in vergangenen Tagen fiel mir im PF und auch einigen Zeitschriften auf, dass oft auf Martin Schulz' "fehlendes" Abitur hingewiesen wird, da er 1974 ein katholisches Gymnasium mit der Mittleren Reife verließ, "nur" eine kaufmännische Lehre absolvierte und anschließend ein Unternehmen gründete. Beispiele werden hier genannt:
Kanzler ohne Abitur? Aber klar!
Nun wird Martin Schulz also Kanzlerkandidat. Schon bevor das offiziell klar war, kam es zu einer Diskussion über seine Befähigung. Das zeugt von einem Elitedenken, das brandgefährlich ist.
http://www.stern.de/politik/deutschland ... 27876.html
Schaut man sich aber nicht beim Durchschnittsbürger (der kein Abi/Studium vorweisen kann) um, sondern im "Establishment", dann ist er damit die Ausnahme. Im Bundestag, der repräsentativ sein sollte, haben über 90% der Abgeordneten einen Hochschulabschluss (exkl. entzogenen Doktorgraden), in der Bundesregierung jeder und davon viele mit Promotion (https://www.welt.de/politik/deutschland ... glich.html). Auf Landesebene erreich(t)en einige Leute aber auch ohne Studium höhere Ämter, z.B. Horst Seehofer, Michael Müller, Kurt Beck und Bodo Ramelow. Das war früher anders; unter Brandt, der kein Studium abschloss (aufgrund der NS-Zeit), war noch rund das halbe Bundeskabinett von Nicht-Akademikern besetzt und waren damit (nur auf Bildungszertifikate bezogen) dem Normalbürger näher. Die Präsidenten Scheel und Gauck kamen auch "ohne" aus.
Damit unterscheiden sich die heutigen Spitzenpolitiker ziemlich vom Bundesdurchschnitt. Unter den Beschäftigten haben zwischen 6,8 (Schleswig-Holstein) und 15,2 Prozent (Berlin) einen akademischen Abschluss (https://de.statista.com/statistik/daten ... ifizierte/). Unter jüngeren Deutschen erlangen "nur" 27% der 25- bis 34-Jährigen einen akademischen Grad und somit ist dies auch heute eine Minderheit (http://www.spiegel.de/lebenundlernen/un ... 13694.html). Gleichzeitig können selbstverständlich Nicht-Akademiker wünschen, dass bspw. das Bundesverkehrsministerium von einem studierten Soziologen und das Bundesverteidigungsministerium von einer promovierten Medizinerin geführt werden (sorry), während eine Marine Le Pen vor Wut tobt, weil ihr Konkurrent Macron in Berlin mit Studenten fließend auf Englisch diskutierte und man Sprachkenntnisse nicht als Plus-, sondern Minuspunkt sieht (http://www.politico.eu/article/marine-l ... g-english/). Ein Schulz, der sechs Sprachen fließend spricht, wäre da wohl ein absolutes No-Go. (Für FN-affine AfD-Fans ein kleines Dilemma: Petry studierte einige Jahre in England und spricht die Landessprache fließend)
Lange Rede, mehrere Fragen: sind Abi und Studium für Politiker aus Eurer Sicht Pflicht bzw. berücksichtigt Ihr bei der Wahl von Direktkandidaten respektive Parteien/Spitzenkandidaten, welchen Abschluss jemand in den 1970ern (nicht) erlangt hat? Oder zählen für Euch andere Punkte im Lebenslauf, z.B. wirtschaftliche Aktivitäten, religiöse Zugehörigkeit, politische (Miss-)Erfolge, Lieblingsfußballverein, soziale Herkunft, Familie/Ehe/Kinderzahl etc. mehr?
Und wie seht Ihr es mit dem häufigen Ruf nach einem besseren Ansehen der Berufsausbildung und einem Geklage einer Überakademisierung, die ja sehr oft von Akademikern angeführt wird (http://www.tagesspiegel.de/wissen/neue- ... 08342.html)? Gilt das auch für Politiker?

(falls die Mods einen geeigneteren Ort sehen, bitte Strang verschieben, ob nach 20, 22, 5, 8, 9 oder sonstwas)