Gruppe zugehörig, bleiben dennoch Individuen mit ganz idividueller Identität.
Und nicht wenige Menschen in der DDR haben sich mit diesem Staat, mit diesem System identifiziert, waren jedoch niemals Teil einer "DDR-Identität", was immer das auch (gewesen) sein soll.
Zuletzt geändert von Dark Angel am Montag 5. Februar 2018, 12:56, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Polibu »

Selina hat geschrieben:(05 Feb 2018, 12:49)

Weil a) jeder Mensch ein Individuum ist und sich nicht aus einer Gruppenzugehörigkeit heraus definiert oder definieren sollte. Er wird geprägt durch alle möglichen Erlebnisse, Erfahrungen, Begegnungen, durchs Elternhaus, Freunde, Kollegen. Aber das Ergebnis ist dennoch immer das einzelne unverwechselbare Individuum. Und b) weil die DDR seit fast drei Jahrzehnten Geschichte ist.
Es geht dabei doch darum klar zu machen von wen man überhaupt spricht. Ich wüsste jetzt nicht was an den Bezeichnungen Ossi oder Wessi schlecht sein soll? Ist einfach nur ein abkürzender Begriff.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Selina »

Dark Angel hat geschrieben:(05 Feb 2018, 12:49)

Und genau da liegt der Hase im Pfeffer, genau das ist dein Problem. Du unterscheidest nicht (kannst offensichtlich auch nicht unterscheiden) zwischen Geschichten und Geschichte, bist unfähig zu abstrahieren.
Es besteht nämlich ein himmelweiter Unterschied zwischen Geschichten/Einzelschicksalen und der Entwicklung eines Staates, es besteht ein Unterschied zwischen den Möglichkeiten/Nischen, den Arrangements des Einzelnen und den gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen, dem sozialen und gsellschaftlichen Rahmen in welchem Möglichkeiten vorgegeben und begrenzt werden.
Geschichte Vergangenheitsaufarbeitung kann jedoch nur aus gesamtgesellschaftlicher Sicht erfolgen bzw betrachtet werden und nicht aus den Befindlichkeiten Einzelner.
Nein, genau darum geht es mir ja: Auf die individuellen Geschichten zu schauen. Aus denen setzt sich dann eine Art Mosaik zusammen. Die "gesamtgesellschaftliche Sicht", ok, was soll das sein?

Aber mal was anderes: Es war eine Zeit lang relativ friedlich hier ohne dein unfreundliches arrogantes Geschwafel. Du hast offenbar pausiert. Du kennst mich nicht und schreibst, ich könne nicht abstrahieren, ja mehr noch, ich sei unfähig dazu. Reiß dich mal ein bisschen zusammen. Wenn du meine Beiträge im Kontext der Diskussion richtig gelesen und verstanden hättest, müsstest du solch einen unhöflichen Unfug nicht schreiben. Denn gerade darauf legte ich wert: Mal wegzugehen von den so genannten "gesamtgesellschaftlichen" vereinfachenden Sichtweisen, hin zu dem, was der Einzelne wie und warum gedacht und getan hat damals. Nur auf diese Weise entsteht eine Art Gesamtbild, falls man das überhaupt braucht. Außerdem sind die individuellen Geschichten und Sichtweisen oft viel hintergründiger, spannender und aussagekräftiger als irgendeine "gesamtgesellschaftliche" Verlautbarung, wie dieses Leben angeblich gewesen sein soll.
Zuletzt geändert von Selina am Montag 5. Februar 2018, 13:40, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(05 Feb 2018, 11:33)

Nein ist es nicht! Nation i.S.v. Volk war überhaupt die Grundvoraussetzung für Staatenbildung/Entwicklung staatlicher Strukturen. Im Imperium Romanum stand Nation für die Unterscheidung mit Ein- und Zuwanderern sowie deren (bürger)rechtlichtliche Stellung.
Als Selbstbezeichnung von Volk als politische Einheit (Nation) - heißt auf gemeinsame Vorfahren und [auf] Geschichte begründeter Eigenart erlangt der Begriff Nation bereits im 16. Jh. zunehmend an Bedeutung.
So "sehr jung" ist diese Verbindung von Nation und Staat nicht, sie ist im Gegenteil historisch gewachsen.
Noch ein Friedrich der 2. schrieb mit "De la littérrature allemande" ein Buch, in welchem er die deutsche Literatur auf eine Vorgabe durch die französische Sprache versuchte festzulegen. Ich bezweifle, dass der sich als Herrscher eines deutschen Nationalstaats ansah. Im übrigen lässt sich der Beginn dieses Nationalstaatsprinzip historisch sehr genau festlegen. Mit der französischen Februarrevolution und der nachfolgenden Machtverfestigung Napoleons des Dritten nämlich. Dieses Nationalitätenprinzip (https://de.wikipedia.org/wiki/Nationali ... tenprinzip), und zwar erst Mitte des 19. Jahrhunderts die bis dahin herrschende Vorstellung eines Gottesgnadentums des jeweiligen Herrschers ab.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(05 Feb 2018, 12:05)

Sorry, aber du quasselst mal wieder Unsinn!
Selbstverständlich gibt es eine kuklturelle Identität, werden Menschen von der und durch die Kultur geprägt, in die sie hinein geboren werden und in der (bzw in deren Traditionen) sie aufwachsen.
Und daran ändern auch noch so viele unbewiesene Behauptungen irgendwelcher Philosophen nichts.
Das "quassle" nicht ich sondern das schrieb und veröffentlichte ein hochgeachteter französischer Philosoph in einem sehr positiv rezensierten Buch mit genau diesem Ttiel: "Es gibt keine kulturelle Identität". Wortwörtlich.

Es ist dein gutes Recht, eine eigene Meinung dazu zu vertreten. Du musst allerdings auch ein Verhältnis zu dem Fakt, zu der Tatsache finden, dass eine beträchtliche Anzahl Menschen das eben sehr anders sieht.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(05 Feb 2018, 11:50)

Typisches Geschwafel von Sozialkonstruktivisten und Kulturrelativisten.
Ist schon klar. Alle verdorben.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(05 Feb 2018, 13:13)

Das "quassle" nicht ich sondern das schrieb und veröffentlichte ein hochgeachteter französischer Philosoph in einem sehr positiv rezensierten Buch mit genau diesem Ttiel: "Es gibt keine kulturelle Identität". Wortwörtlich.

Es ist dein gutes Recht, eine eigene Meinung dazu zu vertreten. Du musst allerdings auch ein Verhältnis zu dem Fakt, zu der Tatsache finden, dass eine beträchtliche Anzahl Menschen das eben sehr anders sieht.
Ändert aber nichts daran, dass es sich um eine unbewiesene Behauptung handelt, mehr noch um eine Falschbehauptung.
Es gibt kulturelle Identität. Was meinst du was muslimische Bekleidungsvorschriften und deren Einhaltung sind? Das IST Ausdruck kultureller Identität und nichts anders.
Die Behauptung einer "selbstkonstruierten Wirklichkeit" resultiert aus nichts anderem als Sozialkonstruktivismus.
Ob dir das nun passt oder nicht.
Und unabhängig davon, ob der französische Philosoph hochgeachtet ist oder nicht, vertritt er dennoch Sozialkonstruktivismus und dass das Buch "sehr positiv" rezensiert wird (von wem auch immer) liegt daran, dass Sozialkonstruktivismus und Kulturrelativismus dem gegenwärtigen Zeitgeist entsprechen und von den entsprechenden Vertretern auch entsprechend rezensiert wird.
Dass wiederum Vertreter des Kulturrelativismus kulturelle Identität genauso ablehnen wie universelle Werte, ist nun wirklich kein Geheimnis.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Dark Angel »

Selina hat geschrieben:(05 Feb 2018, 12:52)

