schokoschendrezki hat geschrieben:(24 Aug 2016, 10:18)
Nein. Für einen gesellschaftlich-politischen Wandel wie er seit längerem in Ungarn und seit kürzerem in Polen stattfindet, bedarf es mehrerer Faktoren. Der wichtigste dürfte die Alleinregentschaft einer einzelnen Partei mit möglichst absoluter Mehrheit im Parlament und damit der Macht zu grundlegenden Verfassungsänderungen sein. Der nächste Faktor ist eine charismatische Figur wie Orbán, Erdogan oder Kaczynski. (...) Und das dritte und vielleicht wichtigste ist ein Phänomen, das es - in der Ausprägung jedenfalls - 2000 bis 2033 noch gar nicht gab: Den "emotional turn" in der Politik. (...)
Wir bleiben mit der Besorgnis über einen rechtskonservativ-rechtsnationalistischen Ruck in Europa und der Welt durchaus beim Thema.
Richtig, wir brauchen bessere - zumindest gute - Politiker, darunter auch dynamische und charismatische. Es gibt mittlerweile zu viele Beamte mit Buchhalter-Mentalität. Woher soll das Charisma kommen, wenn die Ladies und Gentlemen nie etwas anderes gesehen haben als Campus und Verwaltungsflur. Denken wir mal an einen Joschka Fischer, der Taxi und Straße kannte oder an die Helmut-Schmidt-Garde, die seinerzeit die terroristische Herausforderung sofort als eine quasi-militärische Lage begriffen haben.
Der "emotional turn", das ist in diesem Sinne die Affektpoetik in der politischen Rede oder in der erzählten Politik (Medien). Es mag schwierig sein, die Grenze zum Populismus oder gar zur Demagogie nicht zu überschreiten, grundsätzlich steht die Affektpoetik aber auch demokratischen Politikern zur Verfügung. De Gaulle, Churchill und Roosevelt wären die klassischen Beispiele für Ausdrucksstärke.
Zu betonen wäre demnach die Trauer in der Elegie, Hoffnung in der Utopie, Enthusiasmus in der Hymne, Schuld in der Tragödie und Glück in der Idylle.
Eine gute Geschichte, die erzählte Politik, braucht aber auch Anschaulichkeit - eine Spezialität Obamas - sowie Prota- und Antagonisten.
Bei Schokoschendrezki und den meisten Medien schleicht sich aber stets das gleiche Problem ein - die Geschichte der unsicheren Kantonisten und der Schurken ist eben leichter erzählt und die Aufmerksamkeit ist sicher. So muss ja der Konsument den Eindruck haben, es gäbe nur die Schurken, aber keine Helden, und diesen könne man entweder anhängen oder aber langweilig sein.
Das Phänomen ist durchaus bekannt - lokale Presse und Bevölkerung sympathisierten teils mit Al Capone, weil er witzig war und Spaß verhieß. Die Stimmung drehte sich dann irgendwann zugunsten des Bundesbeamten Eliot Ness, nicht zuletzt wegen der erzählten Geschichte von dem Team der "Unbestechlichen". Ganze 11 ausgesiebte, zuverlässige Beamte gegen die Mafia, die eine ganze Stadt in Atem hielt. Das ist eine gute Geschichte - inklusive Affektpoetik, Helden und Anti-Helden.
Die demokratischen Gesellschaften müssen sich erneuern und konsolidieren. Es sei an dieser Stelle wieder auf Lilia Schewzowa verwiesen, die eine Zeitenwende gekommen sieht und etwas ungewisses Neues, was erst in der Zukunft exakter beschrieben werden wird.
Das, was in den Jahren 2014 und 2015 passiert ist, war die Zerstörung der alten Weltordnung. Es gibt sie nicht mehr. Es gibt nicht mehr das Europa der alten Ordnung, ebenso wenig wie den Postkommunismus. Ob ihr es wollt oder nicht, der Maidan hat nicht nur in der ukrainischen Geschichte bewusst oder unbewusst ein ganzes Kapitel geschlossen. Streicht den Begriff „Postkommunismus“ mit seinen Illusionen, Stereotypen und dummen Hoffnungen aus eurem Gedächtnis, es gibt ihn nicht mehr. Es beginnt eine neue Zeit. Aber welche? Das wissen wir nicht. Aber ihr steht in der ersten Reihe und werdet sie selbst gestalten.
http://de.euromaidanpress.com/2016/01/0 ... erbrochen/
Es liegt an uns zu gestalten, anstatt allein auf das "Name Dropping" der Antagonisten und ihrer schauerlichen Geschichten zu setzen. Gibt es denn nur noch Putin, Le Pen, Orban, Erdogan, Farage und Gauland?
Natürlich nicht, es gibt ebenso den französischen Premier Manuel Valls, dessen Reden durchaus auch affektpoetische Elemente enthalten, in Italien gibt es Matteo Renzi, in Schweden Stefan Löfven oder in Estland Toomas Hendrik Ilves, der in einer Rede sagt "Freiheit ist die Frucht der Mühe", und es gibt nicht nur russische "Krimnaschisty", sondern auch die bezauberne Zhanna Nemzowa, Ilja Jaschin, Dmitri Muratow oder Viktor Jerofejew. Nur wird über sie weniger geredet.
Also nein, die Neue Rechte, die Interbellums- und Hybridfaschisten sind bei weitem nicht allein auf weiter Flur, sie treten nur nassforscher auf und sind gut mit Ressourcen unterfüttert. Das ist nicht unangreifbar, absolut nicht, aber es muss eine eigene Kommunikation gefunden werden.
Wir bleiben mit der Besorgnis über die zeitgenössischen Ereignisse in Europa und in der Welt durchaus beim Thema.