schelm » Sa 29. Dez 2012, 12:32 hat geschrieben:
Die Herrschaftsform wäre der islamische Gottesstaat. Wozu gibt es denn eine - wie auch immer modifizierte - Scharia, wenn deren Gesetze nicht gesellschaftlich verbindlich sein sollen ? Was die Wirtschaftsform betrifft, so schließt ein Zinsverbot bereits einige Wirtschaftsformen aus ...
Freundliche Grüße, schelm
Der Gottestaat ist eben eine Erfindung der Islamisten, die sich im 20. Jahrhundert moderner Ideologie befleissigten.
Die traditionelle islamische Vorstellung ist, das es keinen Gottesstaat geben kann, denn Mohammed ist das Siegel der Propheten und einen Staat nach göttlicher Ordnung kann nur der "Erlöser" nach dem Tag des jüngsten Gerichts errichten.
Jeder Mensch würde es falsch machen und zum Blasphemiker und Verbrecher werden, denn nur Gott und der Prophet können den Koran und die Botschaft Gottes korrekt umsetzen.
Daher wurde die Vorstellung eines Gottesstaates immer abgelehnt, bis Khomeini und Co. kamen und auch diese wurden von den traditionellen Ulama (Religionsgelehrten) strikt abgelehnt, setzten sich aber aufgrund der politischen Lage und ihrer Agitation durch.
Das passende Zitat hier nochmal, vom Ayatollah Borudscherdi, der Khomeinis Vorgänger war und auch Marja e taqlid (Quelle der Nachahmung), d.h. in der Rangordnung eine höhere Stufe als Khomeini erreicht hat.
Wir, die Geistlichkeit, sollen einen islamischen Staat gründen ? … Wir wären hundertmal größere Verbrecher als die, die jetzt an der Macht sind.[12]
http://de.wikipedia.org/wiki/Husain_Borudscherdi
Khomeini sagte später über die traditionell orientierten Gelehrten, die den Gottesstaat ablehnten:
„Denn sie bilden ein Hindernis auf dem Wege unserer Reformen und unserer Bewegung. Sie haben uns die Hände gebunden. Im Namen des Islam fügen sie dem Islam Schaden zu.“
Dies betrifft die Schia. Bei den Sunniten fehlt eine ähnliche Vorstellung vom Gottesstaat bis heute gänzlich. Sie lehnen das Konzept des Velayat e faqih (Die Herrschaft des Rechtsgelehrten, der die "Stellung" stellvertretend hält, bis der Mahdi kommt) gänzlich ab.
Da gibts nur Gruppen wie z.B. die Hizb ut Tahrir, die eine Rückkehr zum Kalifat anstreben, allerdings eine ziemlich kleine Randgruppe, auch unter Islamisten sind. Aber selbst deren Vorstellung entspricht nicht der eines Gottesstaates, sondern lediglich der Wiedereinführung des Kalifats unter Herrschaft eines rechtgeleiteten Kalifen, der aus der Verwandtschaftslinie Mohammeds entstammt. Aber unter Muslimen ist selbst dieses Konzept bereits seit Entstehung des Islams umstritten, daher die Spaltung von Sunniten und Schiiten.
Und auch das kommt keinem Gottesstaat gleich, denn die Herrschaft der Kalifen war zumeist realpolitisch säkularisiert, bzw. pragmatsich.
Gottesstaat ist da ein klischeebeladener Begriff aus europäischer Sicht der ein wenig die stereotypische Sicht auf die gesamte Region dort unten widerspiegelt, ohne wirklich ins Detail zu gehen.
Die Osmanen-Sultane verfuhren also in ihrer Gesetzgebertätigkeit wie säkulare Herrscher, auch wenn die religiöse Theorie das nicht wahrhaben wollte.
Wir sollten überhaupt vermeiden, die Theorien der islamischen Religionsgelehrten, der ulama, mit der historischen Wirklichkeit zu verwechseln. Die Säkularisierung des Staates hat auch in der Geschichte der islamischen Völker selbst weit zurückreichende Wurzeln, auch wenn die modernen islamistischen Ideologien dies vehement bestreiten. Der 1966 in Kairo hingerichtete Sayyid Qutb, einer der Väter des modernen Islamismus, hat das, wenn auch widerstrebend, dadurch anerkannt, daß er alle politische Herrschaft seit der Machtübernahme der Omaijaden im Jahre 660 für unislamisch, ja für heidnisch erklärte - eine radikale Verwerfung von fast 1400 Jahren einer reichen islamischen Geschichte.
http://www.uni-tuebingen.de/orientsem/damha3.htm
Der Gottesstaat et al ist also mitnichten eine im Islam grundsätzlich verankerte Form der Vorstellung von Herrschaft, sondern eine Idee die aus der Symbiose moderner Ideologien mit revolutionärem Gedankengut entstanden ist.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass ein Fundamentalismus, wie ihn al-Kaida vertritt, mit der islamischen Tradition nichts zu tun habe. Aber in Europa sieht man die fundamentalistische Ideologie nachgerade als Essenz eines traditionsgebundenen Denkens. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?
