Maikel hat geschrieben:(08 Nov 2020, 18:49)
Ich habe auch ein Problem mit dem Begriff "unantastbar" bzw. mit der Formulierung. Man könnte sie auch anders interpretieren:
"Die Würde des Menschen ist unantastbar" im Sinne von unkaputtbar; egal, was man einem Menschen antut, seine Würde kann man ihm nicht nehmen.
Das Problem wäre doch erst einmal die Frage nach dem, was da unantastbar ist: Woher kommt sie, was ist sie usw. Haben Sie eine Definition?
naddy hat geschrieben:(07 Nov 2020, 13:46)
Das betrifft allerdings nur die
"steile Karriere in der Bundesrepublik" der "Menschenwürde". Bezüglich des Begriffs "Würde" im Allgemeinen wird man sich im philosophisch-historisch-religiösen Bereich umsehen müssen.

Die Karriere ist tatsächlich phantastisch, wobei die Urteile des BVG da ganz erstaunliche Dinge behaupten oder setzen. Da kommen wir vielleicht noch ausführlicher dazu. Jetzt geb ich erst einmal eine Position aus dem Sammelband wieder, die sich stark mit meiner persönlichen deckt:
Ich möchte jetzt kurz auf den Beitrag Rüdiger Bittners im Sammelband "Menschenwürde" eingehen. Bittner plädiert für einen "Abschied von der Menschenwürde", weil der Begriff nicht haltbar sei.
Er weist zunächst auf einige begriffsgeschichtliche Punkte hin, wonach Würde eigentlich einen Vorrang bezeichnet oder unterstellt. Würde habe immer etwas von einem höheren Rang, der an ein Amt oder eine Leistung geknüpft sei. Würde könne man deshalb auch vortäuschen, ohne über die an den entsprechenden Rang und die für seine Erlangung üblichen Eigenschaften zu verfügen. Würde ist also historisch gesehen immer an solche Eigenschaften und eine damit einhergehende Rangerhöhung gebunden.
Dann wendet er sich dem berühmten Satz im GG zu. Bittner sagt, mit dem Satz werde nicht behauptet, daß der Mensch Würde habe, sondern das würde im Kollektivsingular für alle und jeden Menschen unterstellt. Der Satz sei zu verstehen wie "Das Blatt der Akazie ist gefiedert", wo auch nicht von einer speziellen sondern von allen Akazien die Rede sei. Das bedeutet nun, daß der Begriff der Würde, so verstanden, anders als seine Herkunft, abgeleitet aus dem althochdeutschen wirdi = Wert, keine Rangordnung mehr enthält und auch nichts mehr von seiner Ursprungsbedeutung "Wertschätzung" mehr enthält.
Schaut man auf die Tradition, ergibt sich eine Vorrangstellung nur noch gegenüber allem nicht-menschlichen Leben, klassischerweise gegenüber den Tieren, weil schon nach Cicero die Natur des Menschen hoch über den Tieren stehe und ihn daher auch zu bestimmtem Verhalten verpflichte.
Das allerdings kann im Rahmen eines modernen Naturbegriffs, den ich aber nicht wie den Neuen Naturrechtsbegriff aus dem Beitrag @pascual ansetzen würde, nicht aufrecht erhalten werden, "Es gibt in der Natur keinen Adel." (Bittner, a.a.O. S. 93) Alle Wesen leben auf ihre Art und tun, was ihrer Art zukommt gemäß ihrem Vermögen, woraus sich jedoch kein Vorrang ergibt. Eine Würde, so Bittner, brauche aber einen solchen Vorrang, ein Vorrang nur von Menschen gegenüber anderen Menschen rechtfertige keine Würde des Menschen (Kollektivsingular). Sobald man aber versuche, Würde über Rangordnungen innerhalb der Menschheit zu definieren, entfällt die Geschäftsgrundlage des ersten Artikels.
Bittner prüft noch den Gedanken, ob man Würde als Teil unseres Selbstverständnisses oder unserer Identität retten könne, meint jedoch, man würde kein anderer und verstünde sich so gut wie vorher, wenn man den Begriff der Würde fallen lasse. Selbst wenn wir das glauben, würde der Gedanke ja dadurch nicht wahr. Kurzum, er empfiehlt die Fahrt zum Sperrmüll.
Damit geht er über zu etwas, nämlich zu den Verfassungsfragen. Das GG konstituiert im Selbstverständnis seiner Väter und durch Urteile des BVG sowie ablesbar an den Kommentaren eine objektive Wertordnung, die Menschenwürde ist der entsprechende objektive Wert, wenn man Art 1 (1) und (2) richtig liest.
Bittner nun bestreitet, daß das Grundgesetz eine solche Wertordnung errichten könne. Unter Werten, so Bittner, verstünde die Wertphilosophie ideale Gegenstände wie Freiheit, Gerechtigkeit, Schönheit oder Treue usw. Diese stehen dann zueinander in einer bestimmten Rangordnung. Aber so etwas kann man nicht aufrichten, nicht einmal per Gesetz, sondern so eine Wertordnung besteht einfach.
Und das ist für mich ein wichtiger Gedanke. In der heutigen Diskussion kann man feststellen, dass viele eine geradezu religiöse Einstellung zu bestimmten Aspekten haben. Deshalb glaube ich auch, daß es besser um die Freiheit bestellt ist, wenn solche Wertordnungen nicht einfach verfügt werden - weder von Gesetzgebern noch von Gerichten. Natürlich kann das behauptet werden oder es können Werte als wichtiger eingestuft werden, aber nicht gesagt werden: Das IST so. Die Aufgabe der Gerichte ist zu sagen, welche Rechte wir haben. Eine Wertordnung aufzurichten ist dagegen keine Aufgabe eines Gerichts.
Bittners Schlußgedanken gelten dem Zusammenhang von Moral und Menschenwürde und dem Stellenwert, den die Menschenwürde in der Domäne der Moral einnimmt. Kurz gesagt empfiehlt er, von der Würde abzulassen, wenn es sie ohnehin nicht gibt, und er ist der Meinung, daß wir nichts entbehren, wenn wir sagen, jemand kämpfe gegen Diskriminierung, Folter oder Ausbeutung und nicht noch hinzufügen, gegen die Verletzung seiner Menschenwürde. Die Gründe gegen die drei Demütigungen oder Gewalttaten seien so stark, daß sie keine weiteren brauchen.
Sowenig die Rechtsordnung die Grundrechte aus dem Menschenwürde-Satz abzuleiten vermag, so wenig besitzt das Kämpfen gegen Diskriminierung, gegen Folter und gegen Ausbeutung in der Menschenwürde der unter diesen Praktiken Leidenden eine gemeinsame Grundlage. Von einer in all diesen Bemühungen verteidigten Menschenwürde zu reden, gibt nur den wohligen Eindruck, dass alle Guten am selben Strang ziehen. Aber wenn dieser Satz nicht eine Tautologie ist (gut ist, wer mit mir am selben Strang zieht), so ist er falsch und auch gefährlich. Wir Guten haben verschiedene Dinge im Sinn, müssen uns also, so gut wir sind, erst noch zusammenraufen; und dies Erfordernis zu verkennen, ist gefährlich, weil es unduldsam, zumindest ungeduldig macht. Von Menschenwürde als einem Ziel, in dem wir uns, diesem Streit voraus, moralisch schon einig sind, können wir also ohne Bedauern, ja mit Gewinn, ablassen.