BlueMonday hat geschrieben:(01 Feb 2020, 14:35)
Wir driften wohl auf eine zunehmend hysterische Gesellschaft zu, in der niemand mehr geradeaus gehen und ein Zeichen setzen kann ohne sich dem Verdacht einer unkorrekten Ansicht auszusetzen. Überall sieht man Zeichen, überall bedeutungsvolle Symbolik, kaum noch unbesetzte oder wiederbesetzbare umdeutbare Zeichenräume. Jedes gut gemeinte Wort kann falsch sein. Die Gefahr der schrecklichen "Relativierung" lauert an jeder Ecke, bald schrecklicher als handfeste Verbechen. Dabei ist Sprache nichts anderes als die Bezugnahme, das Sehen und Benennen des Gleichen im Unterschiedlichen und Einzigartigen. Darüber hinaus ist nur Schweigen. Dabei könnte zeitweises Schweigen vielleicht ein Ausweg sein. Zur Besinnung kommen, ein paar Gänge herunterschalten, die Vergangenheit hinter sich lassen, das jetztige Leben bewahren und voranbringen und Grundlage für das Zukünftige schaffen statt sich mit korrekten Lippenbekenntnissen gegenseitig überbieten zu wollen.
Das ist schon richtig. Der (streitbare) israelische Soziologe Moshe Zuckermann spricht denn auch vom paradoxen Phänomen der "Antisemitismus-Euphorie". Findet man ein Beispiel, das den Antisemitismus irgendeiner nicht geliebten Menschengruppe belegt, nennt man es denn auch schon mal "wunderbar". Wie user Tom weiter oben.
Moshe Zuckermann hat geschrieben:
Ziel dieses Textes ist es, sich dem Thema ("Zur Islamisierung des Antisemitismus") sine ira et studio zu nähern und sich – soweit dies überhaupt möglich ist – gegen die politische Instrumentalisierung der Problematik zu wehren. Der arabische und islamische Antisemitismus wird von mir, wie jeder andere Antisemitismus auch, als Skandal für sich betrachtet. Während sich bei einigen AutorInnen, allen voran Hans-Peter Raddatz, die sich des Themas angenommen haben, der Eindruck festsetzt, diese würden sich beinahe schon über den islamischen Antisemitismus freuen, um ein gewichtiges Argument gegen Muslime in die Hand zu bekommen, kann ich dieser Freude rein gar nichts abgewinnen.
http://www.hagalil.com/2010/02/islamisc ... itismus/2/
Auch wenn der Artikel bzw. die Artikelfolge bereits etwa 10 Jahre alt ist. Im Vorwort dieser Reihe heißt es:
In der Abstraktion des „Juden“, die im Antisemitismus wie im Philosemitismus stattfinde, sieht Zuckermann ein „Grundelement des ideologischen Unheils. Dort wo abstrahiert wird, wo Individuen ihres Einzelmenschlichen beraubt werden und die Heterogenität des Kollektivs weggedacht wird, da kann auch die große Judenliebe in bestimmten historischen Konstellationen in das genaue Gegenteil dessen, was sie vorgibt zu sein, umschlagen.“
Diese Kritik gilt genauso für evangelikale oder rechte Israel-Freunde. Auch deren Sorge angesichts des islamischen Antisemitismus ist nicht in diesem begründet, sondern in einem narzisstischen Identifikationsversuch mit den „Opfern“ der eigenen Tätervorfahren und im Rassismus gegen Muslime und Musliminnen.
Sobald Leute zusammenkommen und sich zu einem hohen Grad als Teil einer Gemeinschaft sehen und dann noch eine gewisse Mindestakzeptanz für antisemitische Stereotype haben ... entsteht die Gefahr der Entflammbarkeit. Ob das nun eine Kneipenrunde ist, die Gemeinschaft irgendeiner heiligen oder unheiligen Nation, der Panarabismus oder die beschworene Welt-Gemeinschaft der Muslime. Ich behaupte: Der liberale Individualismus und Antikollektivismus ist eine zuverlässige Impfung gegen jede Art Antisemitismus. Ein Individuum, das sich zuallererst als Individuum und nicht als Teil einer Gemeinschaft sieht, ist absolut immun gegen Antisemitismus. Auch unabhängig von seiner politischen Einstellung solange sich diese im Rahmen von Humanismus, Demokratie und LIberalität bewegt.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)