Astrocreep2000 hat geschrieben:(31 Mar 2021, 12:36)
... was insgesamt natürlich eine Milchmädchenrechnung ist, denn die Folgekosten für die Unterlassung vieler denkbarer Maßnahmen werden die rechtzeitigen Investitionen bei weitem übersteigen. Aber das ist halt typisch Politik: Wenn man ein Problem in die Zukunft, respektive an Folgegenerationen überantworten kann, dann wird man das im lieber Zweifel tun, als beizeiten unpopuläre Maßnahmen zu treffen, bzw. solche, durch die sich mächtige Lobbygruppen auf die Füße getreten fühlen.
Mittlerweile bekommt man den Eindruck, dass völlig an der Bevölkerung und der Wissenschaft vorbei regiert wird. Maßnahmen werden solange aufgeschoben, bis nur noch ein Lockdown hilft. Bis dahin landen dann wieder massenhaft Menschen auf der Intensivstation und weitere Geschäfte müssen Konkurs anmelden. Dabei wissen wir seit Beginn der Pandemie, dass Gesundheitsschutz und Wirtschaftssschutz keine Widersprüche sind, sondern Hand in Hand gehen (siehe z.B das Kooperationspapier zwischen Ifo und Helmholtz-Institut).
So wie es momentan läuft ist einfach nur politische Inkompetenz und Planlosigkeit zu erkennen. Für mein Empfinden kommen wir hier medizinisch und wirtschaftlich nur aufgrund von besonderen Standortfaktoren so gut weg und weniger aufgrund einer umsichtigen Politik. Unsere Wirtschaft ist exportgetrieben und lebt davon, dass die Covid-Krise in den USA und China zuende geht und unsere Produkte dort gekauft werden. Unser Medizinpersonal und unsere Intensivkapazitäten sind auch durch unseren Wohlstand besser ausgebaut als in anderen Ländern, aber das ist eher ein Zehren von alter Substanz. Für meine Generation in anderen Teilen Europas, die schon vor der Krise unter hoher Jugendarbeitslosigkeit gelitten hat wird es eher schlimmer werden. Europa droht zurückzufallen, das langsame Impfen bringt dann bei vielen das Fass zum Überlaufen. 900.000 der 2,8 Millionen weltweiten Todesopfer sind Europäer.
Astrocreep2000 hat geschrieben:(31 Mar 2021, 12:36)
Was die Kommunikationsstrategie insgesamt angeht, so halte ich diese für in weiten Teilen sehr unglücklich und damit für kontraproduktiv. Man traut sich einfach nicht, den Leuten reinen Wein einzuschenken. Dass es so eine Tendenz klar gibt, ließ in einem anderen Kontext ja seinerzeit schon De Maizière erahnen ("Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern").
Die gute Kommunikation kam nach meinem Empfinden eben eher aus Wissenschaft und Wissenschaftsjournalismus. Alleine was Christian Drosten da im Alleingang mit seinem Podcast geleistet hat ist atemberaubend und verdient Respekt. Auch Mai Thi Nguyen-Kim hat viele tolle Beiträge produziert. Da wurde nach meinem Empfinden die Rolle der Politik quasi ersetzt, weil die Politik selbst in Teilen offenbar gar nicht die Kompetenz besitzt, um diese Kriese einzuschätzen. Schau dir nur mal an, wie fürchterlich uninformiert Politiker wie Herr Laschet teilweise in den Talkshows sitzen und einfachste infektionsepidemiologische Grundlagen nach einem Jahr Pandemie nicht verstanden haben. Da verwundert es mich dann wenig, wenn ein Teil der Bevölkerung nicht mitkommt. Und ja, Frau Melanie Brinkmann neigt tatsächlich oft dazu, immer vom schlimmsten auszugehen, aber sie hatte einfach Recht als sie feststellte, dass viele Politiker nicht richtig im Thema drin sind. Diese fehlende 'handwerkliche' (3 x schwarzer kater würde von fehlender Management-Kompetenz sprechen) Kompetenz ist einfach nur noch frustrierend.
Astrocreep2000 hat geschrieben:(31 Mar 2021, 12:36)
In der ersten Phase hat man sehr auf Angst gesetzt; ich kann dass sogar teilweise verstehen, denn zu Beginn des letzten Jahres wusste man einfach wenig. Ich musste z.B. auch den Spott meiner Frau ertragen, als ich mit einem Kofferraum voller Konserven nach Hause kam, weil ich nicht drauf gewettet hätte, dass ich auch die Supermärkte mal eine gewisse Zeit schließen müssen, während sie sich das nicht vorstellen konnte.
Mein Lebenserfahrung, privat wie beruflich, lehrt mich, dass Menschen auch die negativsten Meldungen gut bewältigen - wenn sie sie offen und transparent vermittelt bekommen. Das traut sich Politik aber eben oft nicht (ich erwähnte an anderer Stelle, dass die "öffentliche Meinung" unsere Politiker leider auch in diese Richtung erzogen hat; oder vielleicht besser: Es ist eine Eigendynamik entstanden, aus der die Politiker keinen Weg mehr herauszufinden scheinen).
Die Kommunikation ist in so einer Krise aber das A und O, um die Menschen mitzunehmen.
Ich glaube, wir hätten - bei unveränderten Maßnahmen und Methoden - viel bessere Zahlen, wenn es gelungen wäre, ab einem gewissen Punkt positiver zu kommunizieren, anstatt lediglich angstgetrieben. Also mehr auf das Erreichte abstellen und nicht, dass, was noch drohen könnte.
