Selina hat geschrieben:(03 Nov 2020, 01:40)
Interessant auch die Marxschen Äußerungen zur Entfremdung und zur "entfremdeten Arbeit". Da wirds schon ziemlich politisch oder auch ideologisch, aber "ideologisch" eher im Sinne von kapitalismuskritisch. Sehr aktuell das Ganze:
Zitat
Das Konzept der entfremdeten Arbeit formulierte Marx in den zu Lebzeiten unveröffentlichten Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844, die das erste größere polit-ökonomische Werk von Marx darstellen und erst 1932 veröffentlicht wurden. Marx erkannte, dass der Arbeiter das wachsende Privateigentum des Kapitalisten produziert, der den Arbeiter damit ausbeutet. Das Privateigentum sei daher Produkt der entfremdeten Arbeit wie auch Mittel, durch das die Entäußerung der Arbeit reproduziert werde. Der Arbeiter produziere daher nicht nur eine wachsende Zahl ihm fremder Waren, mit ihnen reproduziere er auch zugleich das ihn ausbeutende Lohnarbeitsverhältnis selbst und die Warenförmigkeit seiner Arbeit. Mit der fortlaufenden „Verwertung der Sachenwelt“ nehme die „Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu“. Der Arbeiter werde umso ärmer, je mehr Reichtum er produziere. Die Entfremdung durch das Lohnarbeitsverhältnis zwischen Arbeiter und Kapitalist manifestiere sich in vier Formen:
Dem Arbeiter tritt sein Arbeitsprodukt als fremdes Wesen und unabhängige Macht gegenüber. Sein Arbeitsprodukt gehört nicht ihm, sondern einem Anderen.
Die eigene Tätigkeit ist eine fremde, dem Arbeiter nicht angehörige Tätigkeit. Die Arbeitstätigkeit befriedigt keine Bedürfnisse des Arbeiters, sie dient nur als Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen, so dass die Arbeit als eine Pest geflohen wird, sofern kein materieller Zwang herrscht. Die Äußerlichkeit der Arbeit zeige sich darin, dass die Arbeitsverausgabung dem Arbeiter nicht eigen ist, sondern einem anderen gehört.
Sowohl der Gattungscharakter des Menschen, die freie und bewusste Tätigkeit, wie sein Gattungsleben, die Bearbeitung der Umwelt und der Gesellschaft, sind dem Arbeiter nicht möglich, sein Gattungswesen ist ihm entfremdet.
Eine unmittelbare Konsequenz aus der Entfremdung von Arbeitsprodukt, Tätigkeit und dem menschlichen Wesen ist die Entfremdung des Menschen von dem Menschen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Entfremdete_Arbeit
Dieser Begriff, dieses Konzept der "entfremdeten Arbeit" gehört dann allerdings nicht zum "Kapital". Ich bin mir da nicht so sicher, ob dieser Begriff wirklich tauglich ist für die Wirklichkeit 2020 in Mitteleuropa. Normalerweise oder erstmal würde man denken: Sowas wie Fahrradkurier oder Pizzazusteller ... das beschreibt die typischen entfremdeten Lebenswirklichkeiten hier und heute. Es stellt sich aber heraus, dass zum Beispiel die Arbeitskluft bestimmter Zustellfirmen in Berlin regelrechte Kultuobjekte sind. "Du fährst für die und die Firma Zeug mit dem Fahrrad aus? Hallo! Cool!" Von "Entfremdung" kann da überhaupt keine Rede sein. Eher von "Identifizierung". Man kann sich auch als KFC-Verkäuferin mit der Firma sehr identifizieren. Weil man dabei nicht an die gequälten Hühner aus den Hühnerfabriken denken muss sondern weil Markennamen wie "KFC" oder "Apple" zu Pop-Ikonen geworden sind. Die Dinge sind wirklich ganz anders gekommen, als sie Marx prognostiziert hat. Von einer "Verelendung der Massen" kann
überhaupt keine Rede sein. Im Durchschnitt und sogar statistisch weltweit gesehen, ist es zu einem unvorstellbaren Wohlstandsaufstieg gekommen. Die Proletarierkinder heute sorgen sich nicht um Kartoffeln und Kohlebriketts für die nächste Woche sondern sind übergewichtig und daddeln schon am frühen Morgen mit ihrem ziemlich teuren Smartphone herum. Die Proletariereltern befassen sich mit Autoanschaffung. Während das "Kapitalistenschwein" am frühen Morgen im Park herumjoggt, mit dem Fahrrad ins Büro fährt und die "Kapitalistenbraut" am frühen Morgen mit Joga-Übungen Konzentrationsverbesserung trainiert. Eine "Verarmung der Massen" beschreibt diese soziale Situation natürlich trotzdem.
Ich würde zum einen gern wissen, ob der formale, begriffliche Apparat des "Kapitals", also vor allem die Mehrwerttheorie auch heute noch geeignet ist, ökonomische Zusammenhänge zu beschreiben.
Zum anderen geht es natürlich um die ideengeschichtliche Bedeutung von Marxens "Kapital". In einem Thread mit dem Titel "Die eigentliche Genialität im Kapitalismus" sollte man die wenigstens einigermaßen einordnen können und wissen, dass es im "Kapital" eben
nicht um Revolution, Klassenkampf und Sozialismus geht. Sondern um eine Analyse der kapitalistischen Produktionsweise. Und wie gesagt: Schon allein, dass man nicht wie noch in den 60-80ern grundsätzlich immer den weichgespülten Begriff "soziale Marktwirtschaft" sondern den harten Begriff "Kapitalismus" im Mund führt, ist für mich ein Symptom dafür, dass das "Kapital" keineswegs irrelevant geworden ist. Andere Konzepte sind irgendwann mal im Dunkel der Geschichte vergessen worden. Über "Eugenik" zum Beispiel, als ursprünglich eigentlich sozialdemokratisch geprägtes Konzept redet heute - zum Glück! - kaum noch jemand. Das "Kapital" ist zumindest wieder und erstaunlicherweise Gegenstand von Universitätsveranstaltungen und steht im Interesse von Studenten.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)