Nein, genau darum geht es mir ja: Auf die individuellen Geschichten zu schauen. Aus denen setzt sich dann eine Art Mosaik zusammen. Die "gesamtgesellschaftliche Sicht", ok, was soll das sein?
Nein - aus individuellen Geschichten, individuellem Erleben setzt sich die gesamtgesellschaftliche Sicht eben nicht zusammen.
Es sind und bleiben Einzelerlebnisse, individuelle Geschichten, die sich innerhalb des gesamtgesellschaftlich vorgegebenen Rahmens abspielen.
Diesen Rahmen geben Politik und Ideologie vor. Und obwohl sich die DDR gern den Anstrich einer Demokratie gab, handelte es sich um eine Parteiendiktatur.
Selina hat geschrieben:(05 Feb 2018, 12:52)
Aber mal was anderes: Es war eine Zeit lang relativ friedlich hier ohne dein unfreundliches arrogantes Geschwafel. Du hast offenbar pausiert. Du kennst mich nicht und schreibst, ich könne nicht abstrahieren, ja mehr noch, ich sei unfähig dazu.
Nun - du tust es nicht. Du bestehst darauf, dass man "Einzelgeschichten" berücksichtigen müsse. Das funktioniert aber nicht, weil a) keine 17 Mio Einzelgeschichten berücksichtigt werden können, b) immer eine bestimmte Auswahl getroffen wird und c) die getroffene Auswahl u.U. dem gewünschten Ergebnis entspricht.
Wenn es möglich wäre tatsächlich alle 17 Mio Einzelgeschichten zu berücksichtigen, dann ergäbe sich durchaus ein Muster, welches sich verallgemeinern ließe, was ein Bild zuließe, was dann jedoch wiederum den Vorwurf der Undifferenziertheit hervorriefe.
Selina hat geschrieben:(05 Feb 2018, 12:52)Reiß dich mal ein bisschen zusammen. Wenn du meine Beiträge im Kontext der Diskussion richtig gelesen und verstanden hättest, müsstest du solch einen unhöflichen Unfug nicht schreiben. Denn gerade darauf legte ich wert: Mal wegzugehen von den so genannten "gesamtgesellschaftlichen" vereinfachenden Sichtweisen, hin zu dem, was der Einzelne wie und warum gedacht und getan hat damals. Nur auf diese Weise entsteht eine Art Gesamtbild, falls man das überhaupt braucht. Außerdem sind die individuellen Geschichten und Sichtweisen oft viel hintergründiger, spannender und aussagekräftiger als irgendeine "gesamtgesellschaftliche" Verlautbarung, wie dieses Leben angeblich gewesen sein soll.
Die gesamtgesellschaftliche Sichtweise ist gerade nicht vereinfachend - ganz im Gegenteil, sie bedarf einer tiefgründigen Analyse und die erreichst du mit deinen "spannenden Einzelgeschichten" eben nicht. Das sind und bleiben individuelle Einstellungen und Sichtweisen, bleiben Einzelerlebnisse. Sie sind niemals hintergründiger. Das ist ein Trugschluss.
Die allermeisten haben sich auf die eine oder andere Weise mit "dem System" arrangiert, haben versucht, das Beste daraus zu machen, haben versucht, ein (einigermaßen) glückliches Leben zu führen. Das ist nur allzu menschlich.
Was der einzelne tatsächlich gedacht hat, wirst du nie erfahren.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(05 Feb 2018, 13:47)

Ändert aber nichts daran, dass es sich um eine unbewiesene Behauptung handelt, mehr noch um eine Falschbehauptung.
Es gibt kulturelle Identität. Was meinst du was muslimische Bekleidungsvorschriften und deren Einhaltung sind? Das IST Ausdruck kultureller Identität und nichts anders.
Die Behauptung einer "selbstkonstruierten Wirklichkeit" resultiert aus nichts anderem als Sozialkonstruktivismus.
Ob dir das nun passt oder nicht.
Und unabhängig davon, ob der französische Philosoph hochgeachtet ist oder nicht, vertritt er dennoch Sozialkonstruktivismus und dass das Buch "sehr positiv" rezensiert wird (von wem auch immer) liegt daran, dass Sozialkonstruktivismus und Kulturrelativismus dem gegenwärtigen Zeitgeist entsprechen und von den entsprechenden Vertretern auch entsprechend rezensiert wird.
Dass wiederum Vertreter des Kulturrelativismus kulturelle Identität genauso ablehnen wie universelle Werte, ist nun wirklich kein Geheimnis.
Nun ja. Das Toleranzprinzip des Aushaltens unterschiedlicher Ansichten (innerhalb gewisser Grenzen) als universeller Wert zumindest achtet selbst ein Ultrakonstruktivist wie ich.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(05 Feb 2018, 14:12)

Nein - aus individuellen Geschichten, individuellem Erleben setzt sich die gesamtgesellschaftliche Sicht eben nicht zusammen.
Es sind und bleiben Einzelerlebnisse, individuelle Geschichten, die sich innerhalb des gesamtgesellschaftlich vorgegebenen Rahmens abspielen.
Diesen Rahmen geben Politik und Ideologie vor. Und obwohl sich die DDR gern den Anstrich einer Demokratie gab, handelte es sich um eine Parteiendiktatur.
Wie das denn? Wills Du ernsthaft behaupten, oppositionelle Gruppen und Personen hätte es in der DDR nicht gegeben? Dann möchte ich ja gern mal wissen, wofür beispielsweise der Schriftsteller Siegmar Faust eigentlich im Zuchthhaus Cottbus saß.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von schokoschendrezki »

Aber damit sind wir wieder beim Thema Jean-Paul Sartre und seiner bevorstehenden oder auch bereits laufenden Wiederentdeckung. Als Philosoph und Literat wohlgemerkt. Nicht wegen seiner (ziemlich peinlichen) politischen Ansichten und Aktionen. Nichts, kein jota kann ein autoritäres System wie die DDR oder eine Diktatur wie Nazideutschland an der inneren Freiheit eines freien Menschen einschränken. Selbst die Leiden und Unterdrückungen sind - so absurd es auch klingt - selbstgewählt. Oder genauer gesagt, können als "selbstgewählt" betrachtet werden. So dass ein freier Mensch immer und grundsätzlich souverän ist, die Oberhand behält.
Nicht die „Härte einer Situation und die von ihr auferlegten Leiden“ sind Motive dafür, dass man sich einen anderen Zustand der Dinge denkt, bei dem es aller Welt besser ginge; im Gegenteil, von dem Tag an, da man sich einen anderen Zustand denken kann, fällt ein neues Licht auf unsere Mühsale und Leiden und entscheiden wir, dass sie unerträglich sind.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Selina »

"Gesamtgesellschaftliche Sicht" ist ein Abstraktum. Geschichten, Erinnerungen, Reflexionen des Einzelnen sind konkret. Mich interessiert vor allem Letzteres. Daher kritisierte ich ja auch diese "gesamtgesellschaftlichen" Zeitungsüberschriften, die einem vorschreiben wollen, wie man sein eigenes Leben bitte zu sehen hat. Nichts anderes sagte ich weiter oben. Sobald irgendjemand versucht, individuelle Erfahrungen auf irgendeine Weise zu bündeln oder zu verallgemeinern, wirds flach und zum Teil sogar unzulässig.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Skull »

Selina hat geschrieben:(05 Feb 2018, 15:03)

"Gesamtgesellschaftliche Sicht" ist ein Abstraktum.
Geschichten, Erinnerungen, Reflexionen des Einzelnen sind konkret.

Mich interessiert vor allem Letzteres.
Und ?

Was machst Du mit dieser Sicht des Einzelnen ?
Ist diese individuelle Einzelsicht dann für Dich entscheidest, wie Du Dinge bewertest ?
Ist diese individuelle Enzelsicht dann der Maßstab ?

mfg
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(05 Feb 2018, 14:26)

Nun ja. Das Toleranzprinzip des Aushaltens unterschiedlicher Ansichten (innerhalb gewisser Grenzen) als universeller Wert zumindest achtet selbst ein Ultrakonstruktivist wie ich.
Toleranzprinzip heißt aber nicht, dass ich jede Meinung teilen muss, dass ich nicht hinterfragen oder kritisieren darf un es bedeutet auch nicht, dass ich nicht auf Fehler und Schwächen hinweisen darf.
Was vom Sozialkonstruktivismus zu halten ist, hat doch wohl die so genannte Sokal-Affäre am deutlichsten gezeigt - nämlich um eine vollkommen irrationale, realitätsferne Denkweise um eine Ideologie handelt. Und Alan Sokal ist nicht der Einzige, der darauf hinweist, dass Sozialkonstruktivismus denkbar untauglich ist Sozialstrukturen und soziale Wirkmechanismen zu erklären.