Z.B. wussten wir früh, welchen Altersgruppen überhaupt nur ein schwerer Verlauf droht, trotzdem gibt es offensichtlich nicht wenige Kinder und Jugendliche, die tatsächlich Angst haben, zur Schule zu gehen, weil sie "nicht an Corona sterben wollen". Das ist das Ergebnis einer Kommunikation, die völlig an den Erkenntnissen vorbei geht.
Die Kommunikation war sicherlich nicht immer optimal. Ich habe das hier in diesem Thread auch immer wieder festgestellt. Wenn Corona-Leugner mir die verhältnismäßig niedrige Infektionssterblichkeit unter die Nase gerieben haben ("Corona ist ja gar kein Killervirus!") so als sei das eine weltbewegende und unbekannte Sensation habe ich immer nur müde lächelnd erwidert: Es hat ja auch niemand behauptet, dass es sich um ein Killervirus handelt. Es handelt sich eben um ein Virus, welches unsere kritische Infrastruktur gefährdet (Zusammenbruch des Gesundheitssystems, wie empirisch in vielen Nachbarländern festgestellt) und damit für massive Kollateralschäden sorgen kann. So wurde das zu Beginn auch kommuniziert (ich erinnere mich daran, wie in allen möglichen Medien "flaten the curve" rauf und runter lief). Hin und wieder wäre es gut gewesen, einige Pandemiebasics genauer zu wiederholen und dazustellen, denn die Öffentlichkeit leidet bekanntermaßen unter Kurzzeitgedächtnis.
Astrocreep2000 hat geschrieben:(31 Mar 2021, 12:36)
Und das war unnötig, denn gerade bei jungen Menschen ist die Bereitschaft zu Solidarität sehr ausgeprägt; hier hätte man gleich offen und wahrheitsgemäß appellieren sollen: Ihr müsst euch um euch überhaupt keine Sorgen machen, aber es ist super, wie ihr euch verhaltet, um unsere älteren Menschen zu schützen.
Solche Botschaften nehmen die Menschen mit, das gilt nicht nur für junge Mitbürger. Meiner Meinung nach ist die spürbar nachlassende Motivation vieler zu Schutzmaßnahmen auch dem Umstand geschuldet ist, dass den Menschen diese Diskrepanz zunehmend deutlicher wurde: Mir wird Angst gemacht - dabei bin ich gar nicht bedroht.
Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, dann haben allerdings schon viele junge Leute mitbekommen, dass sie - rein quantitativ - nicht in Massen betroffen sein werden. Daraufhin folgte schon im März 2020 ein zimliches mediales Feuer gegen Jugendliche, die wild Partys feiern würden, weil Ihnen persönlich (in der Masse) wenig passieren kann. Man hat es auch geschafft, damals einige solcher Jugendlicher (die es ja selbstredend in kleinen Mengen gab) zu filmen und das ganze dann zu generalisieren. Mein Eindruck von der Politik ist allerdings momentan folgender: Die Jungen Menschen haben (richtigerweise) Solidarität mit den Alten gezeigt, werden dafür die Schulden übernehmen und sollen jetzt, wenn bald die Risikogruppen durchgeimpft sind, die Durchseuchung ihrer Altersgruppe zulassen, damit das gesellschaftliche Leben weitergehen kann

Nunja, danke für nichts kann man da nur sagen.
Astrocreep2000 hat geschrieben:(31 Mar 2021, 12:36)
Aktuell sinken die Todeszahlen steil ab, ein ordentlicher Teil der Ältesten ist bereits geimpft, Kinder sterben - zum Glück - nach wie vor nicht, da kommen die nächsten Mahnungen zu "Mutanten" (von denen jede selbstverständlich tödlicher sein muss, als ihre Vorgänger):
Hätte, könnte, wenn ... Das Angstszenario wird einfach nicht fallen gelassen, die moralische Daumenschraube nicht gelockert.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich bin selbstverständlich nicht dafür, die Pandemie für beendet zu erklären und alles zu öffnen, wie töricht wäre das. Aber eine Kommunikationsstrategie auf Basis von Angst und Worst-Case-Prognosen halte ich zum jetztigen Zeitpunkt für absolut falsch. Das wird zunehmend weniger Menschen erreichen und lediglich die Spaltung zwischen den "Ängstlichen" und den "Sorglosen" vertiefen.
Man muss bei einem Marathon defintiv eher die Erfolge betonen, als nur die Gefahren. Sonst leidet die Motivation, das sehe ich ähnlich. Dennoch zeigen die kürzlichen Ergebnisse der Forschungsgruppe Wahlen aber auch, dass die Bevölkerung gar nicht in einem solchen Ausmaß gegen die Maßnahmen eingestellt wäre, wie das manchmal rüberkommt. Es zeigte sich, dass 1/3 der Bevölkerung die Maßnahmen für übertrieben hält, ein weiteres Drittel für angemessen, das letzte Drittel für zu lasch. Da geht grade auch viel Porzellan bei den gebildeten Leuten kaputt, die den Eindruck haben, dass hier eine Politikerkaste von Wissenschaftsleugnern gegen gesundheitliche und wirtschaftliche Interessen des Landes regiert. Der massive Zustimmungsverlust der Union in den Umfragen kommt sicherlich auch von einem massiven Vertrauensverlust der Maßnahmen-Befürworter.