Gerade habe ich ein Interview mit Ivan Bartos gelesen, dem Vorsitzenden der Piratenpartei in Tschechien.
Wow - ich habe das Gefühl darin zum ersten mal eine Partei zu finden mit der ich in vielen Punkten eine sehr gute Übereinstimmung habe. Hier Auszüge aus dem Interview (hinter der Paywall):
Ivan Bartos ist eine der markantesten Persönlichkeiten der tschechischen Politik: leidenschaftlicher Akkordeonspieler, Boxer und Raucher, Informatiker, Klimaschützer, Atomfreund – und Vorsitzender der Piratenpartei. Während das politische Phänomen Piraten in anderen europäischen Ländern nur von kurzer Dauer war, hat Bartos sie in Tschechien fest verankert.
In Umfragen liegt die Partei derzeit gleichauf mit der Regierungspartei Ano von Premierminister Andrej Babis, einige Umfragen sehen sie sogar vorn. Bartos könnte nach den Abgeordnetenhauswahlen im Herbst sogar neuer Regierungschef der Tschechischen Republik werden.
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WELT: In den meisten europäischen Ländern waren Piratenparteien, also Gruppierungen, die Datenschutz und direkte Demokratie in den Mittelpunkt stellen, ein kurzes Phänomen. In Tschechien haben Sie als Opposition gar die Grünen an den Rand gedrängt. Was läuft bei Ihnen anders?
Bartos: Datenschutz ist uns weiterhin wichtig, aber Klimapolitik ist eben auch zentral. Was die Grünen angeht: Wir versuchen zu erklären, anstatt zu predigen, so wie es manche Grüne in Tschechien tun, wollen also nicht so auftreten, als wären wir die besseren Menschen. Ich denke, man sollte nicht versuchen, eine Gesellschaft zu verändern, wenn man nicht an individuelle Freiheiten glaubt. Wir setzen auf die Verantwortung jedes Einzelnen. Dieser „kulturelle Unterschied“ ist wesentlich.
Klimaschutz ist das drängendste Menschheitsthema, dabei verfolgen wir einen pragmatischen Ansatz: Wir nehmen Unternehmen und Arbeiter mit. Ich sehe die Rolle von Politik als die eines Moderators zwischen gesellschaftlichen Kräften. Wir müssen etwa gute Bedingungen für Unternehmen schaffen, damit deren Angestellte profitieren.
Der Markt steht nicht nur für Verwerfungen, sondern auch für kreative Energie. Ich will Innovation. Nachhaltiges Wachstum ist kein Widerspruch in sich. Im Gegenteil, es ist die einzige Möglichkeit, viele Menschen von Klimapolitik zu überzeugen.
Und wissen Sie, grüne Fördermittel stinken nicht. Unternehmer wollen Geld verdienen, wenn sie sich auch noch einen grünen Anstrich verleihen können, machen sie das gern. Es ist möglich, ein ökologisches Gewissen zu haben und das Leben zu genießen.
https://www.welt.de/politik/ausland/plu ... ckung.html
Da hat er sich schonmal in wenigen Worten die Position dargestellt und sich als Pragmatiker von Moralisten abgesetzt.
Weiter:
WELT: Nun ist es jedoch so, dass unser Genuss oftmals dem Planeten schadet. Klimaaktivisten wie die von Fridays for Future in Deutschland argumentieren teils antikapitalistisch, mit Verzicht und Reduktion.
Bartos: Die Klimabewegung in Deutschland ist speziell. Grundsätzlich unterstütze ich die Anliegen von Fridays for Future. Aber das sind keine Politiker, so wie ich einer bin, sondern Aktivisten. Die können sich erlauben, dogmatisch zu sein. So groß die Proteste auch waren, mit deren Herangehensweise holt man weite Teile der Gesellschaft nicht ab.
Für eine überwiegende Mehrheit der Menschen müssen die unmittelbaren Vorteile von Wandel größer sein als der Aufwand, der mit Verzicht einhergeht. Die Menschen sind bequem, sie sind Gewohnheitstiere – selbst im Angesicht der Apokalypse. Wenn wir aber sagen: Es gibt mehr Wohlstand, Aufstiegschancen und Klimapolitik zugleich, dann können wir uns unterhalten.
