Kopernikus » Sa 11. Okt 2014, 21:32 hat geschrieben:
Schlicht und einfach: Nein. Es ist
deine Projektion einer Realität, die allenfalls auf zwei Quellen aufbaut: Medialer Berichterstattung und tradierter Klischees, angeeignet durch deine Sozialisation. Niemand derer, die hier darüber diskutieren, wie der "Durchschnittsmuslim" angeblich denkt (was ohnehin ein sinnloses Unterfangen ist), hat sich je die Mühe gemacht, sich tiefergehend in irgendeine sozialwissenschaftliche Milieustudie einzulesen oder mehr als 3 Seiten einer entsprechenden wissenschaftlichen Untersuchung durchzuarbeiten. Gerade der einzige in dieser Frage vertrauenswürdige -weil gewissen Standards genügende- Zweig, die Sozialwissenschaften, ist doch für die meisten, die hier mitreden wollen, verhasstes Terrain, das allenfalls selektiv und über Sekundärquellen zu Rate zu ziehen ist. Der Rest der angeblichen "Realität" ist die gegenseitige Selbstvergewisserung Gleichgesinnter via Internet, Kollegenkreis, Familie oder Stammtisch. In fast allen Fällen ohne jedweden konkreten Bezug zum Personenkreis, der da "analysiert" wird. Irgendwer hat ja auch immer einen, "der einen kennt" und dann (wie ich vorhin anderswo im Forum schon erwähnte) noch mehr "Realitäten" zu berichten weiß:
http://www.zeit.de/2014/42/asylbewerber ... el-bautzen
Wenn man keine Lust hat, sich mit dem zu beschäftigen, was angedeutet wurde (etwa weil es Dinge enthält, die einem unangenehm erscheinen), dann strengt man sich natürlich auch nicht besonders an, es zu verstehen... sondern wird eher dazu neigen, jede Ungenauigkeit und jede Undeutlichkeit GEGEN den Poster zu wenden.
Es ist doch ganz klar, daß es hierzulande auch eine große Zahl Muslime gibt, die eigentlich überhaupt keine mehr sind... es gibt halt nicht so etwas wie einen "Kirchenaustritt" im Islam. Wäre jemand lebenslänglich ein Christ, weil er als Kind christlich getauft wurde, dann gäbe es ja auch massenhaft Christen hierzulande, die keine mehr sind... weil sie zwischenzeitlich zu Atheisten geworden sind, oder oft gar nicht mal das... man ist einfach nur inzwischen desinteressiert an der Religion. Es macht keinen Sinn, solche Menschen als Christen zu bezeichnen, und dann über sie als Christen zu reden... es sind ja keine. Ebenso macht es keinen Sinn, über Moslems (als Moslems) zu reden, die keine sind, weil sie den Glauben nicht aktiv leben.
Wenn also hier in der Diskussion der Begriff "Moslem" verwendet wird, dann doch sicher im Zusammenhang mit Personen, die nicht Atheisten sind, oder die nicht pro forma sagen "Ich bin Muslim", weil sie Ärger aus dem Weg gehen wollen, oder weil sie es irgendwie gewohnt sind, das zu sagen, weil sie es früher einmal selber glaubten, sondern es sollen doch sicher mit diesem Begriff jene Muslime benannt werden, denen ihre Religion wichtig ist, die sie aktiv leben, die sich mit ihr auseinandersetzen bzw. sie ein gewisses Stückweit auch verinnerlicht haben. Das ist schonmal eine Untergruppe aller Muslime, aber es sind doch diese Muslime, die gemeint sind, wenn darüber spekuliert wird, wie Muslime denken.
