Seidenraupe hat geschrieben: ↑Mittwoch 21. Dezember 2022, 13:37
Also ich sehe das für Berlin ganz anders. Wir hier , das rot-grün-rote Berlin und dort der Rest der Republik.---
Nee.

Berlin ist in großen Teilen ausgesprochen konservativ. Auch wenn sich das nicht direkt in dem Maße in Wahlergebnissen widerspiegelt.
Das spielt hier auch keine Rolle weiter.
Das "System Orbán" funktioniert unter anderem über dieses Netz von Fidesz-Leuten in den regionalen Zentren. Das meine ich mit Lokalpatriarchentum. Das muss nicht unbedingt Korruption in rechtlichem Sinne sein. Jeder Staat, jede Regierung hat die Möglichkeit,
Förderungen so oder auch so zu vergeben. Je nach Loyalität.
Die (vielleicht, hoffentlich) auch rechtlich relevante Korruption findet z.B. im verwandtschaftlichen Umfeld Orbáns statt. Dasser rechtlich nicht belangt wird dürfte nicht zuletzt an diesem zurecht von "Brüssel" beanstandetem Rechtsstaatsabbau liegen.
Und da haben wir interessanterweise den direkten Vergleich zum Nachbarland Österreich. Das "System Kurz" war nicht im mindesten weniger korrupt als es das "System Orbán" bis heute ist. Nur: Es gibt zwei sehr wesentliche Unterschiede: Erstens hat die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft Österreichs Herrn Kurz wegen Untreue, Bestechung und Bestechlichkeit zu fassen bekommen. Und mittlerweile ist dieser Herr politisch in der Versenkung verschwunden. Der Rechtsstaat!
Und zweitens: Gibt es in Österreich eine nach wie vor unabhängige Presselandschaft. Mit herausragend guten Einzelbeispielen ("Der Standard" zum Beispiel). Die gibts in Ungarn wegen der Einschränkung der Pressefreiheit nicht (mehr). Und damit zurück zum Thema. Die Presse in Ungarn ist selbstverständlich auch betroffen von den überall in der Welt laufenden Verschiebungen in der Medienlandschaft. Aber dennoch. Es ist wirklich krass. Noch zu sozialistischen Zeiten, während der Kádár-Ära konnte man ab Anfang, Mitte der 80er Jahre an den Zeitungskiosken auf den drei großen Bahnhöfen in Budapest eine sehr große Auswahl von internationalen Presseerzeugnissen erwerben. Von der "New York Times" bis zur "Prawda", vom "Spiegel" bis zum "Neuen Deutschland" und vom "Guardian" bis zur "Népszabadság". Ich wäre manchmal fast von Ost-Berlin mit dem Zug nach Budapest gefahren, hätte einen ganzen Tag espressotrinkend und zeitunglesend auf dem Bahnhof verbracht und wäre abends wieder zurückgefahren. (Wenn ichs mir hätte leisten können). Was da heute auf diesen Bahnhöfen an dem verblieben ist ... ist ein kümmerlicher Rest. Es gibt einige ganz wenige ungarische - und natürlich regierungstreue - Tageszeitungen. Und ansonsten sehr viel Küchentipps, Wohnraumgestaltung, Sport und natürlich Yellow Press. Man muss die ungarische Presselandschaft schon ziemlich gut kennen, um die wenigen verbliebenen nichtlinientreuen Erzeugnisse mit einer sehr überschaubaren Leserschaft zu kennen. "Magyar Narancs" ("Ungarische Orange") zum Beispiel. magyarnarancs.hu Die aktuelle Ausgabe prognostiziert im ersten Artikel zum Beispiel einen Anstieg der Lebensmittelpreise 2023 um etwa 42 Prozent. Das ist oder wäre in der Tat "brutal". Das andere Beispiel ist "Élet és Irodalom", "Leben und Literatur".
Aber gut. Das Internet ist unzensiert. Natürlich findet dort alles mögliche statt. Nur Orbán bleibt dennoch unbehelligt. Das verwundert einen auch nicht. Wenn dieser Mann in der internationalen Politik, sofern sie irgendwie rechtskonservativ-nationalistisch ausgerichtet ist, fast sowas wie ein Rollenmodell geworden ist.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)