Europa2050 hat geschrieben: ↑Di 21. Jun 2022, 13:25
Ich mach einmal hier weiter, das macht wirklich mehr Sinn.
Danke. Nachdem die Diskussion hier wieder aufgeflammt ist, melde ich mich dann auch noch mal dazu. Sorry für die verpätete Antwort, ich hatte zwischenzeitlich die Lust verloren, hier zu schreiben.
Ich denke, über die Fakten, die Motivationen und Bewertungen der Vorgänge rund um den Beitritt der Ex WP-Staaten und Ex-Sowjetrepubliken sind wir uns relativ einig, da gibt es bestenfalls Nuancen.
Da bin ich nicht ganz sicher. Ich bin in dem anderen Thread fast durchweg missverstanden worden und würde gern hier "in relativer Ruhe" nochmal ausführlich darlegen, wie ich die Dinge sehe. Über ein konstruktives Feedback von dir, natürlich auch von anderen, würde ich mich sehr freuen - vielleicht übersehe ich ja entscheidende Umstände oder mache irgendwelche Denkfehler. Sicherheitshalber auch hier noch mal, bevor das wieder jemand in den falschen Hals kriegt: Dies ist eine Betrachtung, was man damals aus westlicher Sicht sicherheitsstrategisch ggfs. hätte besser machen können – solche Betrachtungen müssen zulässig sein. Es rechtfertigt in keiner Weise diesen Überfall.
1. Problematik der NATO-Osterweiterung
Vorbemerkung: Mir geht es hierbei nicht um irgendwelche Versprechen oder was Genscher wann gesagt, gemeint oder nicht gesagt oder gemeint haben soll. Meinungen können sich ändern, manchmal müssen sie es sogar.
Sondern, es geht mir um die innenpolitischen Auswirkungen der NATO-Osterweiterung auf die russische Politik und Gesellschaft.
Rekapitulieren wir: Im Kalten Krieg waren die Welt wie auch insbesondere Europa in zwei feindliche Lager geteilt. Das eine Lager kollabierte und löste sich in seine Bestandteile auf – einen sehr großen und weiterhin mächtigen Bestandteil (Russland) sowie vieler kleinere.
Und dann haben sich die ganzen kleineren ehemaligen Bestandteile des Warschauer Pakts fast alle nach und nach dem ehemals feindlichen Lager zugeschlagen, und Russland blieb fast alleine auf der anderen Seite. Ich hatte diese Grafik schon im anderen Strang gepostet, weil sie das auch farblich sehr schön deutlich macht:
Wie wirkt das wohl aus russischer Perspektive? Genau – man kann sich durchaus in die Enge getrieben und isoliert vorkommen. Zumal die NATO-Mitgliedschaft ja über den rein militärischen Aspekt hinausgeht – es ist ein Eintreten für die freiheitlich-demokratische Grundordnung damit verbunden. Man kann die NATO-Osterweiterung aus russischer Sicht also auch eine Ausdehnung des westlichen, ehemals feindlichen, Gesellschaftsmodells auffassen.
Und meine These ist, dass diese in Russland mögliche Wahrnehmung der NATO-Osterweiterung schon dazu beigetragen hat, dass in Russland ein Klima entstehen konnte, in dem dann schließlich ein gewisser Putin erst an die Macht kommen und dann dieselbe mit unbegrenzten Machbefugnissen unter Ausschaltung sämtlicher Kontrollinstrumente ausstatten konnte. So etwas passiert ja nicht einfach so, weil ein Putin Lust drauf hat – es muss einflussreiche Leute gegeben haben, sehr viele sogar, die das unterstützt, gut gefunden oder zumindest geduldet haben.
Mir haben in der bisherigen Diskussion einige User hierauf entgegnet, dass die NATO Osterweiterng dem Putin im Grunde sch…egal sei und er diese nur als Vorwand verwenden würde, damit Leute im Westen wie ich auf dieses Narrativ hereinfallen. Ich hoffe, jetzt hinreichend deutlich gemacht zu haben, dass dieses Argument völlig an der Sache vorbeigeht. Ich bin auch skeptisch, ob das Vermeiden der NATO-Osterweiterung einen Putin von seinen imperialistischen Wahnvorstellungen abgehalten hätte (wobei ich es nicht genau weiß, da ich ihn nicht persönlich kenne). Darum geht es mir aber nicht, es geht um Russland als Ganzes und die dortigen politischen und gesellschaftlichen Strömungen, die einen Putin erst ermöglicht haben und die ohne die NATO-Osterweiterung vielleicht etwas anders verlaufen wären. Zumal die vorbereitenden Schritte und ersten Beitritte vor Putins Machtantritt erfolgten, und mit dem gemachten Anfang war ja klar, dass es weitergehen musste, wenn man nicht innerhalb des Ostblocks eine Zweiklassengesellschaft aufbauen wollte. (Die dann zusätzlich noch das fatale Signal enthält "den Rest kannst du haben, Russland", und genau das ist bzgl. der Ukraine jetzt ja auch passiert, bzw. droht zu passieren.)
