Atue » Mo 16. Sep 2013, 22:18 hat geschrieben:Gleich Vorneweg: Ich halte nichts aber auch gar nichts von Pädophilie - und ich bin der festen Auffassung, dass die Grünen in der Anfangszeit ihrer Gründung zeitweilig hier aus gesellschaftlichen Gruppen gefischt haben, bei denen aus heutiger Sicht völlig klar ist, dass das gesellschaftlich gar nicht geht, dass es sich auch um Straftatbestände handelt.
Allerdings möchte ich folgenden Einwurf bringen:
Wenn wir über Fragestellungen aus dem Jahr 1980 reden wollen, dann sollten wir uns den gesellschaftlichen Kontext aus dem Jahr 1980 ebenfalls anschauen. Es waren im Prinzip die Spät-68er, die jetzt massiv in die Mitte der Gesellschaft gedrängt haben. Über Sexualität wurde deutlich freier geredet, als in den Jahrzehnten zuvor. Der Beginn des Endes der Ausgrenzung von Homosexuellen zeichnete sich ab. Die Gleichstellung der Frauen war ein tägliches Thema.
In diesem Umfeld wurde gleichzeitig über Pädophilie gesellschaftlich wenig geredet. Viel geredet wurde statt dessen über Verhältnisse, die vor harten Richtern gelangten, bei denen aber die eigentlich Beteiligten die Dinge anders gesehen haben.
Da ging es auch um Verhältnisse zwischen Lehrern und Schülern - wo ganz klar war, dass der Schüler das Verhältnis zum Lehrer aktiv gesucht hat, und sich dann auch beide ganz klassisch ineinander verliebt haben. DIESE Seite der Debatte wurde öffentlich thematisiert - das Thema das Pädophilie als Ausnutzungsverhältnis des Pädophilen gegenüber seinem schutzbefohlenen Schüler hingegen wurde nicht wirklich in Frage gestellt.
Das Menschenbild in dieser Zeit war doch etwas anders als heute. Die Sicherheit im Umgang mit Themen wie dem der Pädophilie war nicht so arg ausgeprägt. Typisch war vielmehr, dass sich klassische Lager gegenüberstanden - also beispielsweise das Lager der Unbelehrbaren Erzkonservativen, für die schon das Arbeiten von Frauen eigentlich ein Tabubruch war - und auf der anderen Seite die "Revolutionäre", die unsere Gesellschaft von solcherlei Zwängen befreien.
Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten 30 Jahren mit den Themen rund um Sexualität, Neigungen und Vorlieben und auch abnormalen Ansätzen deutlich beschäftigt - und inzwischen ein Rechtsverständnis entwickelt, welches weit ausgeprägter ist, als es noch 1980 war. Während konservative Wählerschichten inzwischen kaum mehr ein Problem mit einem homosexuellen Bürgermeister haben, wird in linken Wählerschichten deutlich differenzierter das Thema der sexuellen Freiheit und Freizügigkeit behandelt.
Es hat sich also etwas gewandelt in Deutschland - und im Rahmen dieses Wandels wurde es auch selbstverständlich, dass demokratische Parteien pädophile Neigungen ablehnen, genauso wie die Gleichberechtigung selbstverständlich gefordert wird, und Homosexualität nicht mehr als Hinderungsgrund begriffen wird, ein öffentliches Amt zu bekleiden.
Natürlich wird in der jetzigen Berichterstattung im Wahlkampf dieser Wandel an Werten nicht betrachtet - das wäre auch zu kompliziert, und passt nicht mehr in die reisserische Überschrift eines Tagesthemas.
Ich kann aus dieser Zeit mich aber noch ganz klar an Erlebnisse erinnern, wie wir in unserem Politik-Leistungskurs über solche Themen diskutiert haben. Nicht die Mißbrauchsfälle standen im Mittelpunkt der Diskussion - es erschien uns regelrecht absurd, dass wir Schüler die Opfer sein sollten! Vielmehr stand im Mittelpunkt das Erlebnis, dass eine Sehnsucht zu älteren Menschen, die ja oft auch nur 5-10 Jahre älter waren (Referendare eingeschlossen) dazu führten, dass eine Liebesbeziehung kriminalisiert wurde.