Dass du Vertreter des Kuklturrelativismus bist, hast du hinlänglich und oft genug bewiesen, indem du Kultur als als Erklärungsmuster für gesellschaftlich und historisch gewachsene Prozesse grundsätzlich ablehnst und auf winzige Teilaspekte einer Kultur reduzierst. Zudem auf Teilaspekte, die mit jeder anderen Kultur kompatibel sind und problemlos übernommen werden können und auch übernommen werden. Darauf baust du dein gesamtes Gedankengebäude auf uns versuchst damit Kultur als gesellschaftlich und historisch gewachsenen Prozess zu negieren bzw ad absurdum zu führen.
Übrigens typisch für Vertreter des Kulturrelativismus, welche obendrein behaupten Kulturen könnten/dürften nicht miteinander verglichen werden, sondern könnten/dürften nur im jeweiligen Wertekontext gesehen werden.
Das wiederum bedeutet die grundsätzliche Ablehnung universeller Werte.
Was Vertreter des Kulturrelativismus wiederum nicht kapieren, dass zum Wertekontext einer Gesellschaft/Kultur auch deren Rechtssystem/Gesetze gehören, die allerdings für Vertreter einer anderen Kultur nicht bindend sind, weil sie ja nicht zu deren Wertekontext gehören. Kulturrelativisten negieren damit nichts weniger als die Allgemeingültigkeit/Universalität der Menschenrechte.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(05 Feb 2018, 14:39)

Wie das denn? Wills Du ernsthaft behaupten, oppositionelle Gruppen und Personen hätte es in der DDR nicht gegeben? Dann möchte ich ja gern mal wissen, wofür beispielsweise der Schriftsteller Siegmar Faust eigentlich im Zuchthhaus Cottbus saß.
Wo genau behaupte ich denn dergleichen?
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Ger9374 »

Die Fragestellung sollte besser lauten,
Wann geht Patriotismus in einen Nationalismus
über, welche Grenzen wurden dann überschritten!?
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Dark Angel »

Selina hat geschrieben:(05 Feb 2018, 15:03)

"Gesamtgesellschaftliche Sicht" ist ein Abstraktum. Geschichten, Erinnerungen, Reflexionen des Einzelnen sind konkret. Mich interessiert vor allem Letzteres. Daher kritisierte ich ja auch diese "gesamtgesellschaftlichen" Zeitungsüberschriften, die einem vorschreiben wollen, wie man sein eigenes Leben bitte zu sehen hat. Nichts anderes sagte ich weiter oben. Sobald irgendjemand versucht, individuelle Erfahrungen auf irgendeine Weise zu bündeln oder zu verallgemeinern, wirds flach und zum Teil sogar unzulässig.
Es sei dir unbelassen, wenn dich nur Geschichten, Erinnerungen etc Einzelner interessieren. Sie liefern dennoch kein umfassendes Bild über die "Zustände" in der DDR.
Zur gesamtgesellschaftlichen Sicht, gehören halt auch die wirtschaftliche Situation, herrschende Ideologie, Politik etcpp.
Wirtschaftlich war die DDR am Ende - sie war zahlungsunfähig, war pleite.
Ich habe im Braunkohlebergbau gearbeitet - so genannte Grundstoffindustrie und die war relativ "privilegiert". Da wurden finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, die sowohl im Handel als auch in der Leichtindustrie fehlten.
Und dennoch wurden uns von der staatlichen Plankommission die Mittel für Ersatzinvestitionen zusammen gestrichen, wurden finanzielle Mittel für Neuinvestitionen dastisch gekürzt. Das sah dann so aus, dass für einen neu zu bauenden Kraftwerkschornstein keine Filteranlagen vorgesehen (gestrichen) wurden, weil die ja Devisen kosteten. Die Begründung lautete damals allen Ernstes bei der Höhe des Schornsteins seien Filteranlagen unnötig, weil ja Staub und Abgase weiträumig verteilt würden. Wir haben mit Brikettpressen gearbeitet, die Baujahr 1866 bis 1912 waren, die Zähne der Baggerschaufeln der Abraumbagger wurden zigmal wieder aufgearbeitet, damit sie sich dann wieder ein paar Wochen durch 90m Deckgebirge aus Geschiebemergel der Saaleeiszeit und Sandstein "fressen" konnten. Ersatzinvestitionen - Fehlanzeige!
Die Zahräder der Planetengetriebe der Abraum- und Kohlebagger wurden zigmal wieder augeschmiedet und wieder eingebaut - Ersatzinvestition - Fehlanzeige! Die Gurtbänder der Bandanlagen wurden wieder und wieder geflickt, bis gar nix mehr ging. Die mussten für Devisen im "Westen" eingekauft werden. Aber Produktion steigern - koste es was es wolle
Dabei hat der Betrieb, in dem ich arbeitete die wertvollen Devisen erwirtschaftet. "Unsere" Kohle hatte nämlich einen Bestandteil, welcher auf dem Weltmarkt hoch begehrt ist - genannt Montanwachs. Es gibt weltweit drei Lagerstätten mit montanwachshaltigem Braunkohleflöz - zwei davon in der ehemaligen DDR und eins in Kalifornien.

Niemand - schon gar nicht eine gesamtgesellschaftliche Analyse/Sicht schreibt irgendjemandem vor, wie er seine ganz persönliche Biographie zu werten hat. Und individuelle Erfahrungen können auch nicht "gebündelt und verallgemeinert" werden, das bleiben individuelle Erfahrungen, die individuell gewichtet und bewertet werden.

Und ganz nebenbei hast du eine individuelle Erfahrungsgeschichte geliefert bekommen. ;)
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Selina »

Dark Angel hat geschrieben:(05 Feb 2018, 16:05)

Es sei dir unbelassen, wenn dich nur Geschichten, Erinnerungen etc Einzelner interessieren. Sie liefern dennoch kein umfassendes Bild über die "Zustände" in der DDR.
Zur gesamtgesellschaftlichen Sicht, gehören halt auch die wirtschaftliche Situation, herrschende Ideologie, Politik etcpp.
Wirtschaftlich war die DDR am Ende - sie war zahlungsunfähig, war pleite.
Ich habe im Braunkohlebergbau gearbeitet - so genannte Grundstoffindustrie und die war relativ "privilegiert". Da wurden finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, die sowohl im Handel als auch in der Leichtindustrie fehlten.
Und dennoch wurden uns von der staatlichen Plankommission die Mittel für Ersatzinvestitionen zusammen gestrichen, wurden finanzielle Mittel für Neuinvestitionen dastisch gekürzt. Das sah dann so aus, dass für einen neu zu bauenden Kraftwerkschornstein keine Filteranlagen vorgesehen (gestrichen) wurden, weil die ja Devisen kosteten. Die Begründung lautete damals allen Ernstes bei der Höhe des Schornsteins seien Filteranlagen unnötig, weil ja Staub und Abgase weiträumig verteilt würden. Wir haben mit Brikettpressen gearbeitet, die Baujahr 1866 bis 1912 waren, die Zähne der Baggerschaufeln der Abraumbagger wurden zigmal wieder aufgearbeitet, damit sie sich dann wieder ein paar Wochen durch 90m Deckgebirge aus Geschiebemergel der Saaleeiszeit und Sandstein "fressen" konnten. Ersatzinvestitionen - Fehlanzeige!
Die Zahräder der Planetengetriebe der Abraum- und Kohlebagger wurden zigmal wieder augeschmiedet und wieder eingebaut - Ersatzinvestition - Fehlanzeige! Die Gurtbänder der Bandanlagen wurden wieder und wieder geflickt, bis gar nix mehr ging. Die mussten für Devisen im "Westen" eingekauft werden. Aber Produktion steigern - koste es was es wolle
Dabei hat der Betrieb, in dem ich arbeitete die wertvollen Devisen erwirtschaftet. "Unsere" Kohle hatte nämlich einen Bestandteil, welcher auf dem Weltmarkt hoch begehrt ist - genannt Montanwachs. Es gibt weltweit drei Lagerstätten mit montanwachshaltigem Braunkohleflöz - zwei davon in der ehemaligen DDR und eins in Kalifornien.

