Genauso wie die Freiwilligen, die de facto einige Funktionen des Staates übernommen haben, zum Beispiel die Aufgabe, die Kampffähigkeit der Streitkräfte zu gewährleisten.
Bürger sorgen dafür, dass die Armee Nahrung bekommt
Das ist ein wesentliches Merkmal der neuen ukrainischen Gegenwart: Es entsteht eine "Volksarmee", weil ein Teil der ukrainischen Gesellschaft begriffen hat, dass niemand außer den Ukrainern ihre Armee versorgen kann. Das klingt ungewöhnlich für den westeuropäischen Leser, aber für uns Ukrainer ist es leider Realität: Bürger sorgen seit Monaten dafür, dass die Armee etwas zum Essen und zum Anziehen hat, sie spenden, was sie können, von Unterwäsche bis zu Panzertransporten (jaja, es stellt sich heraus, dass es in der Ukraine Menschen gibt, die in der Lage sind, dem Militär einen gepanzerten Wagen zu schenken). Das sagt mehr über den Zustand der Gesellschaft aus als die Verlautbarungen der Regierung. Es hat sich in dieser Gesellschaft etwas so stark verändert, dass man es nicht mehr übersehen kann.
Wir, die Bürger dieses Landes, sind es gewohnt, in permanenter Opposition zur Macht zu leben, zur Staatsmaschinerie. Die Politik hat uns nie besonders gefallen. Die meisten Ukrainer haben all die Jahre zwar ihr Land geliebt, aber keine Sympathien für ihren Staat gehegt. Wir wussten um die Kampfuntauglichkeit unserer Armee, aber wozu braucht man eine Armee, wenn man nicht vorhat zu kämpfen? Wir verstanden, wie tief unsere Polizei korrumpiert ist, aber irgendwie erwartete eh keiner, dass die Polizei einem hilft. Wir ahnten, dass unsere Grenzen auf eine Art geschützt werden, die vor allem diejenigen ernähren soll, die diese Grenzen schützen. Wir wussten mehr als genug über unsere Politiker, unsere Richter, unsere Staatsanwälte. Über unsere Staatssicherheit, unsere Staatsmedien, unsere Steuerämter.
Wir wussten alles über diesen Staat, und genau deswegen gefiel er uns nicht. Deswegen begann die Revolution auf dem Maidan. Denn was bedeutet diese viel beschworene "Annäherung an Europa" für die Ukraine? Sie bedeutet die beinahe einzige Gelegenheit, diesen Staat zu ändern, seine Mechanismen umzukrempeln, für Transparenz und Gerechtigkeit zu sorgen.
Und heute stellt sich heraus, dass außer uns niemand diesen Staat schützen kann. Es stellt sich heraus, dass es kein Problem ist, über unsere Grenze zu marschieren und Krieg in unserem Land zu führen. Und zum ersten Mal keimt das Bewusstsein, dass wir unser Land und unsere Freiheit selber verteidigen müssen. Krieg raubt dir nicht immer dein Leben, aber er raubt dir immer deine Illusionen. Man kann nur bedauern, dass vieles für uns erst dann offensichtlich wird, wenn Städte zerstört und Menschen getötet werden.
Zur Person: Der Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan, geboren 1974, lebt in Charkow. Für seinen Roman "Die Erfindung des Jazz im Donbass" (Suhrkamp) erhielt er im Juli den Literaturpreis "Brücke Berlin".
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