Eigentlich würde ich das lieber in einem seperaten Thema diskutieren, aber jetzt sind wir hier:
Watchful_Eye hat geschrieben:(19 Feb 2018, 01:31)
Du meinst also, dass das, was die heutigen Linken wollen, sowieso kommen wird, und sofern rechte Kräfte nicht die Oberhand gewinnen, ist es nur eine Frage der Zeit, wie schnell?
[quote="Hyde"](19 Feb 2018, 03:36)
Was die Gesellschaftspolitik angeht, ja natürlich. Hätten sich in der Gesellschaftspolitik stets die Konservativen durchgesetzt, dann wären wir jetzt noch im Mittelalter.
[/quote] [quote="Hyde"](19 Feb 2018, 04:17)
Das ist ja auch der Grund dafür, warum viele das Gefühl haben, dass das Land „nach links“ gerückt sei. Oder dass die Grünen alle gesellschaftlichen Bereiche durchdrungen hätten. Dabei ist das bloß zwangsläufig, dass sich grüne progressive Politik früher oder später durchsetzt.
Vor 150 Jahren war es links, gegen Monarchie zu sein - heute Konsens.
Vor 100 Jahren war es links, für Frauenwahlrecht zu sein - heute Konsens.
Vor 50 Jahren war es links, für Sex vor der Ehe zu sein (sexuelle Befreiung) - heute Konsens.
Vor 30 Jahren war es links, Homosexualität zu entkriminalisieren - heute Konsens.
Und hätte es vor 400 Jahren schon Politik gegeben, dann wäre es sicherlich links gewesen, gegen Hexenverbrennungen zu sein. Und genauso klar wie Kloßbrühe ist, dass dann die Befürworter von Hexenverbrennungen die Gegner der Hexenverbrennungen als „linksgrünversiffte Gutmenschen“ bezeichnet hätten.[/quote] In Bezug auf die Vergangenheit und deine genannten Beispiele stimme ich uneingeschränkt zu.

Aber ich bin teilweise skeptisch, was die Zukunft angeht.
1) Die meisten deiner Beispiele (Monarchie, Frauenwahlrecht, Homosexualität) spielen auf eine Liberalisierung an. Es ging darum, dass
der Staat demokratischer werden und nicht diskriminieren soll. Das finde ich uneingeschränkt gut und richtig und ich bin auch dagegen, wenn sie von rechter Seite angegriffen werden.
Früher waren Forderungen nach Freiheit und Gleichheit häufig deckungsgleich. Wir sind aber dabei, den Punkt, an welchem die progressiven Kräfte erreichen wollen, dass sich der Staat "neutral" verhalten soll, bei einigen politischen Forderungen bereits zu überschreiten. Zwar gibt es immer noch Beispiele wie zuletzt die "Ehe für alle", aber häufig gehen heutige Forderungen mittlerweile eher in eine Richtung, dass der Staat über seine Rolle als "Schiedsrichter" hinaus gesellschaftliche Diskriminierung mit allzu starren Gesetzen einschränken oder gar durch eigene, sog. "positive" Diskriminierung ausgleichen soll. Das klassische Beispiel dafür ist die Forderung nach einer Frauenquote.
2) Sämtliche deiner Beispiele richten sich letztendlich gegen religiös vorgeschriebene Werte, während sie die Naturwissenschaften klar auf ihrer Seite hatte. Religion ist auf Sachebene leicht angreifbar - zwar lässt sich auf einer metaphysischen Ebene die Nichtexistenz eines Gottes letztlich nicht beweisen, aber die Irrationalität vieler der dort genannten 2000 Jahre alten Werte ist aus heutiger Perspektive mehr als offensichtlich. Die heutigen progressiven Ideen legen sich aber oft nicht nur mit der Religion, sondern ggf. auch mit der Wissenschaft an.
Beispiel Feminismus: Ich finde es selbstverständlich gut, wenn z.B. eine Frau vor einer konkreten Diskriminierung am Arbeitsplatz beschützt werden soll. Aber viele Gender-Feministinnen wagen beispielsweise den Umkehrschluss, dass wenn der Anteil von z.B. Studentinnen bestimmter Naturwissenschaften oder weiblicher Mitglieder von Parteien nicht annähernd 50:50 erreicht, zwangsläufig Diskriminerung im Spiel sein müsse. Aber können wir wirklich sicher sagen, in welchem Maße dieses Ergebnis ein Ergebnis von Diskriminierung ist? Es gibt starke Hinweise darauf, dass die Interessen und ggf. auch die Fähigkeiten der Geschlechter zum Teil genetisch beeinflusst werden (vgl. u.a. Steven Pinker).
