Über die Schulpädagogik in Deutschland schrieb er hierzu am 29. Juli 1860: "War in der Schule. Entsetzlich. Gebet für König. Prügel, alles auswendig, verängstigte, seelisch verkrüppelte Kinder" (Tolstoi 1978b, S. 273).(...)
Schüler einer Freien Schule sind nicht braver, ordentlicher oder gerechter; was eine Freie Schule vielmehr auszeichnet, ist die Reaktion auf alltägliches, altersbedingtes oder scheinbar störendes Verhalten. Tolstoi hatte in diesem Sinne gerade wegen seines hohen Anspruchs, eine freiheitliche und nicht autoritäre Bildung zu praktizieren, mehr Probleme als Lehrer an Staatsschulen, deren Verhalten durch bestimmte Regeln vorbestimmt ist.
Tolstois moralischer Anspruch, die Kinder in ihren Rechten den Erwachsenen gleichzusetzen, machte seinen Unterricht zwar offener, freier, ungezwungener, stellte aber gleichzeitig auch ein höheres Maß an Menschlichkeit, Toleranz und Kraft voraus. Das obige Beispiel im Umgang mit Problemen zeigt, daß Tolstoi dabei keineswegs vor Fehlentscheidungen gefeit war. Was Jasnaja Poljana jedoch in solchen Fällen von anderen Schulen zur damaligen Zeit unterscheidet, ist der Umgang mit Entscheidungen und die Dynamik der Lehrer-Schüler-Interaktion.
Ein "Störfall" wird vor der gesamten Klasse thematisiert; Tolstoi entscheidet nicht alleine, er wird nicht zum Herren über Lob und Strafe. Andererseits werden Fehlentscheidungen, die sich später als solche auch herausstellen, zu einem Beispiel für soziales Lernen. Wir müssen jedoch davon ausgehen - wenn wir den Berichten Tolstois und Morosows Glauben schenken wollen -, daß entsprechende Situationen in Jasnaja Poljana zur Ausnahme gehörten: "Für gewöhnlich wurde bei uns nie jemand gestraft. Für Ausgelassenheit, Ungehorsam, Faulheit strafte Lew Nikolajewitsch niemand" (ebd., S. 42).
Bildung als Dialog
Ein wichtiges Merkmal, das sowohl von Tolstoi bewußt beabsichtigt als auch von Morosow so erfahren wurde, war der "pädagogische Bezug", der sich grundlegend von den Traditionen eines autoritären, einseitigen und mit dem Ziel der Beeinflussung behafteten Lehrer-Schüler-Verhältnisses unterschied. Für Morosow und die Klasse stellte sich der pädagogische Bezug als ein Bildungserlebnis dar, das auf Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit beruht: "Unter solchen Freuden und Vergnügungen und schnellen Fortschritten im Lernen wurden wir mit Lew Nikolajewitsch ein Herz und eine Seele. Ohne ihn war die Welt uns leer, und auch er konnte nicht ohne uns sein. Wir waren unzertrennlich, und erst tief in der Nacht gingen wir von ihm fort" (ebd., S. 47).
Bildung wird für Tolstoi zu einem gemeinsamen Erlebnis, zu einem Stück Leben mit dem Ziel, es erfahrbarer und begreifbarer zu machen. Die traditionelle Lehrerrolle verliert in Jasnaja Poljana an Dominanz, bilden und lehren kann nur der, der vom Lernenden akzeptiert wird. Die Lehrerrolle muß sozusagen delegiert, von den Betroffenen zugeschrieben werden. Tolstoi bemerkt hierzu: "Die Freiheit, plötzlich vom Unterricht wegzulaufen, ist etwas Nützliches und Notwendiges, und zwar nur als Mittel, den Lehrer vor den äußersten und gröbsten Fehlern zu bewahren" (Tolstoi 1976, S. 15).
Demokratie in der Schule bedeutet für Tolstoi, Selbstbestimmung von Lerninhalten durch die Schüler und ein dialogisches Verhältnis in der Lerngemeinschaft. Daß die Schule Tolstois jedoch nicht nur die Lust am Lernen erhöhte, eine angenehme Atmosphäre schaffte, sondern auch mit Lernerfolgen verbunden war, dies beschreibt Morosow in einem Abschnitt, als seine Klasse ein Wettrechnen mit Gymnasiasten aus Tula veranstaltete: "In allem, was in unserer Schule gelernt wurde, maßen wir uns mit den Gymnasiasten und standen in keinem Gegenstand den Stadtherrlein nach. Wir verabschiedeten uns von ihnen freundschaftlich, als Gleichgestellte, und Lew Nikolajewitsch war sowohl mit uns wie auch mit ihnen zufrieden. Nur sagte er, als sie fort waren: 'Sollen einmal nachdenken’" (Morosow 1919, S. 68).
