schokoschendrezki » Fr 21. Sep 2012, 07:46 hat geschrieben:
Ich glaube nicht, dass das Zufälle sind. Das Muster ist ähnlich: Reduziere den Menschen auf eine primäre Gruppenzugehörigkeit, aus der heraus er seine Freund- und Feindbilder generiert.
Das traurige Ergebnis solcher Kampagnen besteht unter anderem darin, dass es Demokraten inzwischen weniger darauf ankommt, Demokratie als individuelle Freiheit zu leben, sondern eher darauf, für die Demokratie "Flagge zu zeigen", Demokratie vor allem als ein Gruppenzugehörigkeitsbekenntnis zu verstehen.
nun, es gibt ja im grunde zwei wesentliche stränge, die zu ressentiments gegen andere gruppen beitragen: unterlegenheits- und überlegenheitsgefühl, verachtung und neid. in den schlimmsten fällen gruppenbezogener menschenfeindlichkeit laufen in der regel bemerkenswerterweise beide stränge zusammen, doch gründete sich der antisemitismus hauptsächlich auf neid (die juden beherrschen die welt, jüdische weltverschwörung, finanzjudentum, etc.); die islamfeindlichkeit hauptsächlich auf verachtung (muslime sind barbaren, muslime leben noch im mittelalter, muslime sind dumm etc.).
neben diesen strängen gibt es weitere, die zum teil "unterfunktionen" der neid-/verachtungsstränge sind und zum teil parallel laufen.
bei streng religiösen menschen kommt etwa manchmal, bei religiösen polemikern und fanatikern fast immer, auch noch das "konkurrenzmotiv" dazu: d. i., die anderen haben eine andere gottesvorstellung, die in konkurrenz zur eigenen steht und deren unterlegenheit bewiesen werden muss, damit einem die eigenen schäfchen nicht davonlaufen. dabei lassen sich aus christlicher sicht gegen judentum und islam ähnlich gerichtete vorwürfe vorbringen: das judentum und der islam etwa seien gesetzesreligionen; und dann werden einzelne religiöse traditionen oder gesetze herausgegriffen, die zum angriffspunkt auf die gesamte religion und ihre anhänger verwendet werden (z.b. speisevorschriften, beschneidung, schächtung).
(wobei so etwas selbstverständlich nicht nur bei den anhängern klassischer religionen, sondern auch bei atheistischen fanatikern vorkommt.)
und dann kommt unter umständen noch erfahrungen von gewalt, leid oder demütigung hinzu, die von einzelnen mitgliedern einer gruppe verschuldet wurden (oder für die einzelne mitglieder einer gruppe auch nur verantwortlich gemacht werden, ohne dass sie irgendeine schuld tragen) und die dann auf die gruppe als ganzes übertragen werden.
diese faktoren sind meines erachtens in den antisemitischen und den islamfeindlichen diskursen sehr unterschiedlich gewichtet, was mich immer dazu bewegte, diese diskurse voneinander zu trennen.
das heißt, bei vielen menschen, die ressentiments gegen den islam haben, sind diese ressentiments hauptsächlich auf die "gewalterfahrung" des von muslimischen fanatikern verursachten terrorismus zurückzuführen; den juden kann man in dieser hinsicht weniger vorwerfen, was aber die menschen, die die juden unbedingt hassen wollen, nicht daran hindert, etwa den konflikt zwischen israel und den palästinensern und das palästinensische leid für ihre zwecke zu instrumentalisieren. und wenn ich am anfang sagte, dass der antisemitische diskurs hauptsächlich auch eine neiddebatte war (d.i., der wohlstand einzelner jüdischer familien wurde den juden insgesamt angedichtet und daraus eine verschwörerische jüdische weltherrschaft konstruiert), so tritt der "verachtungsstrang" (der daneben natürlich vorher auch schon existierte, aber im hintergrund stand) spätestens seit dem 19. jahrhundert stärker in den vordergrund. man muss sich da einfach nur mal die schriften von ernest renan anschauen, der ja eigentlich an sich ein kluger denker war, aber gleichzeitig auch 'thesen' zustande brachte wie die, dass "die schreckliche einfalt des semitischen geistes (und er meinte hier den geist der juden
und der araber / muslime!) das menschliche gehirn zum schrumpfen bringe und es jeder höheren geistigen leistung gegenüber verschließe".
was mir in jüngerer zeit auffällt, ist eben, dass die religiöse kultur von muslimen
und juden wieder stärker zum gegenstand des diskurses wird; d. i. die juden und muslime, das sind halt die mit ihren mittelalterlichen gesetzesvorschriften, denen quasi sowohl jede spiritualität wie auch jede modernität abgeht, die ihre armen kleinen kinder verstümmeln und misshandeln, nur weil es ihre barbarische ausländische religion von ihnen verlangt - in diesem zusammenhang auch immer wieder die groteske aufforderung an die seit
jahrhunderten in deutschland ansässigen juden, sie sollen doch "gehen", wenn's ihnen nicht passt (wobei gleichlautende forderungen an muslime natürlich nicht besser sind). und, was mir noch stärker in den blick fällt, ist der umstand, dass die behauptung, der zentralrat der juden habe in deutschland quasi einen geradezu unermesslichen einfluss auf die politik - der ja im grunde wieder auf die jüdische weltverschwörung verweist -, inzwischen auch auf die muslimischen verbände übertragen wird.
diese lächerliche unterstellung war ja prägend für die ganze beschneidungsdebatte, und charlie hebdo greift das ja jetzt wieder auf (les intouchables - hallo?!). das heißt, das gerede von den barbarischen, mittelalterlichen, unfähigen und einfältigen muslimen wird jetzt ergänzt dadurch, dass man ihnen eine quasi unheimliche macht zuschreibt, die westlichen freiheiten zu untergraben und geradezu übermäßigen einfluss auf die deutsche politik zu nehmen.
ich kann auch erklären, warum mich diese entwicklung, wenn ich sie richtig beobachte - bislang ist das ja nur eine these - ein wenig ängstigt; es gab so eine unglückliche verschmelzung zweier separater diskurse nämlich schon des öfteren (die der verschmelzung arabisch-christlicher und euopäisch-christlicher antiislamischer polemik hatte ich ja schon einmal angesprochen), und eine davon kommt mir in diesem zusammenhang immer wieder in den kopf:
die verschmelzung des neidgeprägten europäischen antisemitismus mit der verachtungsgeprägten arabischen judenfeindlichkeit im rahmen des kolonialismus. da gingen nämlich europäische motive (weltverschwörung, finanzjudentum) mit arabischen motiven (juden sind dumm, einfältig) eine sehr unglückliche verbindung ein, die, verstärkt durch persönliche leiderfahrung im rahmen des israelisch-arabischen konfliktes und antijüdische religiöse polemik, zu dem sehr widerwärtigen und ekelhaften antisemitismus geführt hat, den wir bei manchen arabischen muslimen heute beobachten müssen - und der dann noch viel stärker die tendenz hat, auch in gewalt zu münden.
insofern beobachte ich die gegenwärtigen veränderungen im antisemitischen und islamfeindlichen diskurs in europa schon mit einer gewissen sorge.
(tut mir leid, dass das jetzt hier schon wieder so lang geworden ist; das spukt mir jetzt nur schon seit einigen tagen im kopf herum und ich muss das mal loswerden.)