Jetzt kommt das richtige Erdbeben:
Nicht nur in der Bremer Asylstelle ging es zu wie im Tollhaus. Das ganze Bamf steht unter Druck
Chaoswochen im Bamf, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Die Vorwürfe reichen von "Durchwinken" bis "Fälschung". In zehn Außenstellen wird ermittelt – die Schockwellen erschüttern die Republik.
Ist ein langer Artikel, deswegen nur ein paar Ausschnitte:
Die Mitarbeiter waren schockiert. Doch am nächsten Morgen kam es noch schlimmer. Bei Dienstantritt bemerkten sie: Die Blumentöpfe stehen anders. Jemand war an den Computern. In einer Blitzaktion hatten der kommissarische Leiter des Amts und zwei IT-Experten ihre Büros durchsucht. Eine von der eigenen Behörde verfügte Aktion. Einige Mitarbeiter weinten. "In der Nacht! Als seien wir Verbrecher!" Einer sagt: "Und das nur, damit Nürnberg weiter Beweise verschwinden lassen kann."
Es ist dies der vorerst letzte Akt im Tollhaus des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, kurz Bamf. Die Vorstellung offenbart eine beispiellose Demontage von Moral, Recht und Gesetz. Und das nicht nur in Bremen. Von Bingen bis Bielefeld, von Dortmund bis Eisenhüttenstadt – in mindestens zehn Außenstellen gehen derzeit mehr als 70 Ermittler Verdachtsfällen von möglicherweise zu Unrecht bewilligten Asylanträgen und Amtsversagen nach. Das Epizentrum des Skandals liegt in Bremen. Doch seine Schockwellen erschüttern die gesamte Republik.
Wer hat wann was gewusst? Und wer trägt die politische Verantwortung?
Die ehemalige Außenstellenchefin Ulrike B. soll mit fünf Mitarbeitern "absichtlich Vorschriften missachtet" haben. Es geht um Bestechung. Und um Bestechlichkeit. Die Staatsanwaltschaft Bremen untersucht, ob die Beamten gemeinsam mit Anwälten "bandenmäßig" zusammengearbeitet haben. Die Strafverfolger ermitteln in mindestens 1176 Fällen.
Im Zentrum der Bremer Geschehnisse steht zweifellos Außenstellenleiterin Ulrike B., 57. Außerdem spielten wichtige Rollen: ein ihr, wie man sagen könnte, zugeneigter Rechtsanwalt und verheirateter Vater von vier Kindern. Und Mitarbeiter, die in einer Mischung aus Gehorsam und Verzweiflung einem Treiben zusahen, dessen Tragweite sie in Mails zu fassen versuchten, die dem stern vorliegen. Mails, die längst im Haus kursierten, mit dem Betreff "Persönlich" oder "Wichtigkeit Hoch" oder dem unmissverständlichen Vermerk: "Ansonsten Leseverbot!"
Man ließ die Überforderung nicht nur geschehen, man sah sogar bewusst über frühe Hinweise auf behördliche Willkür im gesamten Bamf hinweg. Schon im Juli 2014 hatte der Leiter der Außenstellen Friedland und Oldenburg Alarm geschlagen und Listen mit – wie er befand – fragwürdigen Asylentscheidungen an die Nürnberger Zentrale geschickt. Im Januar 2016 gingen beim Ombudsmann des Bundesinnenministeriums Hinweise ein, dass es in Bremen nicht mit rechten Dinge zugehe. Im September 2016 beschwerte sich Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius bei dem damaligen Bamf-Chef Frank-Jürgen Weise darüber, dass die Bremer bereits veranlasste Abschiebungen verhindert hatten.
