Die Sache mit der Reform ist meines Erachtens immer sehr einseitig gedacht, weil man immer erwartet der Islam als Ganzes müsse in Richtung Protestantismus bzw. zweites Vatikanisches Konzil gehen und auch übersieht man wie heftig es längst in diesen Dingen zur Sache geht. Und zwar überall dort wo Muslime leben. De facto erlebt der Islam derzeit mehrere Reformbewegungen, die die Werte und Lebensumstände ihrer jeweiligen "Träger" (d.h. sowohl die Führer und ihrer Anhänger) wiederspiegeln.
Es gibt zum Einen diverse konservative Reformbewegungen, wie besonders den aus Saudi Arabien kommenden Salafismus. Dieser speist sich übrigens nicht aus dem orthodoxen Islam, wie ich glaube Bleibtreu geschrieben hat, sondern er ist ja gerade ein Bruch mit der Orthodoxie und der Tradition um zur ursprünglichen Form zurück zu kehren. Das erkennt man daran, dass der Salafismus Formen des Islam offen ablehnt, die die Orthodoxie längst akzeptiert hat bzw. die Teil der Orthodoxie sind, wie den Sufismus. Auch die Rechtsschulen werden von den Salafisten abgelehnt. Am liebsten würden die die Rechtsschulen einfach abschaffen.
Dazu es gibt noch andere konservative religiöse Reformbewegungen, wie die Tablighi Jamaat oder die Deobandis ins Pakistan/Indien. Die verschiedenen Muslimbrüder-Ableger oder die türkischen Islamisten würde ich hier nicht sehen, weil sie meines Wissens nach keinerlei religiöse Reform im eigentlichen Sinne gebracht haben. Man könnte hier vielleicht die Neo-Sufi-Strömungen wie die Gülen-Bewegung in der Türkei als eine religiöse Reformbewegung sehen, die in denselben Millieu agiert wie die türkischen Islamisten bzw. "Post-Islamisten".
Zum Anderen gibt es verschiedene liberale und ich sage mal Scharia-Light-Strömungen, welche die Lebenswirklichkeit von eher "pro-westlichen" Bevölkerungsteilen in der islamischen Welt bzw. von nicht allzu konservativen Muslimen im Westen wiederspiegeln. Britisch-Indien bzw. später dann vor allem Pakistan ist hier ein Zentrum von liberalem Reformdenken wie
Sayyid Ahmad Khan, die Türkei natürlich mit ihrer Schule von Ankara, dazu kommt der Iran mit seinen Reformdenkern wie Sorush&Co und eben vereinzelt auch aus Ägypten (
Nasr Hamid Abu Zaid und Syrien wie
Muhammad Shahrur.
Interessant finde ich besonders die Fälle bei denen sich bestimmte religiöse Minderheiten sehr schnell modernisiert haben bzw. durch die religiöse Unruhe aufgrund des Modernisierungsdrucks erst entstanden sind. Letzteres war bei den Baha'i (Iran) und Ahmadiyya (Britisch-Indien) der Fall die beide in der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhundert ihren Anfang nahmen. Ebenfalls sehr schnell modernisiert haben sich die Ismailiten, beginnend mit
Aga Khan III in Britisch-Indien. Bei diesen Bewegungen hat die Existenz eines charismatischen Führers sei er nun Bab, Prophet oder Imam eine schnelle Reform der jeweiligen Gruppe begünstigt.
Man kann also feststellen, dass es im Islam sehr viele Reformbewegungen gibt, die allerdings nicht zwangsläufig liberal sein müssen. Vielmehr spiegeln sie die Lebenswirklichkeit und die Werte ihrer Anhänger und Vertreter wieder, die sich in den letzten 100-200 Jahren durch den Einbruch der westlichen Moderne stark gewandelt haben. Aus diesem Grunde gibt es sowohl liberale Reformer und auch sehr konservative Reformbewegungen. Von diesen ist der Salafismus derzeit sicherlich die erfolgreichste Reformbewegung, welche zwar
ultra-konservativ ist aber ja gerade einen Bruch mit der islamischen Tradition darstellt. Die Salafisten sind deswegen so erfolgreich, weil sie sehr stark gefördert werden, sowohl finanziell als auch durch den Staat Saudi Arabien, der über Stipendien seine Universitäten&Co der Mission zur Verfügung stellt. Eine solche Infrastruktur haben liberale Denker nicht.