Ich will sagen: Wenn Geschlechter nicht biologisch gleich sind, führt eine faktische Gleichbehandlung der Geschlechter trotzdem nicht zu einer völligen Ergebnisgleichheit. Wir wissen nicht, wie hoch die Unterschiede objektiv sind, und es ist extrem schwierig, dessen Höhe zu bestimmen. Wir dürften zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht bei einer solchen Gleichbehandlung angekommen sein. Aber der feministische Traum, dass das Merkmal "Geschlecht" mit der überambitionierten Abschaffung von Genderrollen in den Statistiken verschwindet, wird, sofern man Männer und Frauen gleich behandeln will, an irgendeinem Punkt an seine Grenzen stoßen. Der Punkt mag noch nicht erreicht sein, aber viele derjeniger, die eine linke "Ende der Geschichte-Vorstellung" haben, verleugnen, dass ein solcher Punkt überhaupt existiert.
Eine aktuelle Studie dazu:
The underrepresentation of girls and women in science, technology, engineering, and mathematics (STEM) fields is a continual concern for social scientists and policymakers. Using an international database on adolescent achievement in science, mathematics, and reading (N = 472,242), we showed that girls performed similarly to or better than boys in science in two of every three countries, and in nearly all countries, more girls appeared capable of college-level STEM study than had enrolled. Paradoxically, the sex differences in the magnitude of relative academic strengths and pursuit of STEM degrees rose with increases in national gender equality. The gap between boys’ science achievement and girls’ reading achievement relative to their mean academic performance was near universal. These sex differences in academic strengths and attitudes toward science correlated with the STEM graduation gap. A mediation analysis suggested that life-quality pressures in less gender-equal countries promote girls’ and women’s engagement with STEM subjects.
http://journals.sagepub.com/doi/abs/10. ... 7617741719
3) Es kann auch durchaus Beispiele geben, in welchem die Verhinderung von Diskriminierung mit handfesten Vorteilen abzuwägen ist. Hier denke ich zum Beispiel an "racial profiling". Diese Idee wird zwar zum Teil auch den verzerrenden rassistischen Vorurteilen einiger Polizisten entsprechen, aber sie wäre auch dann noch pauschalisierend, wenn man sie strikt auf Basis von Statistik durchführen würde. So ist es einerseits natürlich lästig, aufgrund eines bestimmten Aussehens häufiger als andere von der Polizei kontrolliert zu werden. Andererseits hat die Polizei den Schutz aller Menschen zu gewährleisten, und gerade Menschen diejeniger Ethnien, die überproportional häufig Täter sind, sind häufig auch überproportional häufig Opfer. Zwar wäre es gerechter und grundsätzlich möglich, Polizeikontrollen auf der Basis von Zufallsstichproben durchführen zu lassen. Aber ist es im Sinne des Ziels der Sicherheit einer Stadt sinnvoll, wenn man weiß, dass bestimmte Ethnien besonders häufig kriminell sind? Ich will selbst nicht sicher, was davon zu halten ist, aber fest steht, dass hier eine Abwägung existiert, die zeigt, dass der Abbau von Diskriminierung in bestimmten Fällen auch ganz praktische Nachteile haben kann.
4) Auch wenn mir die Tendenz dahin im Allgemeinen existiert und ich diese auch ausdrücklich gutheiße, ist es trotzdem kein Naturgesetz, dass immer alles gleicher und freier wird. Diese Tendenz funktioniert in begrenztem Maße in Bezug auf den Westen seit der Aufklärung, aber ich wäre vorsichtig, sich einem "Ende der Geschichte"-Gedanken hinzugeben. So folgte auf die in manchen Aspekten erstaunlich liberale Antike das etwa 1000-jährige antifreiheitliche Mittelalter. Und die arabische Welt war vor 100 oder 200 Jahren teilweise sogar liberaler als Heute.
5) Zuletzt darf man nicht vergessen, dass die Idee, bestimmte Gedanken mit "progressiv" bzw. fortschrittlich zu verknüpfen, keine neue ist. Grundsätzlich ist "fortschrittlich" erst mal ein Attribut, dass vor allem aussagt, dass man sich auf der richtigen Seite der Geschichte wähnt. Das taten aber nicht nur Menschen mit unterstützenswerten iberalen oder sozialen Gedanken, sondern auch grausame Diktatoren wie Mao Zedong oder Adolf Hitler.
Ist "progressiv" also wirklich immer "links"? Beispielsweise basieren transhumanistische Gedanken eindeutig auf (technischem) Fortschritt, so dass es naheliegend wäre, sie als "progressiv" zu bezeichnen. Auch ist der Siegeszug solcher Ideen im Anbetracht ihrer Möglichkeiten langfristig wahrscheinlich. Aber die Vorstellung, dass Familien beispielsweise mittels Mikrochips oder genetischer Einflussnahme Erbkrankheiten entfernen oder gegebenenfalls gar positive Eigenschaften wie die Intelligenz zu erhöhen versuchen, wäre aus Sicht vieler Linker wohl keine allzu angenehme. Die Legalisierung transhumanistischer Methoden wäre somit ein Beispiel für eine mit Vorteilen und Risiken verbundene fortschrittliche Idee, die sich nach unseren Maßstäben nicht auf einer Skala von links bis rechts einordnen ließe.