Zunächst einmal halte ich die Wirkung der sich verändernden Arbeitswelt durch KI, Maschineneinsatz etc. für überschätzt. Im Zeitraum 1991 bis 2019 ist die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden in Deutschland von 60,4 Mrd. auf 56,3 Mrd. h in 2005 zurückgegangen, steigt aber seitdem wieder bis 2019 auf 62,6 Mrd. h je Jahr. Die Rationalisierung von 1991 bis 2019 hat also nicht dazu geführt, dass massenhaft bezahlte Arbeit weggefallen ist, vielmehr wurden lediglich einige Arbeitsplätze wegrationalisiert, andere aber sind auch ganz neu entstanden. (1991 gab es noch nicht mal ein Smartphone!)
Die Produktivität ist über diesen Zeitraum um 30 Indexpunkte gestiegen.
Die Stunden je Erwerbstätigen je Jahr hingegen sind im Zeitraum um mehr als 10% im Schnitt gesunken. Das spricht klar dafür, dass Teilzeit zugenommen hat, und das weitere Teile der Bevölkerung nun zumindest in Teilzeit in Arbeit sind.
Die Herausforderungen in der Sozialpolitik wären damit überschaubar, wenn es nicht gleichzeitig eine Menge weiterer Herausforderungen gäbe.
Eine Herausforderung ist die Alterspyramide.
Eine andere die Zahl der Single-Haushalte, die im genannten Zeitraum von 34% auf 42% gestiegen ist.
Andere Herausforderungen liegen in den Urteilen des BVerfG welches immer wieder aufzeigt, dass das derzeitige System der Existenzsicherung an vielen Stellen nicht hinreichend gerecht organisiert ist.
Im Prinzip hat skull also völlig korrekt davon gesprochen, dass eine Alternative zum BGE ist, dass man das jetzige Sozialsystem grundsätzlich weiterführt, eventuell jeweils mit angepassten Reformen.
Welche Reformen hier realistisch anstehen, kann man ein wenig einschätzen, wenn man die politischen Wahlprogramme der größeren Parteien anschaut. Über die Jahre hinweg zeichnet sich ab, dass Hartz IV weiterentwickelt wird. Die größte Schwäche bei Hartz IV dürfte die faktische Unwirksamkeit der Sanktionen sein, gepaart mit den zu vielen erfolgreichen zahlreichen Prozessen, die wegen Hartz IV geführt werden. Hier zeichnet sich ab, dass etwas mehr Pauschalierung bei etwas großzügigeren Sätzen wahrscheinlich Gesamtgesellschaftlich günstiger ist, als das heutige System. Entsprechende Reformansätze in den Wahlprogrammen deuten darauf hin, dass dies so kommen könnte.
Aus der Kritik aus den Urteilen des BVerfG leitet sich ab, dass Veränderungen bei der Berechnung des Existenzminimums anstehen. Hier wird noch mehr zukünftig vereinheitlicht werden - es ist davon auszugehen, dass das Existenzminimum zukünftig zumindest innerhalb aller Sozialgesetzgebung einheitlich definiert wird, und ähnliches ist dann auch im Steuerrecht zu erwarten.
Eine weitere große Hürde bei Hartz IV ist derzeit, dass im Grenzbereich zwischen Hartz IV und Zuverdienst und schließlich Vollverdienst die Anrechnungsquoten von bis zu 90% dazu führen, dass sich arbeiten subjektiv für Betroffene nicht oder nur wenig lohnt. Auch dies ist in allen Parteien hinreichend bekannt - weshalb es wahrscheinlich dazu kommt, dass diese Hürde abgesenkt wird.
Ich tippe derzeit darauf, dass die nächsten 12 Jahre keine wesentlichen darüber hinausgehenden Reformen stattfinden werden, weil derzeit einfach andere Themen im Brennpunkt stehen. Kurzfristig ist es noch Corona, dann etwas länger der Umbau des Wirtschaftssystems auf die Herausforderungen des Klimawandels, und wesentliche Reformen im Sozialbereich erwarte ich erst danach. Spannend wird, ob die Krankenversicherung insbesondere die private Krankenversicherung an ihre Grenzen kommt und einen Reformstau loslöst - das könnte ggf. zu einer Vereinheitlichung beim System der Krankenversicherung führen - wobei ich es für völlig offen halte, ob es dann zu einer Bürgerversicherung oder zu einer Lösung mit einer Kopfpauschalen kommt.
In der Rente erwarte ich das Ende von Riester. Ich habe aber noch keinen Schimmer, was danach kommt. Denn faktisch machen zu wenig das wenig attraktive Riestern, das aber ist mittelfristig ein Problem, weil ohne Riester es zu Altersarmut kommen kann. Hier besteht Reformbedarf - mal schauen, was der Politik da noch einfällt.
Ganz gleich wie - ich sehe derzeit, dass es mehr und mehr gesellschaftlich zum Konsens wird, dass man die sozialen Fragestellungen einheitlich organisieren möchte. WENN man das tut, ist es eine konsequente Reform der bestehenden Systeme, aber gleichzeitig eine excellente Vorbereitung auf ein zukünftiges Szenario mit BGE.
Ich bin überzeugt, dass es am Ende auf ein BGE hinausläuft - dass es aber einen anderen Namen tragen wird, und dass es davor eine Menge Reformen gibt, die nur das bestehende Sozialsystem weiterentwickeln. Am Ende solcher Reformen aber steht dennoch ein BGE, auch wenn man es so nicht nennen wird, weil letzten Endes das BGE die konsequente Weiterentwicklung aus den heutigen Sozialsystemen heraus ist. DIESES BGE wird aber NUR die Existenzsicherung beinhalten!
Zeitdauer bis dahin: ich schätze mal 20-25 Jahre.
Quellen:
https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen- ... itsvolumen
https://www.tagesschau.de/inland/single ... k-101.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Smartphone