Niemand - schon gar nicht eine gesamtgesellschaftliche Analyse/Sicht schreibt irgendjemandem vor, wie er seine ganz persönliche Biographie zu werten hat. Und individuelle Erfahrungen können auch nicht "gebündelt und verallgemeinert" werden, das bleiben individuelle Erfahrungen, die individuell gewichtet und bewertet werden.

Und ganz nebenbei hast du eine individuelle Erfahrungsgeschichte geliefert bekommen. ;)
Ja, danke. Interessant. Ich könnte auch jede Menge solche und andere Geschichten erzählen. Ich bin aber im Gegensatz zu dir der Auffassung, dass mir die Summe vieler einzelner Geschichten wesentlich mehr sagt als eine - von wem auch immer - verkündete "gesamtgesellschaftliche Sicht". Der Briefwechsel von Christa Wolf und Lew Kopelew erzählt mir zum Beispiel mehr über den verflossenen Sozialismus und wie er nachlebt im Positiven wie im Negativen als sämtliche "Festtagsreden" zum soundsovielten Einheitstag oder Mauerfall-Jubiläum. Sogar der damalige Briefwechsel enger Verwandter mit Schriftstellern, Medizinern und Philosophen erzählt mir mehr Gültiges als sämtliche Zeitungsberichte zusammen. Aber das kann jeder so halten, wie er mag.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von schokoschendrezki »

schokoschendrezki hat geschrieben:Wie das denn? Wills Du ernsthaft behaupten, oppositionelle Gruppen und Personen hätte es in der DDR nicht gegeben? Dann möchte ich ja gern mal wissen, wofür beispielsweise der Schriftsteller Siegmar Faust eigentlich im Zuchthhaus Cottbus saß.
DarkAngel hat geschrieben: Wo genau behaupte ich denn dergleichen?
Das will ich dir sagen:
DarkAngel hat geschrieben: Es sind und bleiben Einzelerlebnisse, individuelle Geschichten, die sich innerhalb des gesamtgesellschaftlich vorgegebenen Rahmens abspielen. Diesen Rahmen geben Politik und Ideologie vor.
Ein oppositionelles Auftreten zeichnet sich eben gerade dadurch aus, definiert sich dadurch, dass es den "gesamtgesellschaftlich vorgegebenen Rahmen" überschreitet.Die individuelle Geschichte eines DDR-Oppositionellen spielt sich eben gerade nicht in einem vorgegebenen Rahmen ab.

Mal zwei ganz andere Beispiele: Die musikalische Genialität des Jazz-Gitarristen Django Reinhardt ist (unter anderem natürlich) dadurch erklärbar, dass er als junger Mann bei einem Brand zwei der fünf Finger seiner linken Hand verloren hat. So kurios wie das auch erscheinen mag. Die musikalische Genialität eines Miles Davis ist unter anderem damit erklärbar, dass er trotz privilegiertem Elternhaus und guter Ausbildung noch selbst als weltbekannter Musiker in den USA von der Polizei wegen Aufenthalts in für Schwarze verbotenen Zonen verprügelt wurde. Du siehst: Zum einen biologische Gegebenheiten und zum anderen soziale Vorgefundenheiten sind nicht im Mindesten zwingend prägend für eine indiviudelle Biographie. Der Mensch ist von allen möglichen äußeren Zwängen bedrängt und andererseits innerlich vollkommen frei. Es haben nur sehr sehr viele Menschen Angst vor dieser Freiheit. Vielleicht solltest Du dich mal etwas näher mit dem soziokulturellen Phänomen "Künstlertum" befassen. Mindestens eine Funktion dieses Phänomens besteht darin, Vorgefundenheiten und Geprägtheiten überschreiten zu können. Heraustreten zu können aus scheinbaren Unüberschreitbarkeiten.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(05 Feb 2018, 18:14)

Das will ich dir sagen:


Ein oppositionelles Auftreten zeichnet sich eben gerade dadurch aus, definiert sich dadurch, dass es den "gesamtgesellschaftlich vorgegebenen Rahmen" überschreitet.Die individuelle Geschichte eines DDR-Oppositionellen spielt sich eben gerade nicht in einem vorgegebenen Rahmen ab.
Natürlich spielt sich auch die Geschichte der DDR-Oppositionellen innerhalb des gesamtgesellschaftlich vorgegebenen Rahmens ab. Wo denn sonst?
Opposition bedeutet ja gerade einer Meinung oder einer Lehre oder einer Ideologie oder Politik widersprechen.
Ideologie und Politik bilden diesen gesamtgesellschaftlichen Rahmen.
Und gegen diese Ideologie und Politik haben die Oppositionellen opponiert - innerhalb. Sie haben diesen gesamtgesellschaftlichen Rahmen NICHT überschritten.
Opposition gibt es nur IN einer Gesellschaft (in einem gesamtgesellschaftlichen Rahmen), niemals außerhalb.

Also es bleibt dabei: Es sind und bleiben Einzelerlebnisse, individuelle Geschichten, die sich innerhalb des gesamtgesellschaftlich vorgegebenen Rahmens abspielen. Diesen Rahmen geben Politik und Ideologie vor.
Und genau das gilt auch für die Oppositionellen.
Also unterlass bitte so dämliche Unterstellungen ala ich würde eine (außerparlamentarische) Opposition in der ehemaligen DDR leugnen!
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Woppadaq »

schokoschendrezki hat geschrieben:(05 Feb 2018, 07:58)

Ich weiß nicht. Ja. Die Gesellschaft, die soziale Gesamtheit derer, die auf einem Territorium mit der von einer autoritären Gruppe verodneten Selbstbezeichnung "DDR" lebten ... ja. Innerhalb dieser Gesamtheit gab es Minderheiten von Oppositionellen. Von anders denkenden. Die im allgemeinen nicht einfach nur von "oben", von staatlichen Behörden drangsaliert wurden sondern auch von dieser seltsamen Gesamtheit von DDR-Identitären. Du merkst: Ich sehe es sehr viel negativer. Und ich habs auch negativer erlebt.
Ich weiss nicht, ob du schon immer so kosmopolitisch drauf warst oder ob dich erst dein Erlebtes dazu gemacht hat. Ich hab das nach der Wiedervereinigung bei sehr vielen erlebt, dass man sich zum Kosmopoliten gemacht hat, um weder DDR- noch BRD-Identität zu haben, geschweige denn überhaupt mit dem Deutschsein in Verbindung gebracht zu werden. Für mich ist das aber eben DDR-Identität: dass man nicht BRD sein will. Von jener Identität , die sich jetzt nach der Wiedervereinigung langsam herausbildet, red ich da noch gar nicht.
Mich würde überhaupt mal interessieren, ob irgendjemand in diesem Forum sich eines dieser seltsamen Gebilde, egal ob diese verklemmte Bonner Republik oder dieses DDR-Monstrum, beides mitsamt einer geteilten größten Stadt tatsächlich zurückwünscht.
Sich zu seiner DDR-Identität zu bekennen bedeutet NICHT, dass man sich die DDR vor der Wende zurückwünscht. Man mag vielleicht das eine oder andere, was es in der DDR gab, gut gefunden haben, aber im Grossen und Ganzen wünscht sich dieses System keiner zurück. Jener kurze Zeitraum nach der Wende bis zur Wiedervereinigung war aber eine kurze Zeit, wo man so etwas wie ein eigenes DDR-Bewusstsein hatte, man ging untereinander ganz anders miteinander um, weitaus dezenter, auch offener als im Westen. Die Wiedervereinigung hat so ein bisschen die historische Leistung der Wende in den Hintergrund gerückt, die in dieser Form ja vor allem von selbstbewussten DDR-Bürgern vollbracht wurde. Die Wende wollten damals im Prinzip alle, die Wiedervereinigung aber eben nicht.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Woppadaq »

schokoschendrezki hat geschrieben:(05 Feb 2018, 18:14)

Das will ich dir sagen:


Ein oppositionelles Auftreten zeichnet sich eben gerade dadurch aus, definiert sich dadurch, dass es den "gesamtgesellschaftlich vorgegebenen Rahmen" überschreitet.Die individuelle Geschichte eines DDR-Oppositionellen spielt sich eben gerade nicht in einem vorgegebenen Rahmen ab.
Naja, das mit dem "gesamtgesellschaftlich vorgegebenen Rahmen" ist so eine Sache. Wenn du behauptest, dass die DDR-Oppositionellen diesen Rahmen verliessen, sagst du im Prinzip, dass sie sich illegal verhielten. Das war aber sehr oft nicht der Fall. Es gab kein Gesetz, welches Kritik an den Machenschaften der DDR-Regierung verbot. Es gab auch keine Vorschrift, was man auf Demonstrationen von sich zu geben hat. In einer Diktatur braucht man das auch nicht. Die fehlende Rechtsstaatlichkeit im Bezug auf politischer Betätigung ist oft schon einschüchternd genug.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Woppadaq »

Ger9374 hat geschrieben:(05 Feb 2018, 15:44)

Die Fragestellung sollte besser lauten,
Wann geht Patriotismus in einen Nationalismus
über, welche Grenzen wurden dann überschritten!?
Patriotismus ist im Grunde Loyalität zu seiner Nation.
Nationalismus bedeutet dagegen Egoismus der Nation.

