Wurde er verklärt zu etwas, was er nie war, oder gar gänzlich erfunden?
Ich weiß net inwiefern dies allen ein Begriff ist, aber das hat man damals oftmals benutzt um Gewaltexzesse in den Kolonien herunterzuwerten. Dieses Konstrukt einer angeblichen geistigen Erkrankung wurde damals inflationär durch Medien aber auch Verwaltung und Wissenschaft gestreut, um eigene Verfehlungen zu rechtfertigen. Hierbei stellt sich jedoch die Frage:
Massenpsychologie vs. geistige Störung der jeweils Einzelnen?
Hierzu zur Veranschaulichung der relativ berühmte Fall vom Arenberg, welcher in DSWA (Namibia) Stationsoffizier in Epukiro war. Angemerkt sei vielleicht noch, dass er zuvor als Leutnant in Deutschland einen Untergebenen misshandelt hatte (weshalb er auch vorbestraft war) und deshalb nach DSW geschickt wurde, damit zuhause Gras über die Sache wachsen konnte.
(Vgl dazu: Kneubühler, Yvonne, Motivation und das Verhalten deutscher >Men on the spot< in den afrikanischen Kolonien, in: Schaller, Dominik u.a. (Hg), Enteignet – vertrieben - ermordet. Beiträge zur Genozidforschung, Zürich 2004, S. 129-146, hier: S. 131.)
Im September 1899 meldete Arenberg, er habe den Einheimischen Willi Cain unter Verdacht Schmuggel zu betreiben, konkret ging es um das Schmuggeln von Vieh über die Grenze. Am 24. September 1899 wurde Cain daher von ihm verhaftet. In einem Bericht der Kolonialabteilung an den Reichskanzler heißt es dazu wie folgt:
"Cain bestritt die erwähnte Absicht, Arenberg ließ ihn fesseln und mißhandelte [sic!] ihn wegen seines Leugnens mit Faustschlägen ins Gesicht. Später losgebunden, wurde Cain von Arenberg mit Erschießen bedroht, wenn er einen um ihn gezogenen Kreidekreis überschreite; am Nachmittag ritt Arenberg mit den Gefangenen nach Stampriet. Die Werftleute des Cain wurden entwaffnet, der Vater Cains und 2 andere Leute Cains festgenommen. Nachdem Arenberg abends mit Cain Schnaps getrunken und Jagdgeschichten erzählt, legte er sich schlafen; neben ihm lag Cain. Um 4 Uhr früh ging Arenberg mit dem Gefreiten Wieberger und Cain 150 Schritt vom Lager abseits, sprach mit Cain englisch und erklärte Wieberger, Cain habe alles gestanden. Prinz Arenberg will nun, um Cain die ihm angebliche drohende längere Gefängnisstrafe zu ersparen diesem gestattet haben zu fliehen, er werde aber auf ihn feuern lassen. Tatsächlich lief Cain fort und auf Befehl Arenbergs schoß [sic!] ihn Wieberger in den rechten Oberschenkel. Cain bricht zusammen, murmelt noch einige Worte, Arenberg schießt ihn mit dem Revolver in den Hinterkopf. Prinz Arenberg und Wieberger gehen ins Lager, kehren mit Reiter Baumann nach 5 Minuten zurück. Cain hat sich unter einen Busch geschleppt, Arenberg zieht ihn vor, Cain fragt noch, warum er geschossen werde. Arenberg sagte zu Wieberger: 'Ich kann nicht mehr anders, er muß [sic!] totgehen.' Wieberger erhält von Arenberg Befehl, Seitengewehr aufzupflanzen und Cain totzustechen. Arenberg packt Cain an der Schulter und zeigt Wieberger die Herzgegend; dieser sticht zu, Cain sinkt um, erhält noch zwei Stiche von Wieberger und als er noch zuckt, führt Arenberg einen Ladestock durch den Schußkanal [sic!] und bohrt im Gehirn umher. Arenberg befiehlt später noch Unteroffizier Stoll und Wieberger, die anderen Gefangenen unschädlich zu machen; der Befehl wird aber nicht ausgeführt".
(Vgl dazu: BAB, R43/941, Bl 169: Aufzeichnungen der KA für den Reichskanzler, [ohne Tag].08.1905.)
Für mehr zum Fall Arenberg siehe zB:
TR [Tägliche Rundschau], 28.12.1899.
