H2O hat geschrieben:(20 Jan 2021, 11:40)
Irgendwie hat unser Land, und auch seine Pädagogen sind damit gemeint, kein besonders intimes Verhältnis zur Digitaltechnik entwickelt. Da zeigen uns Finnen und Balten, wo Bartl den Most holt. So besonders neugierig, wie das dort gelungen ist, sind unsere Beamten wohl nicht. Oder es gibt deutsche Oberbeamte, die den Leuten an der Basis den Weg dahin versperren.
Es sicher momentan nicht unpopulär, auf diese Kritik aufzuspringen, man muss das aber meiner Meinung nach differenzierter sehen: Wo ich zustimmen würde ist, dass es schon vor Corona vom Engagement einzelner Schulen oder sogar Lehrer abhing, die Möglichkeiten digitalen Lernens sinnvoll in ihren Unterricht zu integrieren.
In meinem Bundesland gibt es zwar den noch recht jungen "Medienkompetenzrahmen NRW", der definiert, welche Fähigkeiten und Kenntnisse Schüler in verschiedenen Jahrgangsstufen haben sollen; dass dies schon in schlüssige Unterrichtskonzepten umgesetzt (worden) wäre, kann ich nicht beurteilen. Da müsste sich mal ein Lehrer hier zu Wort melden.
Aber selbst, wenn diese Konzepte schon vor Jahren etabliert worden wären, so wären sie nicht geeignet, dass aufzufangen, was jetzt zu leisten ist. Das ist doch noch einmal eine ganz andere Dimension, eine Ergänzung kann nicht plötzlich als Ersatz funktionieren.
So, und mit der aktuellen Situation gehen Lehrer sehr unterschiedlich um: Ich finde stark, was viele Lehrer aus der momentanen Situationen unter sich ständig wechselnden Vorzeichen (Beschlüssen aus den MP-Runden, Anweisungen aus den Kultusministerien) aus der Situation machen; aber auch das kann nur ein schwacher Ersatz für den gewohnten Präsenzunterricht sein, ein "besser als nichts". Ich habe aber auch Verständnis, dass es älteren Lehrern sehr schwer fällt, Anforderungen zu bewältigen, für die sich nie ausgebildet wurden, denen sie sich nicht gewachsen fühlen - und für die sie diesen Berufsweg auch nicht eingeschlagen haben.
Ich weiß, es ist der Zeitgeist, die "Digitalisierung" als Heilsbringer und Lösung aller Probleme anzusehen - das halte ich beim Thema Schule allerdings für wenig reflektiertes Nachgeplappere von Treibern der Digitalwirtschaft. Die hoffen einfach darauf, dass die Kids so früh wie möglich Konsumenten digitaler Produkte und Dienstleistungen werden. Je früher/jünger, desto besser.
Ich meine: Gerade die Grundschullehrer haben mehr denn je damit zu tun, denen überhaupt mal Lesen und Schreiben beizubringen ... Und "nebenbei" müssen sie auch noch zunehmend die Erziehungsarbeit leisten, die im Elternhaus versäumt wird. Schon dafür sind Lehrer nicht wirklich ausgebildet ...
Deshalb: Erst mal die Basics (Rechnen, Lesen, Schreiben) meistern - dann ist die Beherschung der "digitalen Welt" ein Selbstläufer. Wer jedoch zu früh in die "digitale Welt" geschmissen wird, ohne die klassischen schulischen und sozialen (!) Kompetenzen mitzubringen, der wird in der digitalen Welt nix Gutes dazu lernen können. So sehen das im Prinzip alle Pädagogen, Kinderpsychologen, Neurologen. Den Gegenpol bilden Vertreter der Konsumwirtschaft.
Zur Bedeutung von Präsenzunterricht: Wer schulpflichtige Kinder hat, weiß, dass man mittlerweile in den Wochen vor und nach den Ferien ärztliche Atteste vorlegen muss, wenn das Kind dort auch nur einen Tag fehlt: Es ist nämlich nicht zu tolerieren, dass ein Kind auch nur einen Schultag versäumt, wenn eine Familie einen Tag früher in den Urlaub fährt oder aus diesem zurückkehrt, um Staus zu umgehen - da zählt jeder Tag. Da gibt es eine massive Bußgeldandrohung. Genauso werden auch schon mal Schulausflüge abgesagt, weil Fachlehrer meinten, dass noch Stoff aufzuholen sei ... So wichtig war üblicherweise mal ein einziger (!) Schultag.
Und tatsächlich, wer mal zu Schulzeiten eine oder gar zwei Wochen krankheitsbedingt nicht im Unterricht war, weiss vielleicht noch, was für ein Kraftakt es war, danach wieder Anschluss zu finden.
Jetzt haben wir das zweite Schuljahr in Folge, in dem es völlig auszuschließen ist, dass die Lernziele erreicht werden können, was den Kinder an Persönlichkeitsentwicklung verloren geht, ist dagegen nicht einmal messbar. Darüber sollte man auch mal nachdenken. Aber klar: "Schulen sind das letzte, was geschlossen wird, und das erste, was wieder geöffnet wird" (Kanzleramtsminister Braun).
Meine aktuelle Meinung dazu ist: Ich trage alle Schutzmaßnahmen mit - aber die undifferenzierte Schließung der Schulen halte ich für unverzeihlich, zumindest wenn parallel in so vielen anderen Bereichen jedes Auge zugekniffen wird. Das macht mich so wütend, dass ich mir aktuell nicht vorstellen kann, in diesem Jahr wählen zu gehen. Es wäre das erste Mal seit 30 Jahren...
Ich finde das "Distanzlernen" in Ordnung für Schüler ab der Jahrgangsstufe 9, von denen darf man eine gewisse Selbstorganisation erwarten. Da sehe ich die zu erwerbenden Kompetenzen auch als vorteilhaft für das(die meisten späteren Berufsleben an. Aber für die Grundschüler und die Klassen 5. und 6. ist der Ausfall der Wegfall des Präsenzunterrichts eine Katastrophe.
Wie gehabt: Die Kinder sind einmal mehr das schwächste Glied in der Kette und müssen ausbaden, dass anderswo die Hausaufgaben nicht gemacht wurden/werden.