Erst einmal sollte man klarstellen, dass Menschen wie etwa Stephan B., der Attentäter von Halle weder Botho Strauß gelesen noch einen Sinn für das Vexierspiel einer Lisa Eckhart haben dürfte.Selina hat geschrieben:(07 Feb 2021, 00:26)
Ich hatte das Glück, in den 1970ern ein Gastspiel der Westberliner Schaubühne in der DDR erleben zu dürfen, "Sommergäste" (nach Gorki) von Peter Stein und Botho Strauß, und konnte es später nicht fassen, wohin sich dieser Strauß entwickelt hat. Ich fragte mich, was ist seitdem geschehen mit dem Mann, mit uns?
Zitat:
Anschwellender Bocksgesang
In jener Zeit mussten viele Teenager vor Nazibanden auf der Hut sein, die während der Baseballschlägerjahre durch die Straßen zogen und töteten, aber der Schriftsteller Botho Strauß schrieb im Spiegel seinen unter Rechten heute noch gefeierten Essay vom deutschen "Selbsthaß", der "die Fremden willkommen heißt" und dazu führe, dass "Horden von Unbehausbaren, Unbewirtbaren" ins Land gelassen würden.
Damals löste ein solcher Text noch Aufruhr aus. Heute sind Meinungsführer, die in der Pose des Tabubrechers rassistische oder sozialdarwinistische Ausgrenzungsfantasien niederschreiben, nichts Ungewöhnliches mehr. Auch weil Sensibilitäten abgeschliffen, Ohren taub geworden sind. Ähnlich wie die vielen Millionen Werbebotschaften im öffentlichen Raum haben die vielen politischen Hassbotschaften, die uns jeden Tag erreichen, wohl zu einer Abstumpfung geführt.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitge ... ur/seite-3
Zumindest von der Gruppendynamik her hat dieses Einschießen auf einen Autor oder Künstler etwas, was mich zutiefst misstrauisch macht. Ich sehe da zuallererst Mechanismen der Rückversicherung von Zugehörigkeit. Wir sind die Guten! Ganz abstrakt ist das gar nicht so weit weg von den Mechanismen der Judenfeindlichkeit. Es muss jemand her, der Schuld ist. Natürlich gehe ich nicht nur nicht konform mit den oben zitierten Aussagen von Botho Strauß. Sie sind einfach inhaltlch und unabhängig von der Person kritisierbar.
Mitte der 90er gab es zum Beispiel auch eine Art Feuilletonkrieg gegen den Dichter Stephan Hermlin. Unter dem Titel "Außen Marmor, innen Gips" behauptete der Literaturkritiker Karl Corino, Hermlin hätte in seinem Text "Abendlicht" alle möglichen biographischen Details erfunden. Widerstand in der Resistance, KZ-Aufenthalt seines (jüdischen) Vaters, Teilnahme am spanischen Bürgerklrieg. Nur: Bereits im Klappentext des Buches wird deutlich, dass es sich bei "Abendlicht" keineswegs um eine autobiographische Erzählung handelt. Auch wenn es darin um die Person des Autors geht. Etwas Schwebendes zwischen Realität und Fiktion.
Ich mache da grundsätzlich nicht mit. Irgendetwas sagt mir, dass da etwas nicht stimmt, wenn sich plötzlich alle auf eine Person stürzen.
Und dass die Gesellschaft insgesamt bedroht ist. Von "Abstumpfung" zum Beispiel. Nein. Das sehe ich nicht so.