WELT: Klimaaktivisten und Wissenschaftler argumentieren, dass uns die Zeit davonläuft. Der Klimawandel überrollt uns. Ist es da wirklich angebracht, so kompromissorientiert aufzutreten wie Sie?
Bartos: In einer liberalen Demokratie ist es die einzige Möglichkeit. ...
Zudem geht er darauf ein, dass diese Überzeugungsarbeit Zeit benötigt, und man sich nicht einbilden dürfe, dass es dazu einen leichteren Weg gäbe.
WELT: Ein weiterer Unterschied zu den Grünen ist, dass Sie sich nicht von der Kernkraft verabschieden wollen. Ist das nun auch ein Kompromiss?
Bartos: Nein, hier bin ich kompromissloser als die Grünen: Priorität hat für mich die Reduktion des Kohlenstoffdioxidausstoßes. Wir müssen zuerst die Kohlekraftwerke vom Netz nehmen. Wir setzen uns für eine Erneuerung unserer Kraftwerke ein. Neuere, kleine Kernkraftwerke haben zudem mit Blick auf den Atommüll eine bessere Umweltbilanz.
Absolut korrekt und undogmatisch. Wer sich ernsthaft gegen den Klimawandel engagiert, den muss der Spagat gleichzeitig gegen Kernkraft zu sein, eigentlich innerlich zerreissen. Hier zeigt er wie pragmatisch man das betrachten kann. Das kommt auch in seiner Position zur deutschen Energiewende zum Ausdruck:
WELT: In Deutschland glaubt man, dass der Ausstieg aus der Kohle- und der Kernenergie gleichzeitig erfolgen kann.
Bartos: Ich möchte in einer deutschen Zeitung nicht zu forsch auftreten, aber die deutsche Energiewende ist eine Mogelpackung – dazu auch noch eine, die ihre Nachbarländer braucht. Die rein deutsche Entscheidung ist unvermeidlich mit dem Import aus den Nachbarländern verbunden. Die Deutschen werden sich auf absehbare Zeit nicht durch Wind und Wasser allein versorgen können. Wenn sie ihre Industrieproduktion nicht runterfahren und ihren Konsum radikal einschränken, brauchen sie die Nachbarn. So einfach ist das.
Klare Worte! Typisch ideologische Politik Deutschlands - das richtige Ziel, aber Wunsch und Image stehen über Fakten. Nicht so in Tschechien, offenbar.
WELT: Der Konflikt zwischen den USA und China wird ein bestimmender Faktor in den internationalen Beziehungen bleiben. Im Innern der EU richten sich jedoch auch Länder wie Polen oder Ungarn gegen die Grundsätze der liberalen Demokratie. Mit beiden ist Tschechien in der Visegrad-Gruppe (V4), stimmt europäische Politik eng ab. Sie gelten als liberal, als Linker. Sollten Sie Regierungschef werden, kann diese Zusammenarbeit fortgeführt werden?
Bartos: Wir wollen nicht die Zeit zurückdrehen. Ich sage es mal so: Wenn ich vor die Wahl zwischen einer engen Partnerschaft mit Deutschland und Frankreich oder einem nationalkonservativen Staatenprojekt gestellt werde, entscheide ich mich für mehr Europa. Orbán gewinnt zu Hause Wahlen, weil er sich in Brüssel als Störenfried inszeniert. Bisweilen imitiert Babis diesen Stil. Dauerhaft kann man so nicht Politik machen.
Die Leitfrage muss immer sein: Geht es meinen Leuten besser, weil ich mache, was ich mache? Ich glaube, dass Ungarn auf der Stelle tritt. Aber die Länder der V4 sind unsere Nachbarn, wir werden weiter in bestimmten Sachfragen eng zusammenarbeiten. Ich liebe die Ungarn und die Polen, aber wir müssen nicht bei allem mitmachen.
Also westliche Ausrichtung. Das geht auch aus anderen Teilen des Interviews hervor.
Ich denke von Herrn Bartos werden wir noch viel hören. Diesen pragmatischen Ansatz vermisse ich in der deutschen Politik bitterlichst.
Edit: Nur als Ergänzung, nachdem ich die Leserkommentare lese. Mein persönlicher Eindruck bestätigt sich da. Das Welt-Forum ist typischerweise stark AfD-lastig, zumindest aber sehr konservativ. Dennoch ist man begeistert von dem Mann. Und der gilt, wohlgemerkt, in Tschechien als Linker !!!