Arcturus hat geschrieben:(09 Jan 2020, 08:45)
Das hat nichts mit Naivität zu tun, sondern schlicht und ergreifend mit Tatsachen. Das schließt doch nicht die von dir geschilderten, verschiedenen Interessenlagen aus, ganz im Gegenteil: In einer Bevölkerung ist es doch vollkommen normal, verschiedene politische und religiöse Ansichten zu haben oder sich als eigene ethnische Gruppe zu fühlen.
Ja, die irakische Staatsbürgerschaft existiert, dies ist eine Tatsache. Und in der Türkei wird offiziell nur Türkisch gesprochen. In der Türkei leben laut der türkischen Verfassung nur Türken und sonst keine muslimischen Minderheiten. So viel zu den Tatsachen. Wie sieht aber die Realität vorort aus? Genau darum geht es doch auch im Fall des Iraks. Ein irakisches Nationalbewusstsein hat niemals existiert. "Tatsachen" täuschen sehr oft von Realitäten (die sich stetig verändern) hinweg, dies ist auch der Grund weshalb Grenzen niemals unverändert blieben und bleiben werden.
Der Irak wurde künstlich geschaffen. Und dies nicht einmal von regionalen Mächten, sondern zwei komplett fremden Mächten (Briten und Franzosen), die bei ihrer Informationsbeschaffung zur Region abhängig waren von Missionaren und Reisenden. Nachdem es klar war, dass die Briten Mesopotamien erhalten stellte sich für die Briten nur mehr eine Frage: wie verwalten wir unsere Kolonie? Hierbei gab es Hardliner die den heutigen Irak in Provinzen aufteilen wollten und British Raj unterstellen wollten. Dann gab es ortskundige Experten wie Sir Percy Cox, Gertrude Bell und Lawrence von Arabien, die eine indirekte Herrschaft bevorzugten, indem eine Marionette eingesetzt würde. Aus diesen Provinzen in Meso sollte ein Staat entstehen, der unabhängig von British Raj war. Der erste britische Zivilkommisar für Mesopotamien, Arnold Wilson zählte zu den Hardlinern. Seine gescheiterte Politik endete 1920 in einem großen irakischen Aufstand. Wilson wurde im selben Jahr von Sir Percy Cox abgelöst. Was die Briten aber von Anfang an vorfanden waren arabische Schiiten die zutiefst anti-westlich eingestellt waren und deren Sympathien schon damals den persischen Glaubensbrüdern galten. Dann gab es arabisch-sunnitische Nationalisten die in zwei Lager aufgeteilt waren, Pan-Arabisten und solche die eine regionale Herrschaft bevorzugten. Letztere waren nicht wirklich organisiert. Hinzu kamen aber auch noch pro-türkische sunnitische Araber und sunnitische Turkmenen (die schiitischen Turkmenen hingegen orientierten sich an die schiitischen Kräfte im Iran), die am osmanischen Reich festhielten. Unter den sunnitischen Kurden gab es ebenfalls eine Minderheit die am osmanischen Reich festhielten, weil man den christlichen Briten nicht traute. Dies führt uns natürlich zu den orientalischen Christen - einer Mischung aus einheimischen arabischen Christen und semitischen Assyro-Chaldäern aber auch den aus Anatolien geflohenen Armeniern und Assyro-Chaldäern. Diese Christen (bevorzugt die Assyro-Chaldäer) stellten dann nach dem 1. Weltkrieg die absolute Mehrheit der sogenannten Levies (eine von den Briten während dem 1.WK formierte Kampftruppe) dar. Dies machte sowohl Araber als auch Kurden nervös. Letztere natürlich mehr, da die Christen mehr im Norden angesiedelt waren/wurden und die Levies auch dort präsenter waren. Die Kurden, mit ihren nationalen Ambitionen, erkannten nach der Niederlage der Osmanen ziemlich früh, dass die Briten einem Kurdenstaat eher negativ gegenüberstanden (trotz des Vertrags von Sevres). Der damalige Kurdenführer im heutigen Nordirak - Sheikh Mahmud Barzinji - hatte viele Aufstände gegen die Briten angeführt - die allesamt niedergeschlagen wurden.
Dies war der Scherbenhaufen aus dem letztendlich der Irak wurde - Konflikte über Konflikte - die entweder ethnisch, religiös oder ideologisch motiviert waren. Mit Percy Cox und seiner wichtigsten Mitarbeiterin (G. Bell) und Beraterin war der Weg zur indirekten Herrschaft, also der Übergabe der Verwaltung an die Araber geebnet. Nun mussten die Briten eine geeignete Marionette finden. Der Haschemit, Faisal, ein direkter Nachkomme des Propheten Mohamed erschien als die beste Lösung (zumal dieser schon während dem 1.WK pro-britisch war). Alle Muslime im Land müssten ihn mehr oder weniger akzeptieren. Die einheimischen Sunniten taten dies jedoch nicht auf Anhieb, weil man in ihm einen Fremden aus der arabischen Halbinsel sah. Die Schiiten waren von ihm ebenfalls nicht angetan - erschwerend hinzu kam Faisals Abneigung gegenüber den Schiiten, die aber die erdrückende Mehrheit in den beiden Provinzen Basra und Baghdad stellten. Deshalb arbeiteten Cox und Bell während der Kairo-Konferenz im Jahr 1921 eifrig daran, Churchill (damaliger Kolonialminister) davon zu überzeugen, die mehrheitlich sunnitischen Kurden in diesen arabisch-dominierten Staat zu integrieren, um ein Gleichgewicht zu den sehr anti-westlich eingestellten Schiiten zu erzeugen. Während der Kairo-konferenz gab es aber auch viele Stimmen die für einen Kurdenstaat plädierten (Lawrence von Arabien, Major Soane, etc.). Churchill selbst, der die Konferenz leitete, sagte voraus, dass jeder arabische Herrscher im Irak die Kurden unterdrückten würde (er sollte wie so oft Recht behalten). Cox und Bell, die das Gegenteil behaupteten (waren beide arabo-phil), wollten Churchill durch ein Referendum in den Kurden-Gebieten umstimmen. Dieses Referendum wurde von beiden ausgeführt und ging natürlich nach ihrem Geschmack aus (hierzu gibt es historische Artikel, die diesen Betrug näher ausführen). Gertrude Bell äußerte in ihren Tagebüchern sogar zeitweise den Wunsch Nordkurdistan (die Kurdengebiete in Südostanatolien) zu integrieren, da der Irak für ewig von den Osmanen/Türken abhängig sein würde, wegen der beiden Flüsse Euphrat und Tigris (was ja bis heute ein Thema ist).
Abgesehen von den Kurden die im Norden revoltierten, mussten sich die Briten mit den Schiiten aber auch mit den sunntischen Arabern herumschlagen - speziell mit den urbanen Nationalisten in Baghdad. Die Assyro-Chaldäer, die sich von den Briten mehr erhofften (Autonomiestatus), fingen ebenfalls an ungemütlich zu werden. Und dann waren da auch noch die Turkmenen, deren Loyalität zu jeder Zeit den Türken galt. Dieser Staat war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Dies bewies der erste Putsch im Jahr 1958, der von den Freien Offizieren (sunnitisch-arabischen Nationalisten) durchgeführt wurde. Der restliche Teil der irakischen Geschichte ist dann nur mehr geprägt von Aufständen (der Kurden und Schiiten), Putschen und Kriegen.
Die Gräben die im Irak zwischen den Volksgruppen existieren gehen weit über "andere Ansichten zu haben" hinaus. Dies hat der IS dann noch einmal final bewiesen.
Make Kurdistan Free Again...