Und bevor wieder irgendwelche Leute meinen, den Begriff "Egoismus" verwässern zu wollen: Egoismus bedeutet nicht, dass du auch mal oder überwiegend an dich denkst. Es bedeutet, dass es nur dich gibt und alles andere sich dem zu fügen hat. Oder anders gesagt: wenn du in die Kaufhalle gehst, bist du ab dem Moment ein Egoist, wo du etwas aus dem Regal nimmst. Was kein Problem ist, denn an der Kasse wirst du wieder zum Altruisten. Das gleicht sich aus. Der echte Egoist ist der, der nicht zahlen will - und sich dafür ständig Gründe ausdenkt.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Hyde »

Woppadaq hat geschrieben:(05 Feb 2018, 23:53)

Patriotismus ist im Grunde Loyalität zu seiner Nation.
Was genau meinst du mit „Loyalität zur Nation“?
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Hyde »

Selina hat geschrieben:(04 Feb 2018, 17:21)
Und mit dem Ausruf "Scheißsystem DDR" verurteilst du über Bausch und Bogen auch diejenigen, die da gelebt und gearbeitet haben
Das eine hat mit dem anderen nix zu tun. Wenn ich sagen würde „das Scheißsystem Nazi-Deutschland“, würdest du mich dann auch dafür rügen und sagen, dass man das „differenzierter“ sehen müsse und dass ich mit dem Aufruf „Scheißsystem Drittes Reich“ die Menschen verurteilen würde, die darin gelebt haben? Und ich daher nicht von „Scheißsystem Drittes Reich“ sprechen sollte?

Den Menschen würde es gut tun, wenn sie nicht immer gleich beleidigt wären. Das System der DDR war halt scheiße, das muss man auch sagen können - anstatt es zu verschweigen, bloß weil manche Menschen ein zu geringes Selbstwertgefühl haben und sich dann aus irgendwelchen komischen Gründen verletzt fühlen könnten (weil man „ihr Land“ beleidigt hat)...
Wer sein Selbstwertgefühl über seine Landeszugehörigkeit definiert, der tut mir sowieso Leid!

Selbst an unserem heutigen Deutschland finde ich einige Dinge scheiße, und ich habe meine Heimat nie vollumfänglich geliebt. Ich finde zum Beispiel den chronischen Konservatismus scheiße, der in diesem Land herrscht und immer geherrscht hat. Soll ich diese Kritik nun verschweigen, aus irgendwelchen lächerlichen patriotischen Gründen? Oder aus Rücksicht auf die Gefühle der „anderen Deutschen“?
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von schokoschendrezki »

Woppadaq hat geschrieben:(05 Feb 2018, 23:44)

Naja, das mit dem "gesamtgesellschaftlich vorgegebenen Rahmen" ist so eine Sache. Wenn du behauptest, dass die DDR-Oppositionellen diesen Rahmen verliessen, sagst du im Prinzip, dass sie sich illegal verhielten. Das war aber sehr oft nicht der Fall. Es gab kein Gesetz, welches Kritik an den Machenschaften der DDR-Regierung verbot. Es gab auch keine Vorschrift, was man auf Demonstrationen von sich zu geben hat. In einer Diktatur braucht man das auch nicht. Die fehlende Rechtsstaatlichkeit im Bezug auf politischer Betätigung ist oft schon einschüchternd genug.
Das halte ich jetzt ein bissel für Wortklauberei. Mal davon abgesehen, dass der Führungsanspruch der SED auch ganz formell und sogar in Artikel 1 der Verfassung festgelegt war. Man sich also, wenn man diesen Anspruch anzweifelt, verfassungsfeindlich verhält. Peng.

Natürlich kann man als "gesamtgesellschaftlichen Rahmen" auch die in oppositionellen Gruppen vorherrschende Ablehnung der von der SED vertretenen Ideologie sehen. Der ist allerdings nicht "vorgegeben" sondern allenfalls von den einen akzeptiert und von den anderen eben nicht. Opposition zu einer autoritären Macht ebenso wie Aufklärung, Demokratie-Prinzipien, Religion usw. usf. sind, wie François Jullien schreibt, eben "Ressourcen", die man annehmen und nutzen oder ablehnen kann. Und aus der individuellen Wahl dieser Annahmen und Ablehnungen entsteht die Konstruktion der eigenen Lebenswirklichkeit. Das schwierige am Verständnis dieser Sichtweise dürfte darin bestehen, dass diese selbstgewählte Ich-Konstruktion eben auch unabhängig von äußeren Zwängen zustande kommt. Gerade hörte ich eine Reportage über die in einem Land wie Kenia, in welchem inzwischen sowohl Genitalsverstümmelungen als auch Kinderehen eigentlich gesetzlich verboten sind, nach wie vor besonders auf dem Land weit verbreitete Praxis eben dieser weiblichen Genitalverstümmelung. Und darüber, dass dies in bestimmten Regionen eben Teil des sozialen Selbstverständnisses ist. Dass Eltern, die ihre Töchter nicht beschneiden lassen, innerhalb ihrer sozialen Gemeinschaft geächtet sind. Und dann eben über einige wenige junge Frauen, die in die Hauptstadt fliehen, dort irgendwie Geld verdienen und sich damit ein Studium finanzieren. Ein besseres Beispiel lässt sich kaum finden dafür, dass es eben keine kulturelle Identität gibt. Dass man jeder Art von Vorgefundenheit entfliehen kann. Dass, wie Jullien es formuliert, der Begriff der kulturellen Identität ein Denkfehler ist. Bzw. - vor allem in Europa - ein Abwehrreflex gegen Phänomene der Modernisierung.
Ist Europa christlich geprägt? Oder aber laizistisch? Beides! Sowohl Christentum als auch die Aufklärung seien europäische "Ressourcen", sagt der französische Philosoph François Jullien. Mit seiner Denkfigur der "kulturellen Ressource" wendet er sich gegen reaktionäre Fantasien.

Von der Angst vor der Globalisierung als Triebkraft für den Aufstieg von Nationalismus und Rechtspopulismus in Europa und den USA ist in letzter Zeit viel die Rede gewesen. Von wirtschaftlichen Abstiegsängsten ebenso wie der Sorge, eigener kultureller Traditionen durch die Migrationsbewegungen verlustig zu gehen - als Motor für die immer lauter werdenden Forderungen nach einer Rückkehr zu geschlosseneren, homogeneren Gesellschaften, zu "unseren" eigenen Traditionen und "Werten" oder zu einer auf Abstammung beruhenden nationalen und kulturellen Identität.
Der Mensch der Moderne ist - wie Sartre es formuliert - einfach "ins Leben geworfen" und steht vor der AUfgabe, sich, seinem eigenen Leben, selbst einen SInn zu geben. Er ist nicht mehr - wie früher - selbstverständlich Teil einer religiösen Werte-Gemeinschaft mit ganz bestimmten Regeln und Vorgaben.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(05 Feb 2018, 14:12)
Die gesamtgesellschaftliche Sichtweise ist gerade nicht vereinfachend - ganz im Gegenteil, sie bedarf einer tiefgründigen Analyse und die erreichst du mit deinen "spannenden Einzelgeschichten" eben nicht. Das sind und bleiben individuelle Einstellungen und Sichtweisen, bleiben Einzelerlebnisse. Sie sind niemals hintergründiger. Das ist ein Trugschluss.
Die allermeisten haben sich auf die eine oder andere Weise mit "dem System" arrangiert, haben versucht, das Beste daraus zu machen, haben versucht, ein (einigermaßen) glückliches Leben zu führen. Das ist nur allzu menschlich.
Was der einzelne tatsächlich gedacht hat, wirst du nie erfahren.
Doch. Denn das genau ist eine der Aufgaben von Kunst und Literatur. Volker Brauns Lyrikband "Training des aufrechten Gangs" nur als ein Beispiel von vielen. Sprache lässt sich letztendlich nicht hintergehen. Die bleibende Literatur war am Ende immer die, die die Verhältnisse authentisch beschreibt. Und die nicht-authentische Literatur verrät sich am Ende durch sprachliche Unvollkommenheit. Auch wenn dies eine "systemische" Kritik natürlich keineswegs überflüssig macht.
Zuletzt geändert von schokoschendrezki am Dienstag 6. Februar 2018, 08:16, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von schokoschendrezki »

