Tantris » Do 27. Sep 2012, 00:01 hat geschrieben:
Ich hätte allerdings gemeint, die letzte (junge) generation der russlanddeutschen hätte sich nicht mehr deutsch gefühlt und wäre auch nicht mehr so angesehen worden.
Niemand hält die vielen ruhrgebietler mit polnischen namen für polen.
Ich komme z.B aus einem Ort, in dem Russlanddeutsche rund 20% der Bevölkerung ausgemacht haben. Wenn derart viele Menschen eine kleine Gemeinsamkeit haben, die sie von allen anderen unterscheidet, dann kommt man nicht umhin diese auch wahrzunehmen (und sie wird auch von den anderen wahrgenommen). Und das war auch bei mir der Fall, obwohl ich einen russischen Vater und Nachnahmen habe, russisch erzogenen wurde und mich insgesamt eher russisch fühle.
Wenn man aber an einen anderen Ort der UdSSR zog, wo Russlanddeutsche keine 5-10-20% der Bevölkerung stellten, sondern vielleicht nur 1% oder weniger, dann fiel es auch nicht auf und hatte auch keine Bedeutung.
Tantris » Do 27. Sep 2012, 00:01 hat geschrieben:
Also, ich hätte gemeint, die russlanddeutschen waren gerade "am verschwinden", wurden gerade assimiliert und erscheinen uns bundesdeutschen deswegen so "russisch".
Dieser Eindruck ist nicht ganz falsch. Die russlanddeutsche Sprache war allmählich am Verschwinden. Hinzu kommt, dass vor allem in den späten 90-er Jahren viele gemischte Familien nach Deutschland einwanderten (nach der Jahrtausendwende war der Aussiedlerstrom ja nur noch marginal).
Tantris » Do 27. Sep 2012, 00:01 hat geschrieben:
Und, dass sie aus wirtschaftlichen gründen herkämen, nicht weil sie "als deutsche unter deutschen leben wollen".
Das ist zumindest für meine Eltern-Generation falsch. Sie war zwar schon überwiegend russischsprachig, der Gedanke "als Deutsche unter Deutschen zu leben" spielte aber nach wie vor eine zentrale Rolle. Es waren zwar die wirtschaftlichen und politischen Probleme, die die Auswanderung veranlassten, Deutschland wurde aber immer noch als die historische Heimat betrachtet. In einem noch stärkeren Maße war dies bei russlanddeutschen Aussiedlern der Fall, welche in einem kleinen Strom die UdSSR schon seit den 70-er Jahren verließen. Bei russischen Ehegatten und Kindern aus diesen Mischehen war diese Idee natürlich weniger stark ausgeprägt.
Natürlich gab es das. Russlanddeutsche galten als normale Deutsche und deswegen als sehr fleißig, pünktlich, genau etc. Schließlich haben sie nach der Deportation alles von null wieder aufgebaut.
Die Häuser und das Vieh wurden hauptsächlich unter Preis verkauft oder Verwandten überlassen. Es gab aber auch Grenzfälle, in denen man das Haus lieber abfackelte, anstelle es einem dreist auftretenden Bieter zu überlassen.
Weil es in der Öffentlichkeit und der Arbeitswelt nicht die vorherrschende Sprache war, die in der Schule nur wahlweise als Fremdsprache unterrichtet wurde.
Mir fällt es auch schwer, meine Kenntnisse in Spanisch zu erhalten, obwohl ich die Sprache sehr mag. Und während die Eltern-Generation als erste Sprache in der Familie Deutsch lernte, wovon man fürs ganze Leben etwas hatte, lernten seit den späten 70-ern und in den 80-ern Geborene Deutsch bestenfalls nur noch nebenbei.
Tantris » Do 27. Sep 2012, 00:01 hat geschrieben:
Ich kenn ja seit den 80-er keine und die damals haben nie für den obersten soviet geschwärmt. Die ablehnung der kommunistischen führung war für die derart selbverständlich, dass die eigentlich nie darüber geredet haben. Nur auf nachfrage. Konnten dann aber stundenlang über die zustande in der SU ablästern.
