Ich habe bei mir selbst in den letzten Jahren festgestellt, dass ich zunehmend mit der politischen Mitte fremdele. Inzwischen sehe ich auch das Erstarken der politischen Ränder längst nicht mehr so negativ, wie ich das früher noch getan habe.
Wenn ich für mich selbst reflektiere, was mein Unbehagen mit der politischen Mitte ausmacht, dann komme ich vor allem immer wieder auf einen Punkt zurück. Ich finde, dass die politische Mitte zu „eng“ geworden ist. In früheren Jahrzehnten wurde noch viel grundsätzlicher über politische Themen & Richtungsentscheidungen debattiert.
Diese Verengung des Politischen hat eine ich nenne es mal „formelle“ und eine „informelle“ Dimension:
Informell würde ich es an dem (ja auch durch Erhebungen nachgewiesenen) Gefühl festmachen, nicht mehr so frei seine Meinung sagen zu können - dass das Meinungsspektrum zu sehr eingeengt ist. Hierbei geht es nicht darum, dass es tatsächlich gesetzlich verboten wäre, eine bestimmte Meinung zu äußern, sondern darum, dass abweichende Meinungen sehr schnell sozial/politisch „sanktioniert“ werden: das fängt an bei der hochgezogenen Augenbraue des Gegenübers, und geht weiter über moralische Empörungskultur bis hin zu Rassismus- und Nazikeulen, die häufig allzu schnell geschwungen werden, mit dem Ziel, unliebsame politische Meinungen mundtot zu machen.
Was bei mir aber eigentlich das viel größere Unbehagen auslöst, ist die formelle Einengung von Politik. Denn ich nehme es so wahr, dass die Politik im Laufe der Jahrzehnte in Deutschland (und wahrscheinlich überall in westlichen Gesellschaften) zunehmend an Spielraum eingebüßt hat. Über sehr viele politische Themen kann heutzutage nur noch sehr begrenzt entschieden werden, weil wir so viel verrechtlicht haben. Die Spielräume von Politik sind kleiner geworden und eingeengt worden, zugunsten von Gerichten, Gesetzen, usw.
Ich will mal ein paar Beispiele nennen, wo mir das persönlich aufstößt:
Beim Thema Asylpolitik zB wird ja als ein Grund, warum so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen, die Höhe der Sozialleistungen für Flüchtlinge in Deutschland angeführt. Flüchtlinge in anderen europäischen Ländern bekommen weniger Geld als hierzulande, weshalb sie sich dann eher Deutschland als Zielland aussuchen. Ein politischer Lösungsansatz, wenn man Flüchtlingszahlen reduzieren möchte, wäre demnach, diese Asylleistungen zu kürzen und auf das Niveau anderer europäischer Staaten abzusenken. Das jedoch geht in Deutschland offensichtlich nicht, weil dann immer darauf verwiesen wird, dass das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 2012 entschieden hat, dass die Asylleistungen in Deutschland bis dato zu niedrig gewesen seien (Stichwort „Existenzminimum“) und per gerichtlichem Beschluss deutlich angehoben werden mussten. Sodass sie jetzt in Deutschland viel höher sind als im europäischen Ausland und auch nicht mehr abgesenkt werden können, weil das jetzt „gegen die Verfassung verstößt“. Wenn also bestimmte politische Kräfte dafür sind, Asylleistungen zu kürzen um die Pullfaktoren von Migration zu reduzieren, dann hört man heute immer nur: „da können wir politisch nichts machen, das Verfassungsgericht hat uns das so vorgegeben!“
Bei mir als einfachem Bürger löst so eine Argumentation Frust & Unverständnis aus - ich frage mich dann, warum in anderen wohlhabenden europäischen Ländern wie Schweden, Niederlande, Frankreich usw das geht, dass Leistungen für Asylbewerber deutlich niedriger angesetzt werden, aber hier bei uns in Deutschland kann man da politisch gar nichts machen, weil das Verfassungsgericht das sagt. Anderswo geht das, bei uns aber per Gerichtsbeschluss nicht - dies ist eine Beschneidung von Politik, die bei mir als Wähler ein gewisses Ohnmachtsgefühl hervorruft. Ein Gefühl, dass man irgendwie ein Opfer eines Systems ist, weil man politisch gar nichts ändern KANN. Es ist ein Verweigern von Politik.