Selina hat geschrieben:(04 Feb 2018, 17:21)
Das ist mir zu undifferenziert. Sicher gab es Scheiße, aber eben nicht nur. Genauso, wie heute nicht alles eitel Sonnenschein ist in der vielgelobten Marktwirtschaft. Da sollte man schon ein wenig genauer hinschauen. Ich sag ja auch nicht "Scheißsystem BRD", obwohl es da in so manchem Punkt auch Anlass dafür gäbe. Es gab zwei deutsche Staaten im Ergebnis des zweiten Weltkrieges und beide deutschen Staaten haben sich im kalten Krieg nicht viel geschenkt gegenseitig. Kein einziger Staat in der Weltgeschichte existiert im luftleeren Raum. Alles ist im Fluss, alles hat seine Ursachen und Hintergründe. Und noch mal zum gefühlten tausendsten Male: Ich will die DDR nicht zurück; ich hatte selbst jede Menge Probleme mit dem System. Aber: Ich bin für eine Versachlichung in der Geschichtsbetrachtung. Die ist dringend nötig, will man nicht die Kluft immer weiter vertiefen. Und mit dem Ausruf "Scheißsystem DDR" verurteilst du über Bausch und Bogen auch diejenigen, die da gelebt und gearbeitet haben und nun nicht ständig in Sack und Asche gingen.
Das Problem ist aber schon ein bissel der Begriff "System". Wenn du die Verurteilung des "Systems DDR" mit der Verurteilung aller auf dem Gebiet der DDR lebenden Menschen gleichsetzt, dann sagst du damit implizit, dass alle auf dem Gebiet der DDR lebenden Menschen, wie es so schön heißt, "Teil des Systems" waren. Das stimmt aber nicht!

Das System DDR ist in meinen Augen tatsächlich ohne wenn und aber zu verurteilen.
Zuletzt geändert von schokoschendrezki am Dienstag 6. Februar 2018, 08:21, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Skull »

Hyde hat geschrieben:(06 Feb 2018, 03:50)

Das eine hat mit dem anderen nix zu tun. Wenn ich sagen würde „das Scheißsystem Nazi-Deutschland“, würdest du mich dann auch dafür rügen und sagen, dass man das „differenzierter“ sehen müsse und dass ich mit dem Aufruf „Scheißsystem Drittes Reich“ die Menschen verurteilen würde, die darin gelebt haben? Und ich daher nicht von „Scheißsystem Drittes Reich“ sprechen sollte?

Den Menschen würde es gut tun, wenn sie nicht immer gleich beleidigt wären. Das System der DDR war halt scheiße, das muss man auch sagen können - anstatt es zu verschweigen, bloß weil manche Menschen ein zu geringes Selbstwertgefühl haben und sich dann aus irgendwelchen komischen Gründen verletzt fühlen könnten (weil man „ihr Land“ beleidigt hat)...
Wer sein Selbstwertgefühl über seine Landeszugehörigkeit definiert, der tut mir sowieso Leid!

Selbst an unserem heutigen Deutschland finde ich einige Dinge scheiße, und ich habe meine Heimat nie vollumfänglich geliebt. Ich finde zum Beispiel den chronischen Konservatismus scheiße, der in diesem Land herrscht und immer geherrscht hat. Soll ich diese Kritik nun verschweigen, aus irgendwelchen lächerlichen patriotischen Gründen? Oder aus Rücksicht auf die Gefühle der „anderen Deutschen“?
Dem kann ich nur beipflichten und trifft das, was ich mit solch' einer Aussage auch ausdrückte.

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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von schokoschendrezki »

Skull hat geschrieben:(06 Feb 2018, 08:21)

Dem kann ich nur beipflichten und trifft das, was ich mit solch' einer Aussage auch ausdrückte.

mfg
Ja. Nur ist es, wenn man gründlich drüber nachdenkt, gar nicht so ganz einfach, zu bestimmen, was zum "System" gehört und was nicht. Die kritische Literatur, um dieses Beispiel noch mal aufzunehmen, Samisdat-Publikationen sowieso, aber auch ein Teil der veröffentlichten Literatur, wird man zweifellos als "nicht-systemisch" einordnen können. Denn es gab keine gesellschaftlichen Prozesse in der DDR, die in irgendeiner Weise, funktional auf die Existenz einer kritischen Literatur angewiesen waren. Wissenschaft, solange sie sich nicht direkt in den Dienst eines Apparats (Militär zum Beispiel) stellte, dürfte man ähnlich einordnen können.

Das in der DDR allgemein herrschende "Kollektivismusgebot" dagegen.... Dies wird möglicherweise von einigen auch heute noch als positiv gewertet. Für mich ist dieser Kollektivismus der zentrale Teil des ganzen funktionalen Systems DDR überhaupt gewesen.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Dark Angel »

Woppadaq hat geschrieben:(05 Feb 2018, 23:53)

Patriotismus ist im Grunde Loyalität zu seiner Nation.
Nationalismus bedeutet dagegen Egoismus der Nation.

Und bevor wieder irgendwelche Leute meinen, den Begriff "Egoismus" verwässern zu wollen: Egoismus bedeutet nicht, dass du auch mal oder überwiegend an dich denkst. Es bedeutet, dass es nur dich gibt und alles andere sich dem zu fügen hat. Oder anders gesagt: wenn du in die Kaufhalle gehst, bist du ab dem Moment ein Egoist, wo du etwas aus dem Regal nimmst. Was kein Problem ist, denn an der Kasse wirst du wieder zum Altruisten. Das gleicht sich aus. Der echte Egoist ist der, der nicht zahlen will - und sich dafür ständig Gründe ausdenkt.
Den ersten Satz unterschreibe ich.
Nationalismus hingegen bezeichne ich nicht als "Egoismus der Nation", sondern als Überhöhung der (eigenen) Nation, des eigenen Volkes gegenüber anderen Nationen/Völkern.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(06 Feb 2018, 08:05)

Doch. Denn das genau ist eine der Aufgaben von Kunst und Literatur. Volker Brauns Lyrikband "Training des aufrechten Gangs" nur als ein Beispiel von vielen. Sprache lässt sich letztendlich nicht hintergehen. Die bleibende Literatur war am Ende immer die, die die Verhältnisse authentisch beschreibt. Und die nicht-authentische Literatur verrät sich am Ende durch sprachliche Unvollkommenheit. Auch wenn dies eine "systemische" Kritik natürlich keineswegs überflüssig macht.
Eine Kultur besteht, nicht nur aus Kunst und Literatur! Wann begreifst du das endlich?
Und eine Gesellschaft, soziale Strukturen, Politik, Ideologie etc erst recht nicht und die werden weder durch Kunst und Literatur bestimmt und/oder verändert.
Und Sprache bestimmt auch keine gesellschaftlichen Verhältnisse und analysiert auch nichts. Sprache ist ein Mittel zum Zweck - nicht mehr und nicht weniger!
Mittels Sprache sind wir (Menschen) in der Lage zu kommunizieren, Probleme und deren Lösungsansätze auszudrücken und zu vermitteln.
Literatur beschreibt KEINE Verhältnisse "authentisch" - das ist Unsinn. Dann wäre jeder Roman, jede Lyrik eine Beschreibung die "tatsächliche (authentische) Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse - ist sie aber NICHT. Der Begriff "dichterische Freiheit" scheint dir fremd zu sein.
Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse ist Aufgabe der Politik- und Geschichtswissenschaften und NICHT von Kunst und Literatur.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(06 Feb 2018, 08:11)

Das Problem ist aber schon ein bissel der Begriff "System". Wenn du die Verurteilung des "Systems DDR" mit der Verurteilung aller auf dem Gebiet der DDR lebenden Menschen gleichsetzt, dann sagst du damit implizit, dass alle auf dem Gebiet der DDR lebenden Menschen, wie es so schön heißt, "Teil des Systems" waren. Das stimmt aber nicht!