Parteischleimer mochte man generell und überall nicht besonders. Und zu kritisieren gibt es gewiss in jedem Land etwas. Bei vielen aus meiner Elterngeneration entwickelte sich aber ein sowjetischer Nationalstolz, den ich auch in mir trage (obwohl ich Gegner der bolschewistischen Revolution bin). Die Männer dienten genauso 2-3 Jahre in der Sowjetarmee und man war stolz darauf, Teil eines so großen Landes zu sein, das z.B. als erstes in den Weltraum vorstieß.
Tantris » Do 27. Sep 2012, 00:01 hat geschrieben:
Den russlanddeutschen "putinisums" kenn ich nur aus diesem forum hier. Der ist also nicht typisch für russlanddeutsche? Beruhigt mich etwas.
Keine Ahnung. Ich spreche mit anderen Russlanddeutschen in der Regel nicht über Putin.

Ich würde aber schon sagen, dass Russlanddeutsche mit politischer Einstellung mehrheitlich entweder konservativ oder eher links (aber nicht in dem Sinne von "alternativ-links", sondern "alt-links") sind und dem bürgerlich-liberalen Millieu eher ablehnend gegenüber stehen. Ersteres hat seine Ursprünge in der russlanddeutschen Identität und den jahrhundertelangen überwiegend guten Beziehungen zwischen konservativen Herrschern Deutschlands und Russlands. Letzteres ist eine Folge der sowjetischen Sozialisation. Vor allem in der jüngsten Generation gibt es aber Ausnahmen.
Tantris » Do 27. Sep 2012, 00:01 hat geschrieben:
Wie gesagt, der putinismus sagt mit nicht, wie toll putin ist, sondern eher, wie entwurzelt sich seine verfechter fühlen.
Das kann aber nicht erklären, warum es überall auf der Welt Verfechter Putins gibt.
Tantris » Do 27. Sep 2012, 00:01 hat geschrieben:
"Mitgenommen"... damit meinte ich, der russlanddeutsche bekam seine ausreisegenehmigung (oder wie das immer genau laufen mag), packte seine familie ins flugzeug und ab nach berlin!
Nicht nach Berlin. Es gab die Zwischenlager Friedland und Bramsche in Niedersachsen und von da wurde man weiter "verteilt". Soweit ich weiß, gab es anfangs Quoten, später konnte man aber dort ansässig werden, wo man wollte (dies war in der Regel in der Nähe von Verwandten der Fall). Ich gebe nochmals zu bedenken, dass für eine Anerkennung als Russlanddeutschen man zunächst im Ursprungsland erfolgreich einen Sprachtest ablegen sollte (da kommt ein deutscher Beamter und schwafelt was mit dir). Für Ehegatten und Kinder ist dieser nicht verbindlich hat aber auch einen schlechteren Status zur Folge.
Tantris » Do 27. Sep 2012, 00:01 hat geschrieben:
Und der nicht-deutschsprechende 12 jährige sohn wurde halt einfach "mitgenommen". Ob er wollte oder nicht. Wer will in dem alter seine kumpels für immer verlassen und in einem land leben, in des sie unverständlich reden und überall alles so genau nehmen? Nur weil die vorfahren angeblich daherkommen.
Ich kann hier nur für mich sprechen, aber ich wollte in ein Land, "wo alle es so genau nehmen", "mitgenommen werden und hatte eine klare Vorstellung davon, auf was ich mich einlasse. Es war weniger schlimm, als ich es mir vorstellte.
Also von schrecklichen Gulag-Geschichten abgesehen - nein. Es gab zu der Zeit generell von allen Seiten allen gegenüber Vorbehalte. Waren hingegen bereits in den 70-ern Mischehen zwischen Russen und Deutschen oder Deutschen und Juden normal, waren Ehen zwischen Russen und Kasachen, Deutschen und Tschetschenen, Tschetschenen und Russen etc. bis weit in die 90-er Jahre tabu.