Roy: Der Terrorismus, den al-Kaida praktiziert, ist in der islamischen Geschichte ebenso unbekannt wie in der christlichen. Das ist auf jeden Fall ein neues Phänomen. Und wenn wir seine Manifestationen betrachten – Selbstmordattentate, die Ermordung von Geiseln, das Töten von Zivilisten –, dann sind das Methoden, die in jüngerer Zeit andere Organisationen noch vor al-Kaida zur Anwendung brachten: Die Tamil Tigers etwa verübten Selbstmordattentate, italienische Rechtsextreme waren für die Bombenattentate in Bologna vom August 1980 verantwortlich; und in den Videoaufnahmen von der Ermordung ausländischer Geiseln durch die Kaida im Irak gleicht die «Inszenierung» bis ins Detail der Ermordung Aldo Moros durch die Roten Brigaden: Banner und Logo der Organisation im Hintergrund, die Geisel gefesselt und mit verbundenen Augen, die Durchführung einer «Gerichtsverhandlung» durch die Militanten, dann die Verhängung des «Urteils» und die Exekution. Der Modus Operandi und die Organisationsform von al-Kaida, das zentrale Feindbild des amerikanischen Imperialismus wie auch die auf junge, im Westen ausgebildete Muslime und auf Konvertiten ausgerichtete Rekrutierungspraxis – all das verweist darauf, dass al-Kaida nicht einfach Ausdruck eines traditionellen, ja nicht einmal eines fundamentalistischen Islam ist; sondern vielmehr eine neue Auffassung des Islam im Kleid westlicher, revolutionärer Ideologien.
http://erenguevercin.wordpress.com/tag/olivier-roy/
Das Zinsverbot schliesst keine Wirtschaftsform aus, sondern nur einen Teilaspekt einiger.
Kapitalismus, wie Sozialismus und alles dazwischen sind vereinbar mit islamischen Vorstellungen, was belegt wird durch die Existenz von Islamisten die sowohl kapitalistisch (AKP) als auch planwirtschaftlich argumentiert haben (Iran
http://en.wikipedia.org/wiki/Iqtisaduna).
Die Scharia ist ein weites Feld und Subjekt lebhafter Kontroversen innerhalb der islamischen Welt, sie kann keinesfalls als Gesetzeswerk oder Verfassung betrachtet werden die alle Bereiche des Lebens regelt, auch hier sollte man nicht die Theorie einiger Extremisten mit der tatsächlichen Geschichte oder Gegenwart verwechseln.
Die Mehrheit der Muslime wünschen sich freiheitliche Verfassungen für ihre Länder, die demokratisch sind. Dies ist durch eine repräsentative Gallup Umfrage belegt die über einige Jahre hinweg 50.000 Muslime in islamischen Kernländern befragt hat. Die Aussagekräftigste Studie die es bislang zu dem Thema gibt:
Oder dies: Muslime in zehn arabisch-islamischen Kernstaaten gaben zu Protokoll, was sie am „Westen“ am meisten verehrten: Technologischer Fortschritt steht da an erster Stelle, dicht gefolgt von der freien Meinungsäußerung, der freien Ausübung der Religion und der parlamentarischen Demokratie, die sich auf eine Verfassung stützt.
„Die Muslime wollen Selbstbestimmung, kein US-gesteuertes und -definiertes Demokratiemodell. Sie wollen weder Säkularismus noch Theokratie. Die überwältigende Mehrheit aller Muslime will ein demokratisches System mit religiösen Grundwerten“, erläutert John Esposito.
Interessanterweise aber lehnen die meisten Befragten es ab, dass ihre religiösen Führer an der etwaigen Ausarbeitung einer Verfassung beteiligt werden. Sie wollen auch nichts hören von arabischem Nationalismus oder arabischem Sozialismus, die Esposito „tote Ideologien“ nennt und auf die sich selbst Al-Qaida-Chef Osama Bin Laden und sein Stellvertreter, der Ägypter Aiman al-Sawahiri, in ihren Videobotschaften nicht berufen.
http://www.welt.de/politik/article17797 ... Werte.html
Die Realität ist deutlich facettenreicher als solche vereinfachten Thesen, vom Muslim als Korandrohne, der europäischen Klischeevorstellungen davon entspricht wie der Islam in seinem Wesen ist oder angeblich sein soll.