Ich bin kein Grüner - und es ist mir klar, dass im Wahlkampf solche Punkte genüsslich ausgeschlachtet werden. Mir ist aber auch klar, dass eine Diskussion über solche Themen von 1980 nicht wirklich vernünftig geführt werden können, wenn man sich nicht in den typischen Zeitgeist von 1980 zurückversetzt. Und dieser Zeitgeist war keiner, der die Pädophilie in ihrer krankhaften Ausprägung betrachtet hat, sondern das war ein Zeitgeist, der das Thema Sexualität ausreichend unreflektiert unkritisch aus Sicht derer betrachtet hat, die dann doch auch Opfer einer Justiz wurden, obwohl sich die Beteiligten einig waren in ihrer auch körperlichen Sehnsucht zueinander.
Betrachtet man die Aktion von Trittin in diesem Kontext - und nimmt man noch andere ganz reale Fakten aus 1980 hinzu, dann wird die Übernahme der Verantwortung im Sinne des Presserechtes durch Herrn Trittin zwar nicht besser, aber es wird leichter verständlich, warum so etwas passiert ist.
Spannend wäre nun, wenn nach dem Wahlkampf auch mal in aller Ruhe auseinandergenommen würde, welche heute gut positionierten Politiker aus dem etwas konservativeren Lager in dieser Zeit Programme verantwortlich veröffentlicht haben, die mit dem heute gültigen Recht der Gleichberechtigung von Homosexuellen nicht zu vereinbaren sind.
Ich will also das, was Herr Trittin gemacht hat, nicht rechtfertigen - aber bei der Diskussion darüber darauf hinweisen, dass man es im Kontext des Zeitgeistes betrachten muss, wenn man verstehen will, warum bestimmte Dinge 1980 im Grunde genommen normal und üblich waren.
Im Laufe eines Menschenlebens kommt fast jeder wohl ein oder mehrmals daran vorbei, dass ehemalige Meinungen nicht mehr der Realität stand halten! Wer das im Sinne der Politik nicht begreifen möchte, sollte sich mal die ersten Programme der CDU (!) nach dem zweiten Weltkrieg anschauen - da war noch von der Verstaatlichung der Schlüsselindustrien die Rede - etwas was man heute dem Linken Lager Gregor Gisys um die Ohren schlagen würde......
Nun hat die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien sicher einen ganz anderen Hintergrund als die scheinbare Verharmlosung der kriminellen Handlung der Pädophilie - aber trotzdem wird auch niemand bestreiten, dass sich gesellschaftspolitische Forderungen immer nur dann begreifen lassen, wenn man den Gesamtgesellschaftlichen Kontext mit einbezieht, in dem die entsprechende Forderung entstanden ist.
Nochmals - das macht Pädophilie nicht besser oder richtiger - aber ich halte den Grünen zu Gute, dass sie sich aktiv für die Verarbeitung der Vergangenheit einsetzen - und zwar sowohl für die Verarbeitung des Einflusses brauner Gesinnungsgenossen im Auswärtigen Amt/Dienst, als auch jetzt bei der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit der Grünen Partei.
Und nein - ich bin nicht der Meinung, dass ein Jürgen Trittin mit seiner Lebenserfahrung von heute und seinem Werdegang der letzten Jahrzehnte von irgendetwas zurücktreten muss, nur weil er in sehr jungen Jahren mal einen Fehler gemacht hat, ein in Details zweifelhaftes Programm einer aufstrebenden politischen Gruppierung als VIDSP zu unterschreiben. Es war ein Fehler - vor allem aus heutiger Sicht - aber auch ein Fehler eines jungen Menschens, der heute zu diesem Fehler steht. Damit ist dies aus meiner Sicht völlig ok.
Ich würde Frau Merkel auch nicht ihre Vergangenheit in den östlichen Blockflötenparteien vorhalten, sondern sie daran messen, für welche Politik sie HEUTE steht.