Tantris » Do 27. Sep 2012, 00:01 hat geschrieben:
Oder... gibt es eine art stillschweigenden zusammenhalt aller nicht-russischer völker gegen die russen,weil die nunmal das sagen haben und die sind immer unbeliebt?
(Vgl "Preussen" in D )
Nein, die meisten Völker Russlands sind mehrheitlich prorussisch. Es gibt zwar hier und da eigene Nationalisten und in den letzten Jahrzehnten macht auch der radikale Islamismus zu schaffen, aber grundsätzlich hat sich nichts geändert. In der UdSSR gab es halt noch viel mehr Völker und z.B baltische Völker und Westukrainer führten in den späten 40-ern und Anfang der 50-er sezessionistischen Partisanen-Kampf gegen die Sowjetunion. Bis zur Auflösung der Sowjetunion und darüber hinaus hielt und hält sich dort dementsprechend eine antirussische Haltung. Es ist aber auch nicht so, dass nur die Russen das Sagen hatten. Breschnew und Chruschtschew haben zwar russischklingende Namen, stammen aber aus der Ukraine. Es wurden für die höchsten Positionen halt nur Menschen bestimmter ethnischer und sozialer Herkunft zugelassen (z.B. keine Verräter in der Familie zur Stalin-Zeit) und für die anderen wie z.B. Deutsche oder Juden wäre beim Militär im Rang eines Oberst endgültig Schluss.
Deswegen ist auch der Film "Jagd auf Roter Oktober" Unsinn. Einem Balten hätte niemand das modernste U-Boot der Marine anvertraut.
Tantris » Do 27. Sep 2012, 00:38 hat geschrieben:
Also, das mit dem landleben in der provinz, hat mir der russe hier erzählt. Und da habe ich mich auch erinnert, das was "meine" russin damals aus tadchikistan erzählt hat, klang nach einer freien, wilden kindheit auf dem lande.
Die kindheit in D war auch einmal freier, als es noch mehr platz gab. Jetzt ist alle paar meter ein zaun und ein verbotsschild, man kann keine äpfel beim nachbarn klauen, sondern nur im supermarkt und dann ist man kein lausbub mehr, sondern ein krimineller.
Auf der strasse radfahren lernen tut mehr weh als auf der wiese.
Ja, in Kasachstan ist man noch nicht ganz so weit. Das erklärte auch teilweise die anfängliche erhöhte Gewaltbereitschaft von russlanddeutschen Jugendlichen. Dass man sich dort in der Kindheit und Jugen prügelte, war eben nicht so selten.
Tantris » Do 27. Sep 2012, 00:38 hat geschrieben:
Und ich hätte jetzt gedacht, diese entwicklung macht man noch eine ecke verschärfter mit, wenn man vom kazachstanischen dorf nach berlin zieht.
Ich kam aus einer 8-10 tausend Einwohner zählenden kleinen Stadt in eine 16 tausend Einwohner zählende deutsche Stadt und der Unterschied war verkraftbar.

Es gibt hier zwar mehr asphaltierte Straßen und weniger Platz, aber in den 3 Jahren in der Sowjetunion und 8 Jahren in Kasachstan habe ich auch mehrmals einfache Dörfer und unterschiedliche Städte mit 300.000 Einwohnern gesehen und war daher auf alles vorbereitet.
Man muss vor diesem Hintergrund auch wissen, dass die Sowjetunion in den Nachkriegsjahrzehnten ebenso einen starken Verstädterungsdruck und Mobilität der Bevölkerung erfahren hat. Von den vielen Verwandten, die anfangs in ein einzelnes Dorf deportiert wurden lebten 1990 nur noch weniger als die Hälfte dort. Einige zogen in eine kleine Stadt in der Nähe, viele Andere aber auch in Großstädte in 500-1000km Entferung. Berlin oder Hamburg sind dann schon eine Impression für sich, aber prinzipiell nichts neues.
Siehe oben. Alles ist vorhanden.
