Skeptiker hat geschrieben:(16 Dec 2020, 23:38)
Warum aber fällt die Individualisierung der Gesellschaft zusammen mit einer immer stärker ausgeprägten Empfindsamkeit der Individuen? Das will mir noch nicht einleuchten. Individualisierung bedeutet ja zunächst einmal Loslösung von Kollektivierung. Der Effekt den wir aber beobachten ist eine teilweise ins hysterische abgleitende Idealisierung von Opferrollen - nicht unbedingt nur der eigenen, sondern von ganz bestimmten als Opfergruppen anerkannten Personengruppen.
Ja, einzelne Menschen wollen sich vom großen Ganzen loslösen - aber sie wollen deswegen nicht ALLEINE dastehen müssen und suchen/finden via soziale Medien Gleichgesinnte = (mediale) Spaltung der Gesellschaft durch das Internet.
Problem ist, das Internet, bzw. soziale Netzwerke sind keine geschlossenen Räume, im Gegenteil: Bei Facebook, Instagram & Co herrscht jeden Tag 24 stundenlang Tag der offenen Tür. Selbst sogenannte "Filterblasen" sind für alles und jeden frei zugänglich = und das scheint für Individualisierungsbestreben schädlich zusein. Man wäre gerne nur unter sich, hat aber keine Ansprüche darauf. Zumindest eben im Internet, bzw. in den sozialen Medien.
Eine mediale Alternative wäre bspw. ein Forum wie dieses - aber wenn die sich Abspaltenden keine anderslautenden Meinungen vertragen können, kommt derlei für sie nicht in Betracht.
Vor den Zeiten des Internets gab es für derlei Belange bspw. die Möglickeiten der Vereins- oder Clubbildung - mehrere Menschen finden zusammen, weil sie bspw. eine bestimmte Sportart oder ein bestimmtes Interesse miteinander verbindet. Persönliche Meinungsverschiedenheit ist hier zwar Gang und Gäbe, aber bleibt nebensächlich.
Der Reiz und die Möglichkeiten der sozialen Medien, den sie zu haben scheinen und mitunter sogar selbst voraussetzen ist, dass man hier Menschen finden kann, die dem Einzelnen nicht nur anteilig gleich (z. B. gleiches Hobby o. ä.), sondern vielleicht sogar ganzheitlich identisch (exakt dieselbe Denkweise o. ä.) sind.
Das Internet/die sozialen Medien wecken Sehnsüchte nach dem "perfekten" (menschlichen) Gegenüber. Und sofern diese SUCHT (!) enttäuscht oder angegriffen wird, bleibt einem nur noch die Opferrolle, die tw. eben in hysterische (bspw. Links-Rechts-Konflikt) bis unrealistische (bspw. Verschwörungsideologie) Zustände übergeht.
In meinen Augen ist das also weniger ein Effekt der Individualisierung, sondern eher ein Effekt der "Verweichlichung" - provokant könnte ich auch sagen, ein Effekt der "Feminisierung" von Debattenräumen, in denen Gefühle zu Fakten geadelt werden, wenn sie nur glaubhaft in Stellung gebracht werden.
"Verweichlichung" würde ich es persönlich nicht nennen - es hat zwar diesen Eindruck (= Opferrolle einnehmen und ausspielen), aber der ist im Grunde nur rein oberflächlich. Für mich steht eher fest, dass derart betroffene Menschen sich schlicht in Sphären bewegen, die frei von jedweder grundsätzliche Logik sind. Sie stellen sich dumm, weil sie bequem sind. Sie sind aber (meist) nicht dumm, schließlich wissen sie genau, wann und warum sie sich dumm stellen müssen.
Bspw. hatte ich in meiner Jugendzeit einen offen Schwulen in meiner damaligen Clique, den ich immerzu vor Mobbing aufgrund seiner Homosexualität, in Schutz genommen habe. Im Gegensatz bin ich davon ausgegangen, dass eben dieser Mensch, ob seiner leidvollen bis schmerzhaften Erfahrungen mit Mobbing von selben gänzlich absieht - tatsächlich entpuppte er sich jedoh als das größte und unbarmherzigste Schandmaul als eine neue Schülerin in unsere Schule kam, die extrem abstehende und noch dazu sehr große Ohren hatte. "Da kommt die Dumbo!" hat er u. a. immer gerufen. Irgendwann konnte ich nicht mehr, habe ihm eine geschmiert und ihn gefragt, was das Gemobbe soll, schließlich müsste er es doch besser wissen. "Die braucht doch nur zum Arzt gehen und sich ihre Löffel korrigieren lassen!", meinte er. Ich habe ihn dann gefragt, ob er denn zu einem dieser ominösen Wunderheiler gehen würde, um sich vom Homo zum Hetero zaubern zu lassen. "Nee, würdest du nicht, weil du genau weißt, dass Homosexualität ganz normal ist. Abstehende Ohren sind aber auch ganz normal! Ihr habt eins gemeinsam: Ihr habt es beide nicht leicht, obwohl ihr völlig normal seid - aber nur du allein checkst das nicht!" Ab diesem Moment ist er in die Opferrolle geschlüpft und ich war seither für ihn der schwulenfeindlichste Mensch der Schule.
Einige Jahre später hatte ich in der Berufsschulklasse eine bekennende Feministin, die sich einmal bitterböse über das unrealistische Frauenbild in der Werbung beklagte: "Immer diese Perfektion - was soll das? Die Produkte sollen schließlich auch von Frauen gekauft werden, die Orangenhaut oder Hängebusen haben - warum wird sowas nie abgebildet?" Ich habe ihr entgegenet, dass es uns Männern doch auch nicht besser ginge. "Schon mal eine Parfum-Werbung gesehen, wo kein durchgestyltes und durchtrainiertes Super-Model auftaucht? Wo sind die Männer mit ausladendem Bierbauch und Haaren auf dem Rücken?". Sie verzog das Gesicht und meinte nur: "Igitt, sowas will doch niemand sehen!" - "Und das gilt nicht für Frauen mit Hochebene und Rettungsring um die Hüften?". Holla, da ging's aber los. Was für ein abartiger Sexist und Frauenfeind ich doch wäre und überhaupt gehöre ich nachträglich abgetrieben usw.
Nachträglich kann ich über derlei Erlebnisse heute lachen. Tatsächlich haben sie aber bewirkt, dass ich seither auf bewusste Dummstellung und Denkfaulheit ( = zwecks Opferrolle!) quasi allergisch reagiere...
"Man kann auf seinem Standpunkt stehen, aber man sollte nicht darauf sitzen." Erich Kästner