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Spätestens seit dem Schulmassaker am Gutenberg-Gymnasium von Erfurt im Jahr 2002 ist das Profil des "typischen" Schoolshooters weitgehend bekannt: Er ist männlich, 15 bis 18 Jahre alt und stammt in der Regel aus sogenannten "auffällig unauffälligen Familien" mit mittlerem bis hohem Bildungsniveau.
Wissenschaftler in ganz Deutschland entwickeln seit Jahren Strategien, um potentielle Amokläufer rechtzeitig zu stoppen. "Die Konzepte sind da, wir können sofort loslegen", sagt Professor Herbert Scheithauer von der Freien Universität Berlin SPIEGEL ONLINE. Der Psychologe hat im Rahmen seines Berliner Leaking-Projekts Parameter entworfen, anhand derer man ermitteln kann, wie weit ein potentieller Täter noch vom tatsächlichen Amoklauf entfernt ist.
Finanzierung von Präventionsprojekten liegt auf Eis
Allerdings scheitere die großflächige Umsetzung der Projekte immer häufiger am fehlenden Geld. "Derzeit verfügen wir noch nicht einmal über verlässliches Zahlenmaterial, weil die Finanzierung unseres Projekts auf Eis liegt", empört sich Scheitauer.
Auch ein von der "Aktion Mensch" finanziertes Präventionsprojekt des Roten Kreuzes in Baden-Württemberg läuft nur noch bis ins nächste Jahr und wird nach jetzigem Stand nicht verlängert werden. Die Leiterin des Projektes, die Kehler Sozialpädagogin Silke Sauer, hatte erst am vergangenen Montagabend im Roten Rathaus in Berlin einen mit 1500 Euro dotierten Preis für ihr Engagement gegen Jugendgewalt entgegennehmen dürfen. Doch Freude und Stolz waren schnell verflogen. Sauer zeigte sich im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE entsetzt über den Vorfall in Winnenden: "Ein Amoklauf bei uns in Baden-Württemberg? Oh, mein Gott", sagte sie SPIEGEL ONLINE.
Seit zwei Jahren schult die 31-Jährige gemeinsam mit einer Kollegin und in Kooperation mit der Polizei Schüler aus der Region Kehl für den Ernstfall eines Amoklaufs. 3500 Jugendliche habe sie dadurch bereits erreicht. Was sind Anzeichen einer drohenden Gewalttat? Wie kann man diese verhindern? Darum geht es in den Doppelstunden. "Es ist wichtig, Lehrer und Schüler für das Thema zu sensibilisieren", so Sauer.
Dazu werde mit den Jugendlichen auch der Abschiedsbrief eines Amokläufers durchgearbeitet. Die Schüler reagierten durchweg "mit starker Betroffenheit" und nähmen die Unterrichtseinheiten "sehr ernst". Es sei zur Verhinderung dieser Bluttaten entscheidend, "genau hinzuschauen, ob ein Einzelner sich isoliert, ob er depressiv oder aggressiv wirkt und eine besondere Affinität zu Waffen zeigt".
Shooter-Schmiede Schule: Selektion, Konkurrenz, Kränkung
Der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zufolge sind in Baden-Württemberg vor zwei Jahren schulinterne Krisenteams gebildet worden, die sich unter anderem mit der Verhinderung von Amokläufen beschäftigen sollen. Auf Grundlage einer Verwaltungsvorschrift hätten die Schulen seither auch Krisen- und Rettungspläne zu erstellen. Ähnliche Maßnahmen gebe es auch in anderen Bundesländern, hieß es.
Das sind Maßnahmen, die das Problem nicht im Kern angehen, findet Hans Peter Waldrich, Landesvorsitzender der Aktion Humane Schule in Baden-Württemberg. "Unsere Schulen setzen noch immer auf Selektion und Konkurrenz - und das verstärkt die immensen Defizite, die solche Täter ohnehin schon haben. Sie fühlen sich gekränkt und ausgegrenzt", erklärt Waldrich. Nur eine Reformierung des Schulsystems könne das ändern.
Interessant ist, daß Amokläufer oft aus gutbürgerlichen Familien, nicht aus Arbeiterfamilien kommen. Dabei ist doch anzunehmen, daß Arbeiterkinder mehr Probleme haben. Wie erklärt sich das?
Auf dem Weg zum Abgrund kann eine Panne lebensrettend sein. Walter Jens
Besser schweigen und als Narr zu scheinen, als sprechen und jeden Zweifel zu beseitigen. Abraham Lincoln