Tja, kann sein; vielleicht ganz anders, als wir uns im Westen erträumen. Wir träumen ja davon, daß der Kriegsverbrecher Putin mit den Füßen voran den Kreml verlassen wird, nachdem er seinem bösen Traum von einem Großreich Rußland genügend viele seiner Landeskinder geopfert hat, ohne diesem Ziel wirklich näher gekommen zu sein. Ganz für mich allein finde ich ein friedliches und freundliches Großreich zwischen China und Europa gar nicht einmal so schlecht. Aber es gibt offen zur Schau getragene Vorstellungen, daß die Russische Föderation doch nach der fälligen Niederlage und dem Zusammenbruch ihrer Führungselite in "Splitterstaaten" zerlegt werden soll:
Die Gazeta Wyborcza hat das Verdienst, den zugehörigen Themenkreis zusammengefaßt zu haben, der auf der Münchner Sicherheitskonferenz offenbar einigen Raum einnahm.
Da gab es die menschenfreundliche Variante, die Herr George Soros etwa folgendermaßen umriß: Die Vasallenstaaten der ehemaligen Sowjetunion können es kaum erwarten, daß die Russische Föderation in der Ukraine unterliegt... ihre Führung sich darüber entzweit und Rußland in viele kleine Staaten zerfällt... die aus Sicht von Herrn Soros dann friedlich miteinander umgehen und auf jeden Fall für den Westen keine Gefahr mehr darstellen.
Mich wundert diese Erwartung mit Blick auf das ehemalige Jugoslawien, dessen Zerfall keineswegs friedlich verlaufen ist... und im Grunde immer noch nicht abgeschlossen ist. Die Niederlage des Deutschen Reichs im 1. Weltkrieg mit der Vernichtung der Donaumonarchie, des Osmanischen Reichs und Gebietsverlusten des Deutschen Reichs, Neugründung von Staaten, hat ziemlich geradeaus zum 2. Weltkrieg geführt. Darf man von einer Atommacht erwarten, daß sie sich ohne Gegenwehr in das ihr zugedachte Schicksal fügt?
Herr Soros sympathisierte auch mit der Vorstellung des US-amerikanischen Philosophen Steven Pinker, der vorschlägt, der unterliegenden Russischen Föderation einen Frieden anzubieten, in dem Rußland sich in der Ukraine auf die völkerrechtlich anerkannten Grenzen von 2014 zurückzieht, also die Ukraine vollständig verläßt, die USA im Gegenzug anbieten , ihre Atomwaffen aus Europa abzuziehen. Mit Blick auf die Behauptung, daß die NATO Rußland bedrohe, wäre das ein gesichtswahrendes Angebot für Rußland, sich aus der Ukraine zurückzuziehen, weil seine "existenzielle Bedrohung durch die NATO" aufgehoben wurde.
Gleich noch einen Schritt weiter ging Henry Kissinger, der ein zerfallendes Rußland als Machtvakuum erkannte, das sich als Quelle blutiger Bürgerkriege, womöglich mit Einsatz von Atomwaffen, entwickeln könnte: Also keineswegs die ersehnte friedliche Nachbarschaft im Osten. Unausgesprochen: Lieber dafür sorgen, daß die russische Föderation erhalten bleibt.
Prof. Jarosław Macała brachte polnische Erwartungen ins Spiel. Am liebsten sähe er den Zerfall der russischen Föderatioin in viel auf Zusammenarbeit mit dem Westen ausgerichtete Staaten im Osten, die für Polen keine Bedrohung mehr darstellen. Eine Atommacht im Osten würde aber zum krassen Gegenteil führen... zur existenziellen Bedrohung Polens. Dem Zerfall der Russischen Föderation gewinnt Prof. Macała aber eine Rolle Polens wie im 18. Jahrhundert ab, als Polen unangefochten eine Großmacht im Osten war. Nichts Überraschendes: In Leserkommentaren auch zu diesem Artikel werden solche Gedanken ausgebreitet.
Ein polnischer Teilnehmer der Sicherheitskonferenz, Herr Józef Lang, spann diesen Gedanken weiter zu einer wirtschaftlichen und politischen Vormachtstellung Polens im Osten, das mit den Splittern der Russischen Föderation leichteres Spiel habe. Belarus bleibe nichts weiter übrig, als sich dem Westen... gemeint ist wohl damit: Polen... zu öffnen. Sogar von der Einverleibung des Oblasts Kaliningrad, also des nördlichen Ostpreussens, ist die Rede....
Man darf nicht aus dem Blick verlieren, daß Polen dem längst überwunden geglaubten Nationalismus bis Chauvinismus viel Sympathie entgegen bringt, wenn er Polen eine besondere Rolle im Konzert der Großen sichert. Augenhöhe mit den USA, mindestens. So sind auch Polens Anstrengungen zu verstehen, sich in der Gruppe der 10 Staaten der EU-Osterweiterung zum Wortführer aufzuschwingen... wie zuvor schon in der Gruppe der Visegrad-Staaten. Da dürfte der EU und dem Gedanken einer Europäischen Föderation einiger kalter Wind aus Warschau entgegen schlagen...
Der ehemalige Oligarch und Putingegner Chodorkowski sieht sein Rußland zerfallen wie das ehemalige Jugoslawien... sein Herz schlägt aber für eine Demokratisierung der Russischen Föderation nach dem Muster der Schweiz (da lebt Herr Chodorkowski derzeit). Damit trifft er aber auf verärgerten Widerspruch ("ziemlich weit in die Zukunft gedacht") der polnische Wortführer... warum, das ist nicht schwer zu erraten.
Der französische Politologe Bruno Tertrais sieht die Russische Föderation in eine Art zweites Nordkorea hinübergleiten, weil die Zustimmung zu einer demokratischen Gesellschaftsordnung in der Russischen Föderation nur bei 20% liege, dem autoritären Herrschaftssystem aber über 50% zustimmten. Na gut, das sehr genau aufgelöste Ergebnis dürfte im Kaffeesatz gelesen worden sein.
Am Schluß des Berichts der Gazeta Wyborcza kommen die ganz großen Linien der Sicherheitskonferenz zum Zuge: Der Westen sei der freiheitliche Teil der Menschheit, der auf christlichen Wurzeln aufbaue... im Gegensatz zu autoritären Herrschaftssystemen in der islamischen Welt... und natürlich in China. Nur der christlich geprägte Teil Rußlands sei (noch) nicht Teil dieses Westens.
Tja, wie man leicht erkennt, wurde in München schon das Fell des Bären verteilt, durchaus mit unübersehbarem Chauvinismus, den wir Europäer für überwunden hielten. Ja, der Krieg in der Ukraine könnte sich tatsächlich auf andere Länder auswirken; er hat sogar das Zeug, die EU zu spalten, wenn solchen feuchten Träumen nicht mit harter Hand Einhalt geboten werden kann. Ich will am Ende des Kriegs in der Ukraine eine freundliche und demokratisch verfaßte Russische Föderation erleben, so wie Herr Soros und Herr Chodorkowski das vorgetragen haben. Dir Russen sollen möglichst schnell gute Europäer werden!