Das System DDR ist in meinen Augen tatsächlich ohne wenn und aber zu verurteilen.
Nein, das denke ich nicht. Mit so einer Pauschalisierung kann ich nichts anfangen. So gibt es Teile dieses "Systems", die man entschieden ablehnen sollte oder könnte und andere Teile, die gar nicht so schlecht waren, ja, mehr noch, die sogar bewahrenswert gewesen wären. Letzteres ist nur verpönt, das zu sagen. Realistische Politiker aus West und Ost forderten zur Wendenzeit nicht umsonst, Bewahrenswertes aus beiden Seiten in die Einheit einfließen zu lassen. Das wäre dann insgesamt zwar ein etwas anderes Deutschland gewesen, aber viele Ostdeutsche hätten selbstbewusster in das neue vereinigte Staatsgebilde eintreten können. Weil sie gesehen hätten, dass nicht alles nur "Scheiße" war, worauf sich ihr vergangenes Leben bezogen hatte, sondern dass man einzelne Bestandteile sogar mit rübernimmt ins neue Deutschland. Der Witz ist ja sogar, dass paar gute Dinge durch die Hintertür (mit anderen Namen natürlich) wieder eingeführt werden, zum Beispiel Polikliniken/Ärztehäuser, Polytechnische Oberschulen/Ganztagsschulen (nur leider ohne diese technischen Anspruch, aber ansonsten alles so wie damals) uswusf.

Mich amüsiert bei dieser ganzen Diskussion eigentlich nur immer wieder, was diese lange verflossene DDR doch für tiefe Spuren hinterlassen haben muss, dass man sich tagtäglich auch heute noch - fast 30 Jahre nach ihrem Ende - gegenseitig schulterklopfend bestätigen muss, wie schrecklich das doch alles war, wie unfrei und eingekerkert sich dort alle fühlten, wie überaus deprimierend das alles war. Und das nach Möglichkeit ganz ohne Differenzierung. Warum tut man das, obwohl alles lange vorbei ist? Wird etwa befürchtet, es könnte ein kleines Fünkchen von dem, was am Sozialismus neben den bekannten Verwerfungen dennoch ganz gut war, wieder anfangen zu glimmen? Müsste man da etwa vergleichen, Heutiges in Frage stellen, umdenken, auch mal einen Zweifel zulassen? Das geht ja nun gar nicht :D
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Skull »

Selina hat geschrieben:(06 Feb 2018, 11:34)

Nein, das denke ich nicht. Mit so einer Pauschalisierung kann ich nichts anfangen.
So gibt es Teile dieses "Systems", die man entschieden ablehnen sollte oder könnte und andere Teile,
die gar nicht so schlecht waren, ja, mehr noch, die sogar bewahrenswert gewesen wären.
Letzteres ist nur verpönt, das zu sagen.
Realistische Politiker aus West und Ost forderten zur Wendenzeit nicht umsonst,
Bewahrenswertes aus beiden Seiten in die Einheit einfließen zu lassen.
Entschuldigung, ein System besteht aus seinen Teilen. Das eine GEHÖRT zum anderen dazu.
Kaum oder wenig trennbar.
Die wenigsten Teile kann man da einfach isoliert betrachten.

Zu DIESEM SYSTEM gehörten untrennbar Dinge wie
-Mauerbau
-Republikflucht
-Stasi- und Überwachungsstaat
-Wohnungs- und Arbeitsplatz "zuteilung"
-keine Freizügigkeit
-keine individuelle (wirtschaftliche) Betätigung
-keine demokratischen Parteien
-mangelnde Pressefreiheit
-keine einklagbaren Grundrechte
-fehlende Rechtsstaatlichkeit

und und und ... dazu.

Da kann man nicht einfach sagen, die Kitaplätze waren toll und der Rest war "unschön"
und das wäre alles nicht notwendig gewesen. Hätte man ja darauf verzichten können.

VIele (natürlich nicht alle) Dinge in einem (diesen) System gehören untrennbar zusammen.

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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Selina »

Dark Angel hat geschrieben:(06 Feb 2018, 09:55)

Eine Kultur besteht, nicht nur aus Kunst und Literatur! Wann begreifst du das endlich?
Und eine Gesellschaft, soziale Strukturen, Politik, Ideologie etc erst recht nicht und die werden weder durch Kunst und Literatur bestimmt und/oder verändert.
Und Sprache bestimmt auch keine gesellschaftlichen Verhältnisse und analysiert auch nichts. Sprache ist ein Mittel zum Zweck - nicht mehr und nicht weniger!
Mittels Sprache sind wir (Menschen) in der Lage zu kommunizieren, Probleme und deren Lösungsansätze auszudrücken und zu vermitteln.
Literatur beschreibt KEINE Verhältnisse "authentisch" - das ist Unsinn. Dann wäre jeder Roman, jede Lyrik eine Beschreibung die "tatsächliche (authentische) Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse - ist sie aber NICHT. Der Begriff "dichterische Freiheit" scheint dir fremd zu sein.
Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse ist Aufgabe der Politik- und Geschichtswissenschaften und NICHT von Kunst und Literatur.
Na, das ist aber ausgemachter Quatsch. Selbstverständlich vermag Kunst und Literatur, Gültiges über Epochen, Zeitenwenden und Menschen, ja über ganze Gesellschaften, auszusagen. Zerrissenheit, Krisen und Konflikte der literarischen Figuren stehen sinnhaft und metaphorisch für gesellschaftliche Zusammenhänge. Authentizität entsteht in der Literatur nicht durch die Beschreibung originaler Umstände, sondern immer vermittelt und indirekt über Figuren, deren Reflexionen, Verhaltensweisen, Irrtümer etcpp. Da steckt zum Teil mehr Gesellschaftsanalyse drin, als es Politik- und Geschichtswissenschaften jemals vermögen. Der genannte Volker Braun ist exemplarisch dafür. Oder Aitmatow. Und viele andere.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Dark Angel »

Selina hat geschrieben:(06 Feb 2018, 11:49)

Na, das ist aber ausgemachter Quatsch. Selbstverständlich vermag Kunst und Literatur, Gültiges über Epochen, Zeitenwenden und Menschen, ja über ganze Gesellschaften, auszusagen. Zerrissenheit, Krisen und Konflikte der literarischen Figuren stehen sinnhaft und metaphorisch für gesellschaftliche Zusammenhänge. Authentizität entsteht in der Literatur nicht durch die Beschreibung originaler Umstände, sondern immer vermittelt und indirekt über Figuren, deren Reflexionen, Verhaltensweisen, Irrtümer etcpp. Da steckt zum Teil mehr Gesellschaftsanalyse drin, als es Politik- und Geschichtswissenschaften jemals vermögen. Der genannte Volker Braun ist exemplarisch dafür. Oder Aitmatow. Und viele andere.
Ich habe NICHT behauptet, dass Kunst und Literatur nichts über die Zeit bzw die Gesellschaft aussagen, in der sie entstehen.
Darum ging es auch nicht - es ging um "gesamtgesellschaftliche Sichtweise" um "tiefgründige Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse, sozialer Strukturen etc".
In diesem Zusammenhang behauptete Schoko, dass dies Aufgabe von Kunst und Literatur sei, weil nur sie die Verhältnisse authentisch beschreiben könne, dass nur "vollkommene Sprache" dies könne.
DEM habe ich widersprochen.
Kunst und Literatur können gesellschaftliche Verhältnisse beschreiben, sie sind auch Ausdruck der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse - keine Frage, aber sie bestimmen diese Verhältnisse nicht, verändern sie nicht und am allerwenigsen analysieren sie diese Verhältnisse - sie widerspiegeln die Verhältnisse und zwar aus der ganz persönlichen Sicht des Künstlers/Autors. Nicht mehr und nicht weniger!
Kunst und Literatur können Politik- und Geschichtswissenschaften weder ersetzen, noch sind sie in der Lage Zusammenhänge und Hintergründe zu analysieren und Schlussfolgerungen zu ziehen.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Selina »

Hyde hat geschrieben:(06 Feb 2018, 13:13)

Die Userin Selina bedient sich hier der klassischen Eva Herman Argumentation. Mit dieser Argumentation des „es war nicht alles schlecht“ kann man jedes System verteidigen.