So konnte in Bremen über Jahre hinweg eine Frau die Außenstelle leiten, die offenbar nach ihren eigenen Vorstellungen Aufenthalt gewährte – oder versagte. Im Büro von Ulrike B. lagerten Akten, überall, in Regalen, in Kisten, im Panzerschrank. Die Schicksale minderjähriger "unbegleiteter" Flüchtlinge bearbeitete die Chefin persönlich; wie und in welcher Weise andere Anträge geprüft wurden, wird gerade ermittelt. Auf 17 Seiten der Innenrevision des Bundesamts vom 11. Mai 2018 ist zu lesen, dass drei Rechtsanwälte aus dem Norden von Januar 2013 bis November 2017 für 4568 "Fälle" Mandate hatten: Sie vertraten vor allem Jesiden – oder Menschen, die sich als solche ausgaben. Von diesen Verfahren wurden allein 1371 in der Bremer Außenstelle entschieden. Und 97 Prozent der Entscheidungen fielen "positiv" aus.
Heute werden 73 Prozent der Fälle einer Stichprobe in Bremen als "nicht plausibel" bezeichnet.
Die Behördenleiterin mischte sich wohl auch in die Kleiderwahl der Mitarbeiterinnen ein und verlangte, sich möglichst bedeckt zu halten. Keine schulterfreien Tops, keine kurzen Röcke, der Ausschnitt nicht zu tief. Und mit Rücksicht auf arabische Männer sollten auch die Fußknöchel nicht sichtbar sein. Unterwerfung statt Integration.
An einem Freitag im Mai 2016 verwandelt sich das Misstrauen der Mitarbeiter schließlich in Wut. An jenem Freitag bat Ulrike B. ihre Leute wieder mal um die Erledigung eines "Spezialauftrags". Es hätten sich Antragsteller aus Nordrhein-Westfalen angekündigt, sie kämen in Bussen. Da diese Menschen noch am gleichen Tag zurückfahren mussten, waren diese Anträge natürlich am Freitag allesamt aufzunehmen, berichtet eine Mitarbeiterin. Auch andere Kollegen erinnern sich. "Tatsächlich kamen dann oft am Freitag Busse mit Asylbewerbern. Es waren, darüber haben wir uns gewundert, alles Mandanten von Herrn Rechtsanwalt C." Die Sachbearbeiterinnen hätten wochenlang Überstunden machen müssen, um alle Akten anzulegen. Irgendwann habe eine Sachbearbeiterin laut gefragt: "Warum sind das alle Mandanten von Herrn C.? Und seit wann sind wir für Nordrhein-Westfalen zuständig?" Martina W., die engste Freundin der Chefin im Amt, sei "mit hochrotem Kopf aufgesprungen" und habe sie angefahren, sie müsse lernen, "die Klappe zu halten".
Denunziation und Selbstschutz. Hans-Peter L. beschreibt das Bremer Tollhaus in 19 Punkten. Er führt außerdem aus, dass er Ulrike B. geraten habe, alle Mails von C. zu löschen. Das sei ein goldener Hinweis von ihm gewesen. Dafür habe sich Ulrike B. mehrmals in größerem zeitlichem Abstand bedankt,
Dem Bundesministerium des Innern würde diese Geschichte im Vorwahlkampf überhaupt nicht gefallen. Und außerdem: Ulrike B. schwöre bei solchen Vertrauensbrüchen immer Rache.
"Eine Vielzahl der Anhörungen waren zu beanstanden." Offenbar konnten die Asylbewerber tatsächlich erzählen, was sie wollten. "Gezielte und kritische Nachfragen zum vorgetragenen Verfolgungsschicksal wurden in den Anhörungen oft nicht gestellt." Nicht mal, wenn die Asylbewerber im ersten Verfahren angaben, Jesiden zu sein, und im Folgeantrag plötzlich Christen sein wollten, hatte das Konsequenzen. "Eine Identitätsfeststellung" erfolgte "nur sehr selten".
Läse man so etwas in einem rechtsradikalen Internetforum, täte man es vielleicht als Propaganda ab. In Bremen schien dies tatsächlich Programm.
https://www.stern.de/politik/deutschlan ... 14946.html
Unglaublich sowas. Dabei geht es hier nicht um Südamerika in den 70ern, sondern um Deutschland 2018.
"Sie verbieten nicht die Hassrede. Sie verbieten die Rede, die sie hassen"