Der vorgetäuschte Orgasmus
Eine jahrhundertewährende Reglementierung und Unterdrückung der Sexualität hat sich in unserer Zeit der sexuellen Aufklärung geradezu ins Gegenteil entwickelt. Der Orgasmus wird häufig als höchstes Ziel des sexuellen Aktes betrachtet, das es unter allen Umständen zu erreichen gilt. Männer und Frauen fühlen sich daher häufig zum Orgasmus verpflichtet. Diese oft unbewusste und leistungsorientierte Haltung ist dem Erleben eines Orgasmus abträglich – es stört die natürliche Neugier, Kreativität und Freude, die das Wesen des Spiels ausmachen, das das Liebesspiel eigentlich ist. Die Angst vor dem „Versagen“ wird geschürt und genutzt durch die Vermarktung der Sexualität, etwa durch Ratgeber und Hilfsmittel, die sexuelle „Leistungsfähigkeit“ und Orgasmen der Superlative versprechen. Deshalb fühlen sich Frauen und Männer, die seltener oder bisher noch nie einen Orgasmus erlebten, oft sexuell minderwertig und haben Angst davor, dahingehend „entlarvt“ zu werden.
Als Reaktion auf diesen Leistungsdruck haben viele Menschen beim Geschlechtsakt schon einmal oder mehrfach einen Orgasmus simuliert, manche tun es regelmäßig. Die einen spielen ihrem Partner aus Angst, möglicherweise als unvollkommen gelten zu können, einen Orgasmus vor, andere wollen das Selbstbewusstsein des Partners stärken und wiederum ihn nicht als „Versager“ dastehen lassen. Manche fühlen sich durch die leistungsbetonten Bemühungen des Partners unter Druck gesetzt und wollen mit der Täuschung eine Entspannung der anstrengenden Interaktion herbeiführen. Die Gründe sind mannigfaltig und können bis zur Furcht vor dem Verlassenwerden durch den möglicherweise enttäuschten Partner reichen. Der vorgetäuschte Orgasmus, auch „vorgespielter Orgasmus“ oder „Orgasmuslüge“ genannt, gehört deshalb in den Bereich der Notlüge.
Auch so genannte Stricher und Callboys, die sich auf homosexuellen Kontakt spezialisiert haben, täuschen ihren Kunden zuweilen einen Orgasmus vor. Bei weiblichen Prostituierten gehört das mehr oder weniger theatralische Vortäuschen eines Orgasmus zum Standardrepertoire.
Nach einer Emnid-Umfrage im Auftrag der Frauenzeitschrift Marie Claire haben 20 Prozent der deutschen Frauen und 41 Prozent der deutschen Männer ihrem Partner noch nie einen Orgasmus vorgetäuscht. 54 Prozent der Interviewten fanden, dass Sex auch ohne Orgasmus befriedigend sein könne, jede zweite befragte Person meinte, dass der Orgasmus generell viel zu wichtig genommen werde. Für 28 Prozent der Frauen und 42 Prozent der Männer sei er das Schönste am Sex. In manchen Studien wird davon ausgegangen, dass unter Einberechnung der Dunkelziffer über 90 % aller Frauen einmal oder mehrmals einen Orgasmus vorgetäuscht haben.
Die Gründe der männlichen Orgasmuslüge sind oft ähnlich den weiblichen, weichen aber manchmal etwas ab. So wollen manche Männer nicht zeigen, wenn plötzlich der Wunsch nach Entspannung größer wird als der sexuelle Trieb. Durch das Orgasmus-Vortäuschen wird hier der Druck einer vermeintlichen Rechtfertigung gegenüber der Partnerin verhindert. Häufiger als bei Frauen ist für Männer die Befürchtung der Motor, der Partnerin nicht ausreichend das Gefühl geben zu können, dass sie begehrenswert ist, wenn der eigene Orgasmus ausbleibt.
