Tom Bombadil hat geschrieben:(30 Jan 2021, 18:32)
Wie sollen denn jetzt MEHR Tote dabei herauskommen, wenn man viel und schnell impft? Die Pandemie dauert umso länger, je langsamer die Herdenimmunität durch impfen erreicht wird und je länger sie dauert, desto mehr Tote wird es geben, das ist klar wie Kloßbrühe und kein bisschen spekulativ. Und man kann in ein paar Wochen auch nicht alle Menschen auf einmal impfen, das geht auch dann nur peu a peu. Nur hinken wir dann eben Wochen zurück.
Es könnte aber auch ein riesiger Meteorit einschlagen, sollten wir deswegen langsamer Impfen? Nee, sorry, die lahme Impferei in der EU kannst du mir nicht schönreden, das ist ein Trauerspiel.
Die Entwicklung der Infektionszahlen und der Todesfälle im Zusammenhang mit Corona unterliegt keinem linearen Zusammenhang. Vielmehr reden wir über expotentielle Funktionen, die man anwenden muss, wenn man das Infektionsgeschehen betrachtet. Ob ein paar Millionen Menschen in Deutschland geimpft sind oder nicht, spielt für das Infektionsgeschehen nur eine geringe Rolle. Deshalb ist die konkrete Anfangsgeschwindigkeit der Impfmaßnahmen nur von geringer Bedeutung. Man kann dies im Übrigen auch derzeit sehr gut bei den Staaten nachvollziehen, die beim Impfen an der Spitze stehen! Das Infektionsgeschehen verlangsamt sich - wenn überhaupt - gerade in den ersten Wochen äußerst träge.
Für die Zahl der Todesfälle spielt die Altersgruppe bzw. die gesundheitliche Vorgeschichte eine relevante Rolle - weshalb es richtig ist, genau diese Gruppe zuerst zu impfen. Doch auch hier sind viele Punkte noch nicht so ganz klar. Allein lebende und sich selbst isolierende Risikogruppen sind gar nicht so arg gefährdet - sie haben nur wenige Kontakte. Pflegeheime und Krankenhäuser aber auch Familienverbände mit Angehörigen aus den Risikogruppen sind wesentlich anfälliger. Insgesamt ist also auch das Risiko nicht wirklich linear messbar, sondern es bestehen komplexe Wirkzusammenhänge. Auch die führen dazu, dass wir so oder so in den ersten 10 Wochen der Impfkampagne regelmäßig die falschen impfen werden.....und genau genommen werden wir nie wissen, wen wir hätten rechtzeitig impfen müssen, um möglichst jeden Todesfall oder gar Infektionsfall zu vermeiden.
Trotzdem ist es natürlich erstrebenswert, so schnell als möglich zu impfen! Nur - so schnell als möglich wird faktisch von den Produktionskapazitäten begrenzt. Die werden schon ausgebaut - das dauert aber auch ein wenig.
Dann kann man die Strategie ausgeben, dass so schnell als möglich in MEINEM Land geimpft werden soll - das ändert am weltweiten Geschehen bezogen auf die Todeszahlen aber nichts. Es ist Impfnationalismus - den ich gar nicht so arg verteufeln mag, in einer Krise hilft man gerne - nachdem man sich selbst abgesichert hat. Das ist auch menschlich.
Hat also die EU versagt?
Das kann sein - kommt aber auch darauf an, welche genauen Massstäbe man anlegt. Hier werden derzeit mit Überaufregung und fast schon panisch Massstäbe angelegt, die einfach unrealistisch sind. Realistisch ist, dass wir in Deutschland bis Herbst ausreichend geimpft sein können um eine Art Herdenimmunität zu entwickeln, EU-weit wird es wahrscheinlich noch bis Ende des Jahres dauern. Die erkannten Fehlentscheidungen im bisherigen Prozess waren erwartbar - was sie nicht besser macht, aber was zu einer realistischen Einschätzung verhilft. Die wichtigeren Entscheidungen derzeit betreffen weitaus weniger die Impfungen als vielmehr die Kontaktvermeidung. Wer tatsächlich ernsthaft an einem beherrschbaren Pandemie-Szenario interessiert ist, der setzt alle sonstigen Empfehlungen der Regierungen dazu um, und versucht die eigenen Kontakte auf das absolute Minimum zu beschränken. Diese Massnahme wäre selbst bei einer hypersuperorganisierten nationalegoistischen Impfkampagne wenigstens bis zum frühen Sommer notwendig - und dies ist auch die einzig wirksame Strategie um auch Mutationen wirksam etwas entgegen zu setzen.
Ob die Impfungen überhaupt nachhaltig helfen werden, die Pandemie in den Griff zu bekommen, ist derzeit noch Forschungsgebiet. Die Idee, Mutationen einfach zu ignorieren ist im Anbetracht dessen, dass diese ganz real heute schon ihr Werk tun so etwas wie den Kopf in den Sand stecken und sich totstellen. Realistisch betrachtet ist die Impfung eine bessere Chance - aber dass sie wirklich hilft, das Leben dauerhaft wieder zu normalisieren, das können wir derzeit nur hoffen, aber noch lange nicht wissen. Noch wissen wir viel zu wenig auch über die nachhaltige Wirksamkeit von Impfungen, und auch noch viel zu wenig über die Wirksamkeit von Impfungen gegenüber Mutationen. Es ist ziemlich sicher, dass sich gerade bei einem Coronavirus relativ schnell viele weitere Mutationen bilden werden - deshalb halte ich es auch für eine viel zu einseitige Sichtweise, dass nicht nur hier so viele alles auf die Karte Impfung setzen.
Richtiger ist es, eine gemischte Strategie zu fahren, die mindestens folgende Punkte beinhaltet:
- Kontaktbeschränkungen
- Impfungen
- Entwicklung von Medikamenten und Behandlungsstrategien
- Konsequente Kontaktrück- bzw. Vorverfolgung durch die Gesundheitsämter
- Ausreichend Hygienemaßnahmen
- Besonderer Schutz von Risikogruppen
- Tests, Tests, Tests....
- Ausbau des Gesundheitssystems...
- Ausbau der Produktionskapazitäten für Impfstoffe
- Umsetzung von effizienten Entscheidungsmöglichkeiten im Pandemiefall (Katastrophenpläne etc. etc. )
... ... ...
Für Schulen, Seminarräume, Konzerthallen etc. etc. sollten dazu noch Luftreinhaltungssysteme in den Fokus gerückt werden und und und.....
Würde man sich in dieser Breite aufstellen, kommt man dem Virus auch bei, wenn ein Teil der Maßnahmen mal weniger Effizient funktioniert.
Ich bleibe dabei - das "Versagen" der EU und eigentlich aller beteiligten nationalen Regierungen und Bürokratien kann man jetzt sehr schnell und laut vortragen - tatsächlich bewerten wird man es erst in 1-2 Jahren wirklich können. Und auch dann wird es ein leichtes sein, rückwirkend das Versagen festzustellen und nach Schuldigen zu suchen - die reale Schwierigkeit ist aber, dass in einer solchen Situation die Entscheidungsträger in unsicherem Terrain Entscheidungen Monate im Voraus treffen müssen.
Jeder, der mal ganz real in der Verantwortung stand oder steht, kennt dies und weiß wie schmal der Grat zwischen Erfolg und Absturz dabei ist.