Tantris » Do 27. Sep 2012, 00:38 hat geschrieben:
Wie diese gegenden aussehen, kann ich mir auch nicht vorstellen. 1979 war ich mal in indien. Als ich zurückkam habe ich meine russlanddeutsche kollegin gefragt, ob es in tadschikistan asfaltierte strassen und gehsteige gibt. Was sie grinsend über diese frage bestätigte. Ja... indien ist von europa aus gesehen nicht so weit weg vom kaukasus. "tadschikistan" klingt nicht sehr nach europäischer kultur.
Wie lebten die tadschiken dann? Im selben mietshaus 12 turbanträger, 2 deutsche und 5 russen?
Keine Ahnung, wie die Tadschiken lebten. Ich komme zwar aus Kasachstan, aber einer Gegend, wo mehrheitlich Russen lebten, aber auch Ukrainer in größerer Anzahl vorhanden waren. Alles war also ziemlich europäisch geprägt. Kasachen waren nur eine Minderheit, lebten nicht mehr in ihren Jurten und zogen nicht mehr nomadenhaft durch die Gegend. Die gleichaltrigen Kasachen, die ich kannte, konnten kaum Kasachisch (ich war in der Schule in Kasachisch besser als sie

). Ich wusste zwar, dass sie Moslems waren, aber nicht so recht, was der Unterschied zum Christentum, außer Allah statt Gott und Beschneidung des Pimmels, war.
Tadschikistan muss dagegen viel extremer gewesen sein. Dort lebten kaum Russen und viel religiöser waren die Tadschiken auch. Tadschikistan geriet deswegen u.a. in den 90-ern in einen Bürgerkrieg.
Tantris » Do 27. Sep 2012, 00:38 hat geschrieben:
Ich stell mir die zentralasiatischen republiken wie russische kolonnien vor. Und der krieg mit z.b. tschetschenien erschien mir als klassischer kolonnialkrieg. Wie die franzosen in algerien oder die holländer in indonesien.
Die Bezeichung "Kolonien" für Zentralasien mögen die Russen nicht besonders. Vom Prinzip her kann man es teilweise anwenden. Kasachstan schloss sich z.B. freiwillig dem Russischen Kaiserreich an, während die Usbeken, mit denen die Kasachen eine jahrhundertelange Feindschaft hatten, in einem Feldzug erobert wurden.
Ja. Auf rund 90% trifft das zu.
Tantris » Do 27. Sep 2012, 00:38 hat geschrieben:
Oder war es nur die "gefühlte" armut, wegen des ganzen westfernsehens mit werbung für all die teuren sachen, die es früher nichtmal als werbung gab? (und die sich natürlich auch die allermeiste westler nicht leisten können.)
Nein, dass war eine ganz reale Verarmung. Wenn Löhne plötzlich nicht mehr gezahlt werden, die zentrale Heizung nicht mehr funktioniert und mit dem Geld, was man verdient, kaum noch Nahrungsmittel, geschweige denn Urlaubsreisen innerhalb der ehemaligen UdSSR, finanziert werden können, dann merkt man es schon sehr deutlich.
Tantris » Do 27. Sep 2012, 00:38 hat geschrieben:
Achja... gab es zu SU-zeiten wirklich keine drogen und prostitution?
Hatte niemand auf dem weiten land hanf angebaut? Ich glaube mal gehört zu haben, dass das sehr wohl gemacht wurde. Aber vielleicht lief der handel nur lokal und innerhalb einer ethnie ab.
Gras hat es gegeben. Heroin aus Afghanistan hingegen nicht. Und Prostitution...

Was versteht man unter Prostitution? Im Sinne von professionell, wie man es heute kennt, nur in den dunkelsten Gassen sowjetischer Millionenstädte. Es gab aber auch in kleineren Städten und Dörfern alleinstehende Frauen, bei denen man gelegentlich ohne Bindung für eine Nacht einziehen konnte. Das fasse ich aber nicht unter Prostitution zusammen.