Oder auch SekLit, zB:
Besser, Stephan, Tropenkoller. 5. März 1904: Freispruch für Prinz Prosper von Arenberg, in: Honold, Alexander u.a. (Hg), Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des fremden in der Kolonialzeit, Stuttgart 2004, S. 300-309
Dieser Fall schlug hohe Wellen in der Metropole, die deutsche Öffentlichkeit empörte sich. Arenberg wurde daraufhin noch in Windhoek durch ein Kriegsgericht zu 10 Monaten Haft verurteilt, was jedoch 1900 nach einer erneuten Verhandlung in Deutschland in eine Todesstrafe umgewandelt wurde. Der Kaiser selbst aber wandelte die Strafe schließlich in 15 Jahre Haft um, wovon Arenberg jedoch nur 50 Monate absitzen musste . Denn nachdem der Krieg in DSW ausgebrochen war im Januar 1904, wurde ja massiv Lügengeschichten bezüglich angeblicher Gräueltaten der Einheimischen popularisiert und von der dt. Öffentlichkeit geschluckt. Diese Stimmung nutze man dann für einen Revisionsprozess, bei welchem Arenberg wegen angeblich heilbarer (!!!!omg…) Geisteskrankheit freigesprochen wurde auf Grundlage von 8 (!) Gutachten medizinischer Sachverständiger und eines des Wissenschaftlichen Senats der Kaiser-Wilhelm-Akademie . Denn so war er im Sinne von §51 zum Tatzeitpunkt geisteskrank gewesen.
Und als konkrete Begründung präsentierte man eiskalt der dt. Öffentlichkeit das ewige Lied vom (Eingangs erwähnten) sog. "Tropenkoller". Demnach würden Europäer im tropischen Klima durchdrehen und deshalb oftmals zu solchen Exzessen neigen gegen Einheimische. Das Groteske daran war, dass die dt. Öffentlichkeit auch das schluckte, und schon bald galt der Tropenkoller als wissenschaftlich gesichert, OBWOHL der Begriff erst kurz zuvor in einem KolonialROMAN (!) geboren worden war.
(Vgl dazu: Bülow, Frieda, Tropenkoller: Episode aus dem deutschen Kolonialleben, Berlin 1897.)
Der Tropenarzt Friedrich Hey schrieb dazu:
"Der Kranke […] ist dem Pulver gleich, dem das Feuer fehlt um zur Explosion zu kommen. Seine Nerven sind in Überreizung begriffen und die geringste hinzutretende Veranlassung bringt ihn ausser [sic!] sich"
(Vgl dazu: Hey, Friedrich, Der Tropenarzt: Ausführlicher Ratgeber für Europäer in den Tropen, sowie für Besitzer von Plantagen und Handelshäusern, Kolonial-Behörden und Missions-Verwaltungen, Offenbach 1906, S. 350.)
Jedoch sogar Hey ging davon aus, dass der Tropenkoller ein Anfangstadium einer Geisteskrankheit war, die jedoch durch Tropeneinflüsse nur beschleunigt, net aber erst gestiftet werden würde; der Tropenkoller würde nur die Leute erfassen, die schon zuhause schwache Nerven hatten.
(Vgl dazu: Ebd., S. 348.)
Andere Tropenärzte hatten zuvor den Tropenkoller aber auch direkt entlarvt als bloße Erfindung zur Legitimierung eigener Unmenschlichkeit, zB Mense:
"Ich habe eine Krankheit, welche in den Tagesblättern bei allen Mordgeschichten aus den Kolonien eine große Rolle spielt, den Tropenkoller, nie und nirgends vorgefunden. Es gibt keinen Zustand, der die Aufstellung eines solchen Krankheitsbegriffes rechtfertige. Der Tropenkoller ins von Laien, von Nichtmedizinern, eigens erfunden worden, um je nach der Parteien Haß [sic!] oder Gunst als belastendes oder entlastendes Moment verwertet zu werden. Menschen mit lebhaftem Temperament gibt es ja unter den in fernen Kolonialländern weilenden Europäern verhältnismäßig viele, denn der ruhige Durchschnittsmensch bleibt lieber im behaglichen Heimatlande. Für schwache Charaktere ist drüben unter Palmen die Gelegenheit, aus dem moralischen Gleichgewicht zu geraten, größer als in Europa, wo das Auge des Gesetzes und der Gesellschaft wacht und die gute Sitte dem Lebenswandel enge Schranken zieht. Dieselben Menschen aber, welche dem sog. Tropenkoller verfallen, werden überall, selbst am Nordpol, zu Ausschreitungen geneigt sein, sobald die aus tausend Rücksichten gewebte Zwangsjacke der Kultur gelockert wird"
(Vgl dazu: Mense, Carl, Tropische Gesundheitslehre und Heilkunde, Berlin 1902, S. 22f.).
Trotzdem wurde es geschluckt von der Öffentlichkeit, warum allzu gerne, ist klar, aber das wäre hier zu sehr off topic. Und wir dürfen net vergessen, dass Arenbergs Fall ein Riesending war damals, man war empört, Arenberg der Arsch der Nation – doch auch dies konnte mit Hilfe des Konstrukts Tropenkoller offenbar überdeckt bzw. überwunden werden.
Mir geht’s wie gesagt um das Verhältnis von Massenpsychologie vs. geistige Störung des Einzelnen. Oder anders:
Wurde der Tropenkoller von der Öffentlichkeit geschluckt, weil er den Meisten plausibel erschien
oder
wurde er von der Öffentlichkeit geschluckt, weil er einen amtlichen Anstrich erhielt über Politik, angeblicher Wissenschaft und v.a. Medien (was von Zeitungen bis Romanen geht)?
MfG
Der Koloniale
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Tropenkoller
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