Ein zweites Beispiel, auch zur Asylpolitik, wäre das Thema Zurückweisungen an der Grenze. Hier wird dann gesagt: „Deutschland muss alle reinlassen, die an der Grenze „Asyl“ sagen, Deutschland hat gar nicht die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wen man reinlässt und wen nicht, wegen EU-Recht usw.“
Ich finde es verrückt, wie ein Staat in so einem entscheidenden Politikfeld wie der Frage, wen man ins eigene Land lässt oder nicht, überhaupt nicht mehr souverän entscheiden kann. Auch hier wird wieder Politik unmöglich gemacht. Die Wähler eines Landes sollten meiner Ansicht nach selbst entscheiden können, welche Einwanderung sie wollen oder nicht. Und nicht nur zu hören: „Das geht nicht, das ist politisch nicht änderbar, damit müssen wir uns halt abfinden!“
Ein drittes Beispiel wäre das Thema Schuldenbremse. Auch bei der Haushaltspolitik eines Staates sollte es meiner Ansicht nach in der politischen Entscheidungsfreiheit der Bürger liegen, ob sie eine Schuldenpolitik haben wollen oder eine Politik der schwarzen Null bzw. des Schuldenabbaus. Das ist doch eine grundlegende und wichtige politische Frage! Aber auch hier hat man diese politische Frage aus den Händen der Wähler genommen und dem Gesetz bzw. dem Verfassungsgericht gegeben.
Ein viertes Beispiel wäre die Sozialpolitik, speziell das Thema Höhe von Grundsicherung (Hartz IV bzw. Bürgergeld) und Sanktionsmöglichkeiten. Auch hier hat vor einigen Jahren das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Sanktionen im Bereich der Grundsicherung (also wenn man sich weigert, eine zumutbare Arbeit anzunehmen) nur noch sehr begrenzt möglich sind. Also erneut eine Frage, die den Händen der politischen Entscheidungsgewalt entrissen wurde.
Es gibt sicher noch viele weitere Beispiele, aber das so weit nur mal, um zu verdeutlichen, was ich meine. Das Grundmuster ist:
Es wird Verantwortung von der Politik zu den Gerichten abgegeben, und einstmalige politische Entscheidungsmöglichkeiten für die Bürger werden mittlerweile zunehmend an die Gerichte ausgelagert. Politik wird verrechtlicht und die Entscheidungsräume bzw Spielräume für POLITISCHES Handeln werden damit eingeengt.
Und das löst dann bei mir (und sicherlich auch bei anderen Bürgern) ein Frustgefühl aus und zum Teil sogar auch politische Ohnmachtsgefühle, weil ich das Gefühl habe, dass ich politisch ja überspitzt gesagt gar nichts mehr entscheiden kann - weil „das System“ es bereits vorgibt, wie die Sache zu laufen hat. Das führt dann zu Frust mit dem System an sich. Und deswegen finde ich mittlerweile, dass Parteien wie das BSW und die AfD (neben ihren Nachteilen) auch durchaus positive Effekte für die Politik in Deutschland bringen können. Nämlich, dass diese zunehmende Verengung von Politik und politischer Mitte langfristig durch den Druck dieser Ränderparteien vielleicht wieder etwas rückgängig gemacht werden kann. Denn vielleicht wollen ja viele Bürger eigentlich sagen: „Moment mal, über einige der Dinge, die ihr da in die Verfassung und in die Gesetze reingeschrieben habt, und die ihr damit einem politischen Richtungsstreit entzogen habt, wollen wir vielleicht doch noch einmal politisch diskutieren!“
Das Perfide ist, dass solche Leute dann allzu schnell als „Verfassungsfeinde“ oder gar „Demokratiefeinde“ und Ähnliches gebrandmarkt werden, nur weil sie gewisse Spielräume zurück in die Politik verlagern wollen.
