150 Jahre SPD

Moderator: Moderatoren Forum 7

Antworten
Benutzeravatar
NMA
Beiträge: 11662
Registriert: Montag 24. Mai 2010, 15:40
user title: Mutbürger
Wohnort: Franken

150 Jahre SPD

Beitrag von NMA »

Keine deutsche Partei verkörpert die deutsche Geschichte so umfassend wie die SPD. Die Partei oder ihre Idee ist so alt wie der Prozess der Staatswerdung Deutschlands oder älter. Da die SPD 150 Jahre alt wird, wird in gewisser Weise auch Deutschland 150 Jahre alt.

Die SPD wird immer mit der "Arbeiterbewegung" in Verbindung gebracht, wobei man sich den ausgebeuteten, unmündigen Industriearbeiter vorstellt. Aus Sicht der Sozialhistoriker sollte man die Idee aber noch weiter zurückverfolgen. Die Wurzeln liegen bereits bei diversen Handwerksgilden und reichen bis in die 1820er und 1830er Jahre zurück.

Die weitere Zurückverfolgung auf Fachleute und Handwerker finde ich insofern sinnvoll, als der gemeine Industriearbeiter zwar die nötige Masse für eine erfolgreiche Bewegung liefern konnte, aber zur Gründung einer solchen braucht es ja dann doch eher „Eliten“, also Leute mit einem Mindestmaß an Bildung, Organisationsfähigkeit und Selbstbewusstsein sowie öffentlichkeitswirksames Mitteilungsbedürfnis.

Der Ursprung findet sich in der Unzufriedenheit unter Fachleuten und Handwerksgesellen (man kann sich die durchaus so vorstellen wie die Zimmerleute, die man heute noch in ihrer Tracht trampen sieht) seit dem frühen 19. Jahrhundert und deren Neigung, sich auf ihren Touren als Wanderarbeiter immer wieder in diversen Gasthöfen zusammenzufinden. Außerdem verdichtete sich in dieser Zeit der Austausch unter den Mitgliedern von Handwerksgilden (vielleicht Müller, Drechsler, Sattler, …). Jetzt braucht man nur noch die Vorgeschichte zum Hambacher Fest hinzudenken und schon befindet man sich im gemeinten ideologischen, wenn auch sehr bunten Dunstkreis.

Diese Unzufriedenheit der Gesellen ist durchaus sogar eine Folge der industriellen Entwicklung: Sie besaßen einen Ehrenkodex und hatten immer ihren beruflichen Aufstieg zum Meister im Blick. Nun war aber die Neuorientierung der Wirtschaft industrielle Produktionsweisen zunehmend gefragt und das Einzelstückhandwerk mit hohem Qualitätsanspruch verlor tendenziell an Wertschätzung. Die Fabriken entwerten viele alte Berufe und nahmen den Gesellen Aufstiegschancen. Hieraus ergaben sich Enttäuschung, Protestwille und Gedankenspiele mit frühsozialistischen und radikaldemokratischen Theorien. Vielleicht wusste noch keiner so recht, was das heißen soll, aber es verhieß zumindest Veränderung und damit einerseits Abwehr oder Kurskorrektur, man erhoffte sich einen Befreiungsschlag. So gesehen kann man den Motiven der Vordenker sogar einen konservativen Anstrich geben.

Andererseits baut sich Protestpotenzial immer aus der Unzufriedenheit mit Lebensumständen auf. Damit kam natürlich die neue Schicht der Industriearbeiter in den Blick.

Vielleicht kann man den Tenor einiger sozialistischer/sozialdemokratischer Vordenker ja so beschreiben: „Wir sind mit unserer Entwertung unzufrieden, und euch beutet man aus!“ Angriff ist die beste Verteidigung und das Motiv wies in die Zukunft!
Eine „Verbrüderung“ von Gesellen und Industriearbeitern ergab sich wohl auch daraus, dass man im Falle von Krankheit, Invalidität, im Alter oder angesichts immer häufigeren wirtschaftlichen, konjunkturellen Umbrüchen den gleichen Widrigkeiten ausgesetzt war.

Und jetzt kann man Ferdinand Lassalle (Gründer des ADAV. Dieser Verein ist Anlass der heutigen Feierlichkeiten) ins Spiel bringen. Er wird von den Sozialdemokraten gefeiert, aber Idealist war er nicht wirklich. Er stammte aus der jüdischen Avantgarde. Ein Anwalt und intellektueller Lebemann mit einem Stolz, der ihn sogar in Duelle führte.
Das passt erst einmal nicht wirklich zu einer Arbeiterbewegung. Aber er hatte politisches Talent, sah sich als Außenseiter und litt an der Stigmatisierung als Jude. Er beteiligte sich an der Märzrevolution und legte sich in unterschiedlichster Weise mit dem vorherrschenden System an.