„Es wurden aber doch auch Autobahnen gebaut!“
Da du meine Bemerkungen über die DDR nun schon zum zweiten Mal in einen Kontext zu Hitler-Deutschland gebracht hast, zitiere ich mal einen meiner eigenen Beiträge von gestern morgen (05.02./10:51):

"Wobei ich eine Gleichsetzung von Hitler-Deutschland und der DDR für falsch und sogar fatal halte. Damit diffamiert man die Tausenden und Abertausenden von den Nazis ins KZ geschickten und ermordeten Sozialdemokraten, Christen und Kommunisten im Nachhinein noch ein weiteres Mal. Man bagatellisiert den Holocaust mit diesem Vergleich und sämtliche weltweite Kriegsverbrechen der Nazis ebenfalls."
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Selina »

Skull hat geschrieben:(06 Feb 2018, 11:44)

Entschuldigung, ein System besteht aus seinen Teilen. Das eine GEHÖRT zum anderen dazu.
Kaum oder wenig trennbar.
Die wenigsten Teile kann man da einfach isoliert betrachten.

Zu DIESEM SYSTEM gehörten untrennbar Dinge wie
-Mauerbau
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-Wohnungs- und Arbeitsplatz "zuteilung"
-keine Freizügigkeit
-keine individuelle (wirtschaftliche) Betätigung
-keine demokratischen Parteien
-mangelnde Pressefreiheit
-keine einklagbaren Grundrechte
-fehlende Rechtsstaatlichkeit

und und und ... dazu.

Da kann man nicht einfach sagen, die Kitaplätze waren toll und der Rest war "unschön"
und das wäre alles nicht notwendig gewesen. Hätte man ja darauf verzichten können.

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mfg
Antithetisches Denken schließt halt beide Seiten mit ein. Auch im jetzigen Deutschland findet man Gegensätze, sogar antagonistische. Das ist normal. So funktionieren Gesellschaftssysteme nun mal. Hinzu kommt die Wahrnehmung der einzelnen Leute, die differenzierter ist, als hier angenommen wird. Nachts, wenn so gut wie keiner mehr Fernsehen schaut, läuft auch ab und an mal die eine oder andere Doku (warum kommt sowas nicht zur besten Sendezeit?), wo Menschen zu Wort kommen, die sich genauso antithetisch über die DDR äußern. Die vieles sehr gemocht haben an der DDR, zum Beispiel, dass man weniger Magengeschwüre hatte, weil die heute durchaus realen Existenzängste für eine Mehrheit der Menschen einfach nicht vorhanden waren. Die einen lehnten die viel gescholtenen Kollektive für sich ab, die anderen aber bedauerten gerade ihren Wegfall zur Wende. Denn es gingen nicht nur mehrere Millionen Arbeitsplätze verloren, sondern auch der Zusammenhalt, den viele in diesen Kollektiven erlebten. Die Kollegen feierten zusammen, trieben Sport, trafen sich zu so genannten Ökuleis, viele befreundeten sich auch... über den Arbeitsalltag hinaus. Es gab Betriebsärzte, Betriebskindergärten, Betriebskulturgruppen, Betriebsferienlager für die Kinder und Betriebsferienheime für die Familien. Ich hab neulich in so einer Doku gesehen, wie drei ältere Frauen mit Tränen in den Augen (heute noch Tränen!) durch ihre alte verwitterte Werkshalle in der Ruine ihrer damaligen Fabrik liefen. Das waren keine Frauen, die sich die DDR in ihrer Gesamtheit und als "System" zurückwünschten. Nein, sie trauerten einfach um ihr damaliges gemeinsames Arbeitsleben, um genau diesen Zusammenhalt und all das oben Beschriebene. Widersprüchlich das Ganze? Ja, ist es. Ich selbst trauere keinem solchen Kollektiv nach, verstehe aber die drei Frauen und andere Leute, denen es genau wie ihnen geht, sehr gut.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Ammianus »

Skull hat geschrieben:(06 Feb 2018, 11:44)

...

Zu DIESEM SYSTEM gehörten untrennbar Dinge wie
-Mauerbau
-Republikflucht
-Stasi- und Überwachungsstaat
-Wohnungs- und Arbeitsplatz "zuteilung"
-keine Freizügigkeit
-keine individuelle (wirtschaftliche) Betätigung
-keine demokratischen Parteien
-mangelnde Pressefreiheit
-keine einklagbaren Grundrechte
-fehlende Rechtsstaatlichkeit

und und und ... dazu.

...
Hierzu nur 3 kleine Korrekturen:

Man konnte durchaus den Arbeitsplatz, die Arbeitsstätte und auch den Beruf wechseln - so man wollte und sich darum kümmerte. Da waren oft nicht mal allzu große Kämpfe nötig. Manchmal gar keine, denn DDR-Betriebe konkurrierten auch um Arbeitskräfte und freuten sich über jeden der zu ihnen kam.
Mit Wohung war es schon etwas schwerer. Aber wenn man sich nicht zu blöd anstellte, den entsprechenden Nachdruck einsetzte und auch ma die "Behörden" erpresste ging es.
Naürlich konnte man sich auch komplette treiben lassen, mit 29 noch bei Mutti wohnen und das bejammern. Man bekam irgendeine Lehrstelle, lernte den Beruf und blieb dann bis zur Rente im gleichen Betrieb.

Das mit selbstständiger wirtschaftlicher Tätigkeit muss auch differenziert gesehen werden. Die wurde im Laufe der Jahre mehr und mehr reduziert. Honecker brachte dann etwas mehr Bananen, superteure japanische Stereoanlagen und vernichtete die Reste der kleineren und mittleren Unternehmen mit sogenannter halbstaatlicher Beteiligung wie z.B. den Modellbahnhersteller TT-Zeucke. Handwerker steckte man in sogenannte PGH's (Produktionsgenossenschaften des Handwerks), die teilweise dann weiter industrielle produzierten - übrigens z.B. auch eine Stereo-Anlage.
In den 80er hatte sich dann allerdings ein wenig der Gedanke durchgesetzt, dass so ein bisschen Selbstständigkeit auch Vorteile hat - da die Selbstständigen schließlich daran interessiert sind Geld zu verdienen. Das war z.B. auffällig in der Gastronomie. Aber sobald so ein Selbstständiger auf die Idee kam, zu expandieren, stieß er an die Grenzen des Systems - stellte einen Ausreiseantrag und verschwand.
"Ich möchte an einem Ort sein, an dem es keine Politik gibt, keine Waffen, keine Religion."
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Ammianus »

Kurz vor Toresschluss war ich auf der Leipziger Frühjahrsmesse - muss 1989 oder 88 gewesen sein. Ich staunte in wie vielen poppigen Farben z.B. Stereo-Radiorekorder vorhanden waren - aber nur für den Export und das dann zu Dumping-Preisen um wenigstens etwas Devisen zu erwirtschaften - neben dem Menschenhandel.
In den Ferien arbeitete ich als Schüler in einem Betrieb, der auch in den Westen lieferte. Da kam dann auch mal ein ganzer LKW aus Hamburg zurück. Das Zeug war durch die Qualitätskontrolle gefallen. Ich schätze, dass ging dann hier in den Handel.
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Re: Wie sehr darf eine Nation "an sich" denken? Wo beginnt Nationalismus bzw. ab wo wirds eklig?

Beitrag von Dark Angel »

Tom Bombadil hat geschrieben:(06 Feb 2018, 15:15)

"Ziphona türkis" war mein erster Plattenspieler als Kind, im Westen wohlgemerkt, umgelabelt als "Bruns". Scheint ein Exportschlager gewesen zu sein :D
Umgelabelt wurde da einiges. "Veritas"-Nähmaschinen z.B. gab es im Westen unter dem Label "Naumann". Gehörte teilweise zur so genannten Gestattungsproduktion. Auch "Frottana"-Handtücher wurden für den Export umgelabelt.
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