Ich finde es in dem Zusammenhang auch interessant, dass vor allem die Grünen heutzutage die rigidesten Verteidiger des jetzigen „Systems“ sind. Von den Grünen hört man ja immer: „wir müssen unser System (oder unsere Verfassung / unsere liberale Demokratie, etc) verteidigen!“ Das ist logisch, dass man das vor allem von den Grünen hört, denn über Jahrzehnte wurden ja vor allem grüne Politikansichten verrechtlicht (in Bereichen wie Gesellschaftspolitik, Asylpolitik, Sozialpolitik, Klimapolitik, usw). Natürlich sind diese Grünen dann vehement dafür, dieses System genauso zu erhalten, wie es jetzt ist. Auch dass niemand so stark die Medien (und speziell den ÖRR) verteidigt wie die Grünen, liegt ja daran, dass die Medien tendenziell in diese eher linksliberale Richtung verengt sind.
Ich habe in den letzten Jahren viel darüber nachgedacht, warum die politischen Ränder, der Populismus usw in den westlichen Gesellschaften in den letzten 15-20 Jahren so einen Aufschwung erlebt haben. Neben Gründen wie Social Media glaube ich mittlerweile, dass diese skizzierte „Verengung“ der politischen Mitte ein wichtiger Grund dafür ist, dass unser aktuelles politisches System von immer mehr Leuten immer stärker in Frage gestellt wird.
Die Lösung wäre daher in meinen Augen, dass in Zukunft das „Meinungsspektrum“ (also was darf ich sagen, ohne sozial geächtet zu werden, moralisch belehrt zu werden oder die Nazikeule abzubekommen?) und das „politisch verhandelbare Spektrum“ wieder erweitert werden müsste - die Formel wäre: weniger Verrechtlichung, dafür wieder mehr Politik. Wieder mehr Entscheidungsmöglichkeiten für den Wähler.
Das heißt natürlich nicht, dass man keine Verfassung haben sollte oder dass alles an Recht abgeschafft werden sollte - aber es geht schon darum, hier ein richtiges Maß zu finden an einerseits „politisch Unverhandelbarem“ und andererseits „politisch Verhandelbarem“. Dieses Verhältnis ist meiner Meinung nach in westlichen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten in eine Schieflage geraten - was dann systemkritischen Kräften Auftrieb gibt.
Überall sehen wir ja in westlichen Gesellschaften, wie das System zunehmend in Frage gestellt wird. Ein System, das sich bei wichtigen politischen Fragen zunehmend in „das geht nicht!“ und in „das ist alternativlos, weil Verfassung“ erschöpft, büßt bei der Bevölkerung an Vertrauen und Attraktivität ein.
Einengung von Politik und politischer Mitte - ein Grund für das Erstarken der Ränder?
Moderator: Moderatoren Forum 2
Re: Einengung von Politik und politischer Mitte - ein Grund für das Erstarken der Ränder?
Wie Lindner also sagte: Bei der Asyldebatte dürfe es keine "Denkverbote" mehr geben? Damit hat er für Aufsehen gesorgt. Meinst du es so?
https://m.focus.de/politik/deutschland/ ... 99771.html
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Die Zukunft ist Geschichte.
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Re: Einengung von Politik und politischer Mitte - ein Grund für das Erstarken der Ränder?
Das Problem ist laut einigen in der Regierung doch nur das du die Erklärungen nicht richtig verstanden hast.
Si vis pacem para bellum
Avete utres sumus, cod estis aere voluimus
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Re: Einengung von Politik und politischer Mitte - ein Grund für das Erstarken der Ränder?
Die Regierung richtet ihre Asylpolitik neu aus.
Und ich bin gespannt, ob Weasley lediglich nur einen Artikel platziert hat und ansonsten nicht groß weiter diskutiert oder ausführt.
Und ich bin gespannt, ob Weasley lediglich nur einen Artikel platziert hat und ansonsten nicht groß weiter diskutiert oder ausführt.
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