Soziale Belange waren nicht sein erster Beweggrund für sein politisches Engagement, eher schon Ehrgeiz und Anerkennungsbedürfnis. Aber er war Visionär und sah in der Zuwendung zur Arbeiterklasse eben seine Chance. Solche Agitatoren spiegelten aber durchaus den Zeitgeist wider, nämlich dem Versuch des Ausbruchs verschiedener Eliten aus dem bestehenden System mithilfe allerhand Sozial- und Demokratieutopien.

Der Autor Franz Walter fasst das in seinem Buch „Die SPD – Biographie einer Partei“, welches ich zum Thema empfehlen möchte, so zusammen:
Das Zusammenspiel von gesellschaftlich eher randständigen, politisch aber ehrgeizigen Intellektuellen und bildungsbeflissenen Handwerksgesellen war charakteristisch für die frühe Sozialdemokratie.

Sozialdemokratie bedeutete von Anfang Progressivität – oder eben den Versuch. Und der Industriearbeiter sollte angesprochen werden.

Soviel in meinem ersten Beitrag zum Thema. Ich schreibe heute bzw. alsbald möglich noch weiter (Marx, Kaiserreich, Kriegskredite, Widerstand gegen Ermächtigungsgesetz, etc.).Aber für den Anfang eben nur der Hinweis, dass die Idee der Sozialdemokratie ihren Ursprung eben nicht in der Arbeiterbewegung hat, sondern älter ist und vor allem vielschichtiger. Der Industriearbeiter hatte weder Mittel noch den nötigen Horizont zur Organisation. Es ging nicht allein um die soziale Frage, sondern auch um gekränkte Ehre und Visionen sowie um den für politischen Ehrgeiz üblichen Anteil an Opportunismus.
Zuletzt geändert von NMA am Donnerstag 23. Mai 2013, 13:42, insgesamt 3-mal geändert.
Pulse of Europe
https://pulseofeurope.eu/de/
https://voltdeutschland.org/programm

Weniger Klimaschutz wird teurer als mehr Klimaschutz!
Benutzeravatar
NMA
Beiträge: 11662
Registriert: Montag 24. Mai 2010, 15:40
user title: Mutbürger
Wohnort: Franken

Re: 150 Jahre SPD

Beitrag von NMA »

Die SPD feiert sich heute wegen der Gründung des ADAV im Jahr 1863, in Berufung auf Ferdinand Lassalle. Der Mann, der sich opportunistisch, aber sehr erfolgreich und wirksam in die frühe Entwicklung der Sozialdemokratie eingebracht hatte.

Aber ein weiteres häufig genanntes Gründungsdatum der SPD ist bekanntlich 1875 – genauer das Gründungsjahr der SAP durch Vereinigung von ADAV und SDAP (mit den linksrevolutionären Liebknecht und dem vielleicht etwas klüger differenzierenden Bebel). Die SAP benannte sich schließlich, nachdem die Sozialistengesetze aufgehoben wurden, 1890 in SPD um.

Die SAP ist das Ergebnis einer Zwangsehe aus zwei sehr unterschiedlichen sozialistischen Organisationen. Zwangsehe aufgrund des Drucks des bürgerlichen Lagers auf die so gefürchteten verhassten Sozialisten und Umstürzler.
Zuvor aber haben sich die ADAVler und SDAPler heftig gestritten. Auf gegenseitigen Überfällen kam es gerne zu Prügeleien.
Die Gegensätze waren vielgestaltig, aber zentral war die deutsche Frage. Die Anhänger Lassalles befürworteten die kleindeutsche Lösung, wollten also ein preußisches Deutschland. Die SDAP dachte nicht nur viel intensiver über die Überwindung von Nationalstaaten ("Internationale") nach, sondern forderte auch die großdeutsche Lösung. Auch dachte man dort viel marxistischer und suchte den grundsätzlichen Klassenkampf (aus damaliger Sicht „moderner“), während die ADAV gemäßigter dachte, sich aber das liberale Bürgertum zum Gegner machte – dazu nicht einmal den Schulterschluss mit Bismark ausschloss. Man setzte sich erst einmal für die Abschaffung des Klassenwahlrechts ein, bevor man an Weltrevolution dachte.

Die ADAV scheint mir in diesem Zusammenhang näher an der heutigen SPD zu sein als die SDAP. Beide kämpften bekanntlich leidlich erfolgreich für die Verbesserung der Bedingungen der Arbeiter. Aber die ADAV zeigt mehr Realismus, weniger Visionen. Liebknecht und Bebel erinnern aber mehr an die traditionelle Nähe der Sozialdemokratie zum Marxismus.