Frauen hingegen täuschen manchmal einen Orgasmus vor, wenn sie den Partner zur Ejakulation animieren wollen – entweder um einen als anstrengend empfundenen Geschlechtsakt auf subtile Weise zum Abschluss zu bringen oder aber um durch die kurzfristige Zunahme der Reizung auch selbst in den Genuss eines echten Orgasmus zu kommen. Ein gelegentliches Vorspielen des Höhepunkts kann für ein Paar also in manchen Fällen bereichernd sein. Simuliert die Frau den Höhepunkt hingegen regelmäßig und erlebt nie einen echten Orgasmus, kann das zu einem großen Problem werden: Die Frau bringt ihre Bedürfnisse nicht zum Ausdruck und befindet sich in einem Teufelskreis.
Für den Partner ist es sehr schwierig, einen unechten Orgasmus zu erkennen, trotz einiger Hinweise auf einen echten Orgasmus, welche für die Frau schwierig zu kopieren sind: Muskelzuckungen im Vaginalbereich, harte Brustwarzen und manche Frauen bekommen während des Höhepunkts eine rötliche Farbe im Gesicht. Je besser sich ein Liebespaar kennt, desto schwieriger wird es für die Frau, einen vorgetäuschten Orgasmus unentdeckt zu lassen, sofern sie zwischendurch echte Orgasmen mit ihrem Partner erlebt hat und den Orgasmus nicht jedes Mal vortäuschte.
Die Tatsache, dass manche Männer kategorisch davon ausgehen, ihnen könne niemals eine Frau einen Orgasmus vortäuschen, wurde mitunter in Filmen thematisiert. In Rob Reiners Film „Harry und Sally“ demonstriert Sally (Meg Ryan) in einem Restaurant ihrem Freund Harry (Billy Crystal) das glaubhafte Vorspielen eines Orgasmus.
und weiter:
Heute sind die Frauen schon ein bisschen weiter: viele bekommen immer noch keine Orgasmen, aber sie lügen auch außerhalb der Betten. Ich gehe darum davon aus, dass viele Frauen regelmäßig Orgasmen vortäuschen. (Natürlich keine der hier schreibenden User und auch nicht die Frauen der hier schreibenden User, sondern unbekannte, wahrscheinlich verwirrte eigenartige Wesen.) Aber neben der Tatsache, dass sie hier nicht schreiben, so scheint gewiss, dass dies eher ein Problem der Frauen ist, mit welchem Ziel und welcher Begründung auch immer, so scheinen lt. wikipedia eher die Frauen bereit, auf echte sexuelle Befriedigung zu Gunsten der Befriedung des Partners zu verzichten: Ist das antrainierte weibliche Aufopferungsbereitschaft oder eher Unwissenheit?Rollenklischees
Die Enttäuschung, beim Sex mit dem Partner keinen Orgasmus zu erreichen, scheint laut Umfragen bei Frauen geringer zu sein als bei Männern – das legt die Vermutung nahe, dass Frauen stärker als Männer zwischen Orgasmus und sexueller Befriedigung unterscheiden. Zahlreiche Umfragen und Untersuchungen bestätigen, dass viele Frauen die häufigsten und intensivsten Orgasmen bei der Masturbation erleben, aber trotzdem angeben, mit dem Sexualleben in ihrer Partnerschaft zufrieden zu sein. Hierbei stützen sich die zugrunde liegenden Untersuchungen vorrangig auf die Aussagen von Heterosexuellen.