Der
Wiki-Artikel zum Thema ist eine recht gute Quelle, wenn man sich noch mal die damals auch von westlicher Seite erheblichen Bedenken vergegenwärtigen will. Ich greife nur mal dieses heraus: "
Die Entscheidung der Regierung Clinton, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, wurde von dem Historiker und Diplomaten George F. Kennan 1997 als „verhängnisvollster Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg“ beurteilt, weil „diese Entscheidung erwarten lasse, dass die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der Meinung Russlands entzündet werden; dass sie einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland haben, dass sie die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Beziehungen zwischen Osten und Westen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in Richtungen zwingen, die uns entschieden missfallen werden."
Das bringt es ziemlich gut auf den Punkt, finde ich.
2. Denkbare Alternativen
Nachdem ich im anderen Thread (und nun auch hier) meine Meinung zu Punkt 1. formuliert hatte, besteht wohl die berechtigte Erwartung darzulegen, was man denn stattdessen hätte machen sollen – die Ostblockstaaten wollten ja unbedingt beitreten, und sie hatten ihre Gründe dafür. Die Ostblockstatten einfach im "russischen (Bedrohungs-)Regen" stehen zu lassen und ihnen die kalte Schulter zu zegen, wäre für mich jedenfalls keine gewesen (siehe auch am Ende).
Ich bin nun kein Experte für Militärbundnisarchitektur, aber es wären vielleicht folgende Alternativen denkbar gewesen:
- Die Weiterentwicklung der KSZE / OSZE in eine europäische Sicherheitsarchitektur oberhalb der NATO (das hatten damals in den 90ern ziemlich viele Leute vorgeschlagen, u.a. der alte Bush, und m.w. kam der Vorschlag irgendwann mal auch von Polen).
- Die Ostblockstaaten gründen ein eigenes militärisches Bündnis und schließen über dieses Bündnis mit der NATO einen militärischen Beistandspakt ab (evtl. hätte man die Visegrad-Gruppe in diese Richtung hin ausbauen können).
- Die NATO gibt den einzelnen Ostblockstaaten jeweils Sicherheitsgarantien.
Rein militärisch gesehen hätten die Varianten 2 und 3 wohl keinen großen Unterschied zum direkten NATO-Beitritt gemacht. Aber sie hätten auf der Karte anders ausgesehen, und wären vermutlich in Russland auch etwas anders angekommen. Warum das wichtig ist -> siehe Punkt 1.
Was übrigens alles einen NATO Beitritt dieser Staaten nicht kategorisch ausgeschlossen hätte, aber wünschenswerterweise erst in dem Moment, wo auch Russland selbst beitritt.
Aber - und das ist für mich jederzeit diskutabel - ist es auch für Deutschland, den „Westen“ moralisch vertretbar, so zu denken und aufgrund der Interessen Russlands auf eine angemessene Berücksichtigung der Interessen dieses „Zwischenraumes“ zuverzichten? Oder ist das doch Kolonialismus im historischen Stile Preußens und KuKaniens?
Ich würde sagen: Nein, das ist moralisch unvertretbar, aber das ist natürlich meine Meinung als überzeugter Europäer, der Finnen, Balten, Belarusier, Polen, Tschechen, Slowaken, Ukrainer, Ungarn, Rumänen, Moldawier und den ganzen Rest als seinesgleichen sieht.
Da stimme ich dir zu. Weswegen ich oben versucht habe, Alternativen zur Wahrung der berechtigten Sicherheitsinteressen dieser Staaten zu skizzieren, die m.E. wahrscheinlich besser gewesen wären - damals, als dieser Weg noch beschreitbar war. Heute ist es zu spät, die Konfrontation ist schon da und nicht durch uns ausgelöst und auch nicht mehr zu vermeiden, und von mir aus kann sich nunmehr die gesamte Welt incl. der Ukraine innerhalb der NATO gegen diesen Irren verbünden. Ich unterstütze auch vollumfänglich die Beitritte Schwedens und Finnlands.
History doesn't repeat itself, but it often rhymes (Twain). Unfortunately, we can't predict the rhyme.