Eine Studie des Sinus-Instituts, die sich der Untersuchung von sog. "Milieus" bei Migranten widmete, identifiziert ein besonderes Milieu, das Religiös-verwurzelte Milieu, mit folgender Kurzbeschreibung: "Vormodernes, sozial und kulturell isoliertes Milieu, verhaftet in den patriarchalischen und religiösen Traditionen der Herkunftsregion". Bei den türkischstämmigen Einwanderern ist laut Studie jeder fünfte Teil dieses Milieus. Einwanderer aus arabischen Ländern wurden leider nicht untersucht, also gibt es keine Zahlen, aber ich sehe keinen Grund, warum das Verhaftetsein von ausgerechnet arabischen Einwanderern in diesem Milieu in einem geringeren Umfang der Fall sein soll, eher glaube ich, daß es noch häufiger der Fall ist. Die Studie formuliert zu dieser Gruppe:
"Das Religiöse ist für diese Menschen konstitutiv für ihr Leben, ganz gleich welcher religiösen Überzeugung und Gemeinschaft sie angehören. Die Religion
verstehen sie als autoritäres Gegenüber, dessen Inhalte, Formen und Institutionen nicht diskutabel sind. Daraus folgt ein gewisser religiöser und lebensweltlicher Fundamentalismus. Überzeugungen und Konventionen werden als unbedingt wahr, richtig und gültig betrachtet. Das Milieu teilt nicht die Auffassung, dass historisch veränderte Lebensbedingungen es nach sich ziehen könnten, die eigene Religion neu zu interpretieren."
Nun weiß man also schon irgendwie, was ein Fünftel der türkischen Einwanderer so denken mögen... nämlich über das, was ihnen die Religion sagt, denken sie das, was ihnen die Religion sagt, und halten das auch für wichtig und leben danach.
Bei der Frage der "Gewalt im Namen des Islam" gibt es grob gesprochen zwei Sichtweisen/Interpretationen: Die der klassischen islamischen Rechtslehre, die nicht nur den Dschihad als ein Grundgebot ansieht, sondern ihn u.a. auch als Kampf sieht, der das Herrschaftsgebiet des Islam mit Gewalt erweitern soll, bis der Islam die die Welt beherrschende Religion ist. Sowie die vieler moderner Rechtsgelehrter, die eine "entschärfte" Interpretation des Themas propagieren, die Wikipedia (Eintrag "Dschihad") so beschreibt: "Muslimische Autoren der Moderne sehen ausschließlich solche Kriege als legitim an, die der Verteidigung islamischer Staaten, der Freiheit der Muslime, den Islam außerhalb dieser zu verkünden, und des Schutzes der Muslime unter nicht-islamischer Herrschaft dienen."
Es ist jetzt die Frage, ob die moderne "Entschärfung" vom "religiös-verwurzelten Milieu" nicht schon als "neue Interpretation im Lichte historisch veränderter Lebensbedingungen" gewertet wird und damit abgelehnt wird. Dann wäre in diesem Milieu die Auffassung tatsächlich wohl ganz stark verbreitet, daß "Gewalt zum Wohle Allahs bzw. des Islam" als nicht unrecht angesehen wird. Gleichzeitig aber ist natürlich nicht jeder in dieser Gruppe auch selber bereit, den letzten Schritt zu gehen und diese Gewalt selber auszuüben. Das ergibt die zwei Gruppen, die annett postulierte: Diejenigen, die Gewalt zum Wohle Allahs bzw. des Islam" für erlaubt halten, und diese deshalb auch selber auszuüben bereit sind, und jene, die sie für gut heißen, aber bis auf weiteres nicht bereit sind, sie selber auszuüben.
Es stellt sich natürlich die Frage, wie die Zahlen aussehen für das "religiös-moderne Milieu" (Also etwa so eine Art "Kässmann, aber nur halt bei Muslimen"). Was die Sinus-Studie angeht, so erhält man den Eindruck, daß es dieses nicht in nennenswertem Umfang gibt, denn in keinem der anderen Milieus spielt die Religionsausübung eine nennenswerte Rolle... wenn man bedenkt, daß die eingewanderten Türken von der Herkunft her eben keinen repräsentativen Querschnitt aller Türken darstellen, sondern überwiegend aus ländlichen, besonders rückständigen Gebieten stammen, mit entsprechend archaischen Religionsinterpretationen bzw. -auffassungen, wäre das auch ein stückweit erklärlich...