Nach der Vereinigung mitsamt dem dazugehörigen Gothaer Programm 1875 wurde schnell das sozialistische Denken und die Inhalte und besonders die Verfechter des Eisenacher Programms wegweisend, auch wenn natürlich Karl Marx das genau anders herum behauptete bzw. kritisierte, die SAP sei zu gemäßigt.
Zuletzt geändert von NMA am Donnerstag 23. Mai 2013, 16:18, insgesamt 4-mal geändert.
Pulse of Europe
https://pulseofeurope.eu/de/
https://voltdeutschland.org/programm

Weniger Klimaschutz wird teurer als mehr Klimaschutz!
Benutzeravatar
Helmuth_123
Beiträge: 8651
Registriert: Samstag 31. März 2012, 19:51
Wohnort: Thüringen

Re: 150 Jahre SPD

Beitrag von Helmuth_123 »

New Model Army » Do 23. Mai 2013, 16:10 hat geschrieben:Die SPD feiert sich heute wegen der Gründung des ADAV im Jahr 1863, in Berufung auf Ferdinand Lassalle. Der Mann, der sich opportunistisch, aber sehr erfolgreich und wirksam in die frühe Entwicklung der Sozialdemokratie eingebracht hatte.

Aber ein weiteres häufig genanntes Gründungsdatum der SPD ist bekanntlich 1875 – genauer das Gründungsjahr der SAP durch Vereinigung von ADAV und SDAP (mit den linksrevolutionären Liebknecht und dem vielleicht etwas klüger differenzierenden Bebel). Die SAP benannte sich schließlich, nachdem die Sozialistengesetze aufgehoben wurden, 1890 in SPD um.

Die SAP ist das Ergebnis einer Zwangsehe aus zwei sehr unterschiedlichen sozialistischen Organisationen. Zwangsehe aufgrund des Drucks des bürgerlichen Lagers auf die so gefürchteten verhassten Sozialisten und Umstürzler.
Zuvor aber haben sich die ADAVler und SDAPler heftig gestritten. Auf gegenseitigen Überfällen kam es gerne zu Prügeleien.
Die Gegensätze waren vielgestaltig, aber zentral war die deutsche Frage. Die Anhänger Lassalles befürworteten die kleindeutsche Lösung, wollten also ein preußisches Deutschland. Die SDAP dachte nicht nur viel intensiver über die Überwindung von Nationalstaaten ("Internationale") nach, sondern forderte auch die großdeutsche Lösung. Auch dachte man dort viel marxistischer und suchte den grundsätzlichen Klassenkampf (aus damaliger Sicht „moderner“), während die ADAV gemäßigter dachte, sich aber das liberale Bürgertum zum Gegner machte – dazu nicht einmal den Schulterschluss mit Bismark ausschloss. Man setzte sich erst einmal für die Abschaffung des Klassenwahlrechts ein, bevor man an Weltrevolution dachte.

Die ADAV scheint mir in diesem Zusammenhang näher an der heutigen SPD zu sein als die SDAP. Beide kämpften bekanntlich leidlich erfolgreich für die Verbesserung der Bedingungen der Arbeiter. Aber die ADAV zeigt mehr Realismus, weniger Visionen. Liebknecht und Bebel erinnern aber mehr an die traditionelle Nähe der Sozialdemokratie zum Marxismus.

Nach der Vereinigung mitsamt dem dazugehörigen Gothaer Programm 1875 wurde schnell das sozialistische Denken und die Inhalte und besonders die Verfechter des Eisenacher Programms wegweisend, auch wenn natürlich Karl Marx das genau anders herum behauptete bzw. kritisierte, die SAP sei zu gemäßigt.
Wobei Bebel ursprünglich eher bürgerlich-linksliberal geprägt waren. Allgemein ist anzumerken, dass die Arbeiterbildunsgvereine eine Idee des liberalen Kleinbürgertum waren.
Benutzeravatar
NMA
Beiträge: 11662
Registriert: Montag 24. Mai 2010, 15:40
user title: Mutbürger
Wohnort: Franken

Re: 150 Jahre SPD

Beitrag von NMA »

Die Mitgliederzahlen wuchsen innerhalb kurzer Zeit weiter stark an, von 250.000 zur Jahrhundertwende bis auf über einer Million im Jahre 1913. Trotz ihrer kritischen Haltung gegenüber dem Kaiserreich und dessen Regierung ließen sich 1914 auch die meisten Sozialdemokraten von der allgemeinen Kriegsbegeisterung anstecken: Die SPD-Reichstagsfraktion stimmte – mit Ausnahme des Abgeordneten Karl Liebknecht – für die Kriegskredite der Reichsregierung und beteiligte sich an dem so genannten Burgfrieden, dem zufolge während des Krieges Kaiser und Regierung nicht öffentlich kritisiert wurden.

