Um vielleicht wieder ein wenig auf das Thema zurückzukommen, möchte ich einen Artikel von Bernd Stegemann in der Welt teilen.
https://www.welt.de/debatte/kommentare/ ... esses.html
Stegemann ist Linker, aber er charakterisierte die Identitätspolitik sehr richtig in seinem Artikel:
WUTBÜRGER UND GUTBÜRGER
Identitätspolitik hat die Brutalität eines Hexenprozesses
Der Kleinbürger ist in seiner Ichbezogenheit der größte Fortschrittsfeind. Das zeigt sich nicht nur bei den „Querdenkern“, sondern vor allem bei den vermeintlich Progressiven. Aus richtigen Anliegen machen sie Identitätspolitik, aus Wehwehchen Weltkatastrophen.
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Kleinbürgerliche Ideologien zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus einer radikalen Vereinfachung der Gesellschaft zu einer simplen Unterscheidung von Gut und Böse kommen. In unserer Zeit haben sich die radikalsten Vertreter des neuen Kleinbürgertums die „bürgerliche Modeströmung“ des Antirassismus zu eigen gemacht. Die Folgen dieser Aneignung sind drastisch, und schon ein Beispiel zeigt, welcher Niedergang des aufgeklärten Denkens damit einhergeht. Robin DiAngelo schrieb 2018 in den USA einen Bestseller, der inzwischen auch auf Deutsch erschienen ist: „Wir müssen über Rassismus sprechen“. Gegen die Aufforderung im Titel ist nichts einzuwenden. Schlägt man hingegen das Buch auf, so empfängt einen kein Gespräch, sondern eine Bußpredigt. Die Prämisse ist so schlicht wie bösartig. Alle Menschen mit heller Haut sind Rassisten. Die Beweisführung dieser steilen Behauptung ist dann von radikaler Unlogik: Wer sich verteidigt, klagt sich an. Der absurde Zirkelschluss lautet: Da alle weißen Menschen Rassisten sind, sind die schlimmsten Rassisten diejenigen weißen Menschen, die sich verteidigen.
Die Brutalität eines Hexenprozesses
Identitätspolitik hat die robuste Brutalität eines Hexenprozesses, bei dem das Urteil vorher feststeht. Der Angeklagte mag sich winden und verteidigen, er ist ein fragiler Weißer, der mit jedem Atemzug seine Schuld vergrößert. Das Einzige, was ihn befreien könnte, wäre die Unterwerfung unter die neue Ideologie. Wie nah die Unterwerfung ist, zeigt sich daran, dass das Buch nicht nur weltweit millionenfach gekauft wurde, sondern dass seine Gedanken heute zum offiziellen Kanon gehören, wie über Rassismus nachgedacht werden muss. So nahm jüngst die Bundeszentrale für Politische Bildung das Buch von Alice Hasters, die dieses Denken auf die deutsche Gesellschaft übertragen hat, in seine Schriftenreihe auf.
Der Kern der identitätspolitischen Methode besteht in dem Dogma, dass für jede Aussage ein doppelter Maßstab gilt. Wenn ein Weißer sich verteidigt, ist das ein Beweis seiner Schuld. Wenn sich hingegen die Opfer zu Wort melden, dann muss ihnen in jedem Fall geglaubt werden. Weiße Menschen sind nicht nur qua Geburt Rassisten, sondern sie können selbst niemals Opfer von Rassismus werden und können es auch im Umgang mit den Opfern niemals mehr richtig machen. Opfer hingegen können niemals Täter werden, egal ob sie auf der Kölner Domplatte zu Hunderten Frauen angreifen, den Staat Israel beseitigen wollen, Homosexuelle öffentlich hinrichten oder minderjährige Mädchen zwangsverheiraten.
Die Radikalität dieser neuen Ideologie besteht also nicht in der Befreiung von Zwängen, sondern in dem Ausmaß ihrer Doppelmoral. Damit ist sie ein abschreckendes Beispiel dafür, was passiert, wenn ein richtiges Ansinnen – der Kampf gegen Diskriminierung und für Gleichheit – in die Hände der Kleinbürger fällt. Sie erklären ihr Halbwissen zur allgemeinen Regel und produzieren damit ein Chaos an Widersprüchen, das jede Debatte in den Sackgassen der Kulturkämpfe enden lässt.
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Wie verbreitet diese Halbbildung inzwischen auch in großen Kulturinstitutionen ist, zeigte jüngst ein harmloses Beispiel. Das ZDF hatte ein Schaubild veröffentlicht, auf dem drei Sätze in Sprechblasen zu lesen sind: „Du sprichst aber gut Deutsch. Wo kommst du (ursprünglich) her? Macht man das bei euch so?“. Die Sätze werden vom ZDF als warnende Beispiele für „Alltagsrassismus“ und „subtile Diskriminierung“ angeführt. Und um jedem Einwand vorzubeugen, wird am Ende der Befehl erteilt: „Perspektive der Betroffenen einnehmen und gelten lassen.“ Das ZDF-Schaubild ist die alltägliche Anwendung der Unlogik von DiAngelo. Gespräch unerwünscht, die Betroffenen haben immer recht. Der doppelte Standard wird auch hier angewendet, ohne ihn befragen zu dürfen.
Dabei läge nichts näher als die Frage, warum nur die eine Position gültig sein soll und die andere nicht. Warum kann die Frage nach Herkunft oder Deutschkenntnissen kein freundliches Interesse sein? Und warum gilt nur die Wahrheit desjenigen, der sich davon gekränkt fühlt? Die Beschränktheit dieser Weltsicht macht es offensichtlich unmöglich, den Anderen als Anderen zu respektieren. So produziert der identitätspolitische Kampf gegen Ungleichheit permanent neue Ungleichheiten.
Während ich linke Identitätspolitik vorwiegend als Problem linker Politik sehe, sieht Stegemann es im Kleinbürgertum. Da bin ich nicht wirklich bei ihm, denn aus allen Bevölkerungsschichten sehe ich linke Identitätspolitik am wenigsten von der Durchschnittsbevölkerung betrieben. Die Epizentren liegen in der Lehre an den Universitäten aber offensichtlich auch mehr und mehr in den Behörden. Diejenigen, die es vorantreiben sind kaum als Kleinbürger zu bezeichnen - es sind volkspädagogische Eliten und ihr studentisches Fussvolk.
Dennoch hat Stegemann die Natur des Phänomens sehr schön beschrieben. Und wie schon Mao in der Kulturrevolution, bedient man sich der Radikalität der Jugend um Dynamik für die Bewegung zu erzeugen. Studenten scheinen dafür optimal zu sein. Kraftvoll, vernetzt, radikal, wenig praktisch geerdet, oft gut behütet und vielfach bis zum Anschlag hypertheoretisch und arrogant. Perfektes ideologisches Kanonenfutter, Realitätsbezug und Kritikfähigkeit waren da schon immer hinderlich.
Nö, auch wenn Stegemann das gerne alles als "böses Missverständnis gut gemeinter Weisheiten" verstehen möchte, linke Identitätspolitik kommt von Links- und sie ist genauso gemeint, wie sie betrieben wird.