Ein zentrales Bildungsmittel für Tolstoi ist das Gespräch, nicht die Belehrung oder Unterweisung, nicht der didaktisch aufgearbeitete Stoff. Bei ihm wird Bildung zum Dialog. Diese Bildungsgespräche fanden statt beim Schwimmen, Schlittschuhlaufen, Reisen und Wandern, aber auch im Unterricht selbst, wenn es um Rechnen, Schreiben usw. ging. Sie waren scheinbar zufällig, knüpften an spontane und momentane Stimmungen der SchülerInnen an, wurden von Tolstoi aufgegriffen. fortgeführt, prägten entscheidend das Klima der Schule und wurden auf diese Weise Ausdruck von Alltag, von Leben und von Begegnung.
Bildung als Begegnung von Menschen zum Zweck der Emanzipation, nicht als Akt der Formung - dies ist Tolstois Botschaft aus Jasnaja Poljana.
Bildung, Freiheit, Erfahrung
Für eine Geschichte der Alternativpädagogik ist bezüglich Tolstoi festzuhalten, daß es ihm nicht nur um die Trennung von Bildung und Erziehung geht. Es ist vor allem der Zusammenhang von Bildung, Freiheit und Erfahrung, den er als eine Einheit versteht.
Tolstoi wird damit zum Mentor einer libertären Alternativschulbewegung, dessen Spuren wir bis in die Gegenwart hinein verfolgen können, z.B. mit der "First Street School" von George Dennison in New York 1964/65. Er propagierte eine freie Schulordnung, die zum Maßstab für ein freiheitliches Lernen in Institutionen wurde und versuchte, drei Leitideen miteinander zu verbinden:
- Bildung statt Erziehung
- Freiheit statt Zwang
- Erfahrung statt Dogma.
Der gesamte Text: http://www.graswurzel.net/270/tolstoi.shtml
Ich glaube, das es heute nur wenig anders ist, aber schon lange anders sein sollte. Noch heute werden Kinder fast mit militärischem Drill erzogen und aufs Gehorchen trainiert, ihnen wird beigebracht zu funktionieren und eigene Ideen lieber zu vergessen als durchsetzen zu wollen. Sie reagieren wie gut geölte Zinnsoldaten und zucken zusammen, wenn der Ton sich ändert.
Und ganz ehrlich, würden wir unsere Kinder heute so zuerziehen, wie der Staat mit seinen Bürger umgeht (Haftanstalten, Repression, Zwänge) stünde alsbald das Jugendamt vor der Tür und zwar zurecht, aber wie macht man es richtig: Ist Egalität ein sinnvolles Erziehungsziel, wenn es später nur mit den Ellenbogen weitergeht? Hat Moral im Kinderzimmer Platz?Tolstoi kommt damit nicht nur zu einer Kritik an der bestehenden pädagogischen Praxis, sondern ebenso zu einem theoretischen Konzept. Er verbindet seine Pädagogik mit einer Gesellschaftskritik, die deutlich zum Ausdruck kommt, wenn er fragt: "Woran liegt es, daß es eine Erziehung gibt? Wenn eine so unmoralische Erscheinung, wie Zwang in der Bildung, d.h. Erziehung (Tolstoi unterscheidet zwischen 'Bildung’ als freien Unterricht und ,Erziehung’ als Zwangsmaßnahme; U.K.) Jahrhunderte existieren kann, so muß die Ursache dazu in der menschlichen Natur wurzeln. Diese Ursache glaube ich zu entdecken, erstens in der Familie, zweitens in der Religion, drittens im Staat und viertens in der Gesellschaft" (Tolstoi 1907, S. 157). Tolstoi erweist sich hier als ein ideologiekritischer Pädagoge, dem es darum geht, Strukturen einer autoritären Erziehungswirklichkeit zu entlarven. Gleichzeitig versteht er Pädagogik als eine auf Erfahrung aufbauende Wissenschaft, die sich nach dem Grundsatz der Freiheit und Herrschaftslosigkeit neu konstituieren muß.