Als Reaktion auf die Kriegsunterstützung bildete sich in der SPD 1916 der "Spartakusbund" unter Führung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Andere Parteilinke wurden aus der SPD-Reichstagsfraktion ausgeschlossen und gründeten 1917 die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD).

Aus dem Spartakusbund entwickelte sich 1919 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), zu der auch viele Mitglieder der USPD überliefen, während sich der Rest der Unabhängigen 1922 wieder der SPD anschloss.
http://www.bpb.de/politik/grundfragen/p ... geschichte

Sollte man da wirklich von Kriegsbegeisterung sprechen? Keine Partei aller am Krieg beteiligter Nation hätte es zu diesem Zeitpunkt erfolgreich über sich gebracht, im Parlament die Siegesbemühungen oder die entsprechenden Handlungszwänge auch nur anzuhauchen, geschweige denn zu torpedieren. In der SPD hat man gestritten, ja. Aber es ist völlig logisch, in dieser Zeit in dieser Situation nicht als vaterlandsloser Geselle dastehen zu wollen. Diesem Vorwurf sah man sich als Sozialdemokrat schon immer ausgesetzt. Zu Kriegsbeginn konnte das widerlegt werden.
Pulse of Europe
https://pulseofeurope.eu/de/
https://voltdeutschland.org/programm

Weniger Klimaschutz wird teurer als mehr Klimaschutz!
Benutzeravatar
Progressiver
Beiträge: 2656
Registriert: Sonntag 1. April 2012, 00:37
Wohnort: Baden-Württemberg

Re: 150 Jahre SPD

Beitrag von Progressiver »

New Model Army » So 26. Mai 2013, 14:55 hat geschrieben: http://www.bpb.de/politik/grundfragen/p ... geschichte

Sollte man da wirklich von Kriegsbegeisterung sprechen? Keine Partei aller am Krieg beteiligter Nation hätte es zu diesem Zeitpunkt erfolgreich über sich gebracht, im Parlament die Siegesbemühungen oder die entsprechenden Handlungszwänge auch nur anzuhauchen, geschweige denn zu torpedieren. In der SPD hat man gestritten, ja. Aber es ist völlig logisch, in dieser Zeit in dieser Situation nicht als vaterlandsloser Geselle dastehen zu wollen. Diesem Vorwurf sah man sich als Sozialdemokrat schon immer ausgesetzt. Zu Kriegsbeginn konnte das widerlegt werden.
Die Deutschen waren mit ihrer kompromißlosen Einkreisungsparanoia die Hauptschuldigen am Ersten Weltkrieg. Wenn die SPD schon damals mehr Rückrad gezeigt hätte gegen die damalige Form des "Alternativlosigkeits-"Geschwafels der Obrigkeit, wäre so manches anders gelaufen. Erst durch den kompromißlosen Zuspruch der Heimatfront konnte sich das Militär trauen, halb Europa den Krieg zu erklären. Und was hat es allen genützt?

Es sollte wirklich mehr Leute in der Politik geben, die nach ihrem Gewissen abstimmen, anstatt der Obrigkeit Kadavergehorsam zu zeigen.
"Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum." Friedrich Nietzsche

"Wer nur einen Hammer als Werkzeug hat, dem wird bald jedes Problem zum Nagel."
Benutzeravatar
NMA
Beiträge: 11662
Registriert: Montag 24. Mai 2010, 15:40
user title: Mutbürger
Wohnort: Franken

Re: 150 Jahre SPD

Beitrag von NMA »

Das klingt glatt, als ob du der SPD die Kriegsschuld in die Schuhe schieben wolltest, ohne eigentlich auf das von mir Gesagte einzugehen. Außerdem ist sowieso fraglich, ob die SPD mit einer Ablehnung viel hätte verändern können. Wäre der Krieg dann deutscherseits weniger offensiv ausgefallen und letztlich auf deutschem Boden ausgefochten worden? Die Russen und die Westmächte hätten das wohl kaum nicht ausgenutzt. Spekulation.

Klar ist aber, dass es nirgends in Europa nennenswerten (außer-)parlamentarischen Widerstand gegen die Kriegsaktivitäten der Beteiligten gegeben hat.
Zuletzt geändert von NMA am Sonntag 26. Mai 2013, 21:21, insgesamt 1-mal geändert.
Pulse of Europe
https://pulseofeurope.eu/de/
https://voltdeutschland.org/programm

Weniger Klimaschutz wird teurer als mehr Klimaschutz!
Antworten