Möglicherweise sind die Gründe für die als selbstverständlich hingenommene Orgasmuslosigkeit der Frau in der veralteten Rollenverteilung der Geschlechter und in tradierten sexuellen Vorstellungen zu finden, die sich u. a. im Ausdruck Eheliche Pflicht widerspiegeln, der lange gebräuchlich war und sogar als Begründung für die ungleiche juristische Bewertung ehelicher und außerehelicher Vergewaltigungen diente. Lange sollten Frauen keinen Spaß an der körperlichen Liebe haben, stattdessen wurde von ihnen Fügsamkeit erwartet, was unterbewusst bis heute nachwirkt (vergl. Abschnitt weiter unten). Umfragen bei homosexuellen Frauen haben ergeben, dass sie häufiger Orgasmen erleben, und dass der Orgasmus selbstverständlicher zum Liebesspiel gehört, als bei Frauen mit heterosexuellen Partnern. Diese Ergebnisse unterstützen die These der fortbestehenden unbewussten Rollenkonformität.
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wurde das Recht der Frau auf ihre eigene Sexualität von feministischen Bewegungen immer stärker vertreten und eingefordert. In den 1950er Jahren erfasste und erforschte der weltberühmte Zoologe und Sexualforscher Kinsey in seinem Buch Das geheime Leben der Frauen das Thema und machte es zum Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung. Bis dahin war der weibliche Orgasmus ein Mythos, wenn nicht sogar ein Tabu. In den 1970er und 1980er Jahren machte die Sexualforscherin und Feministin Shere Hite mit den Hite-Reports Furore, in denen sie weibliche und männliche Stereotypen im sexuellen Rollenverhalten entlarvte. Mit ihren Veröffentlichungen gelang es ihr insbesondere, ein größeres allgemeines Interesse für die Sexualität der Frau und den weiblichen Orgasmus zu wecken, und somit einen Beitrag zu größerem gesellschaftlichen Respekt vor der Frau zu leisten.
In vielen Kulturen wurde - und wird zum Teil noch heute - der weibliche Körper aufgrund seiner besonderen Funktionen als unheimlich betrachtet bis hin zu der Ansicht, er sei von Grunde auf pathogen, schwach oder minderwertig (vergl. Artikel Wahnsinn - körperliche Ursachen und Artikel Hysterie). Diese Betrachtungsweisen wurden etwa in vergangenen Zeiten der heutigen westlichen Industrienationen vertreten (vergl. Kapitel Geschichtliche Entwicklung - Mittelalter bis Neuzeit). Sie hatten mitunter grausame Konsequenzen: Teilweise wurde „hysterischen“ Frauen die Gebärmutter entfernt; bei manchen angeblich von Hysterie oder Masturbation betroffenen Frauen wurde eine operative Verstümmelung der Genitalien vorgenommen (vergl. Beschneidung weiblicher Genitalien - Klitorisamputation und Masturbation). Diese Tatsache und besonders, dass die Genitalverstümmelung als „medizinische Praxis“ in einigen Fällen auch im deutschsprachigen Raum Anwendung fand, ist allgemein wenig bekannt und wenig publiziert. M. Hulverscheidt (siehe Literaturliste) wies für den Zeitraum von ca. 1815 bis 1915 etwa 100 Fälle in medizinischen Publikationen nach, die tatsächliche Anzahl Betroffener könnte höher liegen.
Fernab unserer Breiten sind uns die Konsequenzen geläufiger, zu denen manche Betrachtungsweisen der weiblichen Körperfunktionen - insbesondere des weiblichen Orgasmus - und die damit verbundene Bewertung der Frau führen können:
Besonders in einigen Ländern Afrikas wird die sexuelle Lust der Frau, da sie einen Teil zur weiblichen Autonomie beiträgt, als eine Bedrohung für die in den betreffenden Kulturen patriarchisch strukturierte Gemeinschaft angesehen. Um die Frau dieses zentralen Bereichs der Selbstbestimmung zu berauben, wurde und werden dort vielerorts bereits junge Mädchen etwaiger sexueller Intentionen beraubt, indem systematisch ihre Genitalien verstümmelt werden. Weltweit kämpfen Menschenrechtsorganisationen gegen dieses Verbrechen (vergl. Artikel Beschneidung weiblicher Genitalien).