Denn die Frage ist immer kommt man in eine Position die eigene Reform auch an den Mann bzw. die Frau zu bringen. Bei kleineren Strömungen noch dazu mit einem charismatischen Führer klappt das ganz gut. Bei den großen Hauptströmungen geht es vor allem darum, wer die jeweiligen staatlichen Bildungsinstitutionen zu kontrollieren.
Weil es gibt weltweit - auch in Deutschland - einen Kampf um die muslimische Seele, d.h. es gibt zumeist einen staatlichen Bildungssektor, d.h. Schulen und Universitäten an denen der vom Staat genehmigte Islam gepredigt wird. Hier gibt es dann ein heftiges Gerangel wer Chef sein darf. Wenn beispielsweise die Salafisten versuchen in der al Azhar in Kairo Einfluss zu nehmen, die aber de facto den ägyptischen Staatsislam produziert. Oder auch in Deutschland haben wir genau das gleiche Thema mit den neuen theologischen Fakultäten in Münster und anderswo. Weil der Sinn dieser theologischen Institute ist einerseits Religionslehrer auszubilden, um mit einem Islam-Unterricht in den Schulen den nicht-staatlichen Moscheen das Bildungsmonopol in Sachen Islam zu entreißen und andererseits wird natürlich erwartet, dass die dabei führenden Persönlichkeiten liberale Positionen hin zu einem Euro-Islam entwerfen. Und wir haben ja bereits im Zusammenhang mit Khorchide festgestellt, dass die etwas konservativen Islamverbände doch lieber jemanden hätten der den eigenen Ansichten entspricht. Es sind nichts anderes als die Anfänge eines deutschen Staatsislam, auch wenn es wie gesagt in den letzten Jahren erst losgegangen ist und mit Sven Kalisch hatte man am Anfang direkt mal kräftig daneben gelangt.
Denn neben den staatlichen Institutionen gibt es dann je nachdem auch private Netzwerke an Schulen und Moscheen, in denen dann eben je nachdem ein eigener Islam gepredigt wird. Wie die Salafisten mit ihren Moscheen weltweit und den Universitäten in Saudi Arabien, vor allem der
Islamischen Universität von Medina - der Kaderschmiede des weltweiten Salafismus.
Auch ist es kein Zufall, dass nach dem verheerenden Anschlägen in Tunesien die dortige Regierung als erstes Mal 80 Moscheen geschlossen hat. Einfach weil die Kontrolle des Bildungssektors zentral ist.
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Ein weiteres Beispiel welch zentrale Bedeutung der Bildung der Muslime für die weitere Entwicklung des Islam zukommt ist die nigerianische Terrorgruppe
Boko Haram. Deren Name wird gerne als Bücher oder Bildung ist Sünde übersetzt, Boko heißt allerdings eher westliche Bildung, d.h. die Kinder sollen nicht nicht zur Schule gehen, sondern sie sollen in die richtige Schule gehen.
Es ist also absurd zu sagen, dass der Islam nun endlich reformiert gehört. Denn es gibt gleich eine ganze Reihe von konservativen und liberalen Reformströmungen, die überall mit den traditionellen Ausprägungen um die Deutungshoheit ringen bezüglich der Frage was der Islam ist. Dabei spiegeln die Lehren der Reformbewegungen sehr stark die Lebensbedinungen ihrer Träger wieder. Bei Muslimen im Westen und bei stark pro-westlichen und säkularisierten Menschen gibt es eine verhältnismäßig hohe Bereitschaft sich einer liberalen Islamverständnis zuzuwenden, weil das einfach ihrer Lebenswirklichekt entspricht. Gleichzeitig gibt es aber natürlich im Westen und der islamischen Welt auch sehr konservative Menschen und diese fühlen sich eher zu konservativen Islamauslegungen hingezogen, es muss ja nicht immer gleich der Salafismus sein.
Über Erfolg und Misserfolg einer Bewegung entscheidet aber nicht nur die historisch gewachsenen Präferenzen der verschiedenen Bevölkerungsschichten sondern auch die Fähigkeit zu bestimmen, welcher Islam den zukünftigen Generationen beigebracht wird. Das heißt die Kontrolle von staatlichen und nicht-staatlichem Islam-Unterricht in Deutschland und überall auf der Welt. Denn hier wird über Richtung und Erfolg der Reform des Islam entschieden. (deswegen ist es ja auch so ein Schwachsinn als Islamkritiker gegen Islam-Unterricht an deutschen Schulen zu sein, aber das ist ein anderes Thema)
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