Interview mit einem Verteidiger von Frau Zschäpe:
Rhein-Zeitung: Die Anklage ist 488 Seiten stark, enthält 1654 Fußnoten. Die Hauptakte umfasst 587 Stehordner oder grob überschlagen 250 000 bis 300 000 Seiten, ohne Bei- und Altakten. Hinzu kommen zig Bände von Verschlusssachen, die nur bei Gericht einsehbar sind. Wie ist diese Dimension zu bewältigen?
Stahl: In den Akten könnte man wohl ein ganzes Leben lesen. Meine Kollegin Anja Sturm hat ausgerechnet: Bei einer überdurchschnittlichen Lesegeschwindigkeit von einer Minute pro Seite wäre eine Person – wenn man acht Stunden pro Tag ununterbrochen liest – 525 Tage lang damit beschäftigt, sich den Akteninhalt von 250 000 Seiten zu erarbeiten.
Rhein-Zeitung: Deshalb teilen sich auch drei Strafverteidiger das Pensum?
Stahl: Selbst das ist schwierig, zumal jetzt nahezu täglich Schriftsätze des Oberlandesgerichts München eingehen. Die rund 50 Nebenkläger stellen umfangreiche Anträge. Wir sind ja auch nicht wie Staatsanwälte freigestellt.....
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Rheinzeitung: Sind Sie Wahlverteidiger?
Stahl: Im Moment ja. Weil Frau Zschäpe aber nicht über die notwendigen finanziellen Mittel verfügt, ist uns wichtig, dass das Oberlandesgericht München jetzt feststellt, dass die notwendige Verteidigung nicht durch einen Pflichtverteidiger allein geleistet werden kann und mindestens drei erforderlich sind.
Das ist schon sehr heftig. Von einer "Waffengleichheit" kann man bei dem Prozess wohl nicht sprechen, wenn man bedenkt welche Heerscharen an Ermittlern und elitären Staatsanwälten die Anklage vertreten und unterstützen. Und Frau Zschäpe wurden bisher nichtmal 3 Verteidiger genehmigt, wobei selbst 3 Verteidiger wohl diesen Aktenberg nur schwerlich bewältigen können.
Rhein-Zeitung: Warum halten Sie die Anklage für konstruiert?
Stahl: Nach dem Ergebnis der Ermittlungen war Frau Zschäpe an keinem der Tatorte. Auch aktive Tatbeiträge waren nicht ermittelbar. Man muss argumentativ schon erhebliche „Klimmzüge“ machen, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass Frau Zschäpe die Taten als eigene wollte. Der Vorwurf der Mittäterschaft steht für uns daher auf sehr dünnen Beinen. Wir halten die These der Anklage für ausgesprochen gewagt.
Rhein-Zeitung: Unbestritten hat sie aber doch mehr als 13 Jahre mit Uwe Böhnhard und Uwe Mundlos zusammengelebt.
Stahl: Das ist für sich genommen aber nicht strafbar. Es ist schon sehr ambitioniert, zu behaupten, weil Frau Zschäpe unter anderem 13 Jahre lang im Untergrund gelebt habe, sei sie Mittäterin bei Morden, die nach den Ermittlungen aber von zwei anderen Menschen begangen worden sein sollen. Unter dem Begriff „Untergrund“ verstehe ich im Übrigen etwas gänzlich anderes, als unter falschem Namen in einem Mehrparteienhaus zu leben und zu allen möglichen Menschen – beispielsweise im Urlaub auf dem Campingplatz – völlig normale Kontakte zu unterhalten.
Rhein-Zeitung: Aber stellt man sich nicht Fragen – auch die nach der Herkunft des Geldes oder der Gesinnung?
Stahl: Unterstellt, das war so, wäre es nicht strafbar
Rhein-Zeitung: Und die Tatsache, dass Beate Zschäpe bei der Übergabe der Tatwaffe dabei gewesen soll?
Stahl: Soll. Das ist auch ein Indiz, das der Generalbundesanwalt sehr stark gewichtet. Es beruht allerdings auf den Angaben eines seinerzeit noch inhaftierten und jetzt – nach seiner Aussage – wieder auf freiem Fuß befindlichen Mitbeschuldigten. Man wird diese Angaben kritisch zu prüfen und zu bewerten haben.
Rhein-Zeitung: Ist für Sie denn auch strittig, dass Beate Zschäpe Bekennervideos verschickt und das Haus angezündet hat, in dem man zusammen lebte?
Stahl: Aus dem Versenden eines Videos ist nicht zwingend der Schluss zu ziehen, dass der Versender den Inhalt kannte und sich diesen auch zu eigen gemacht hat. Das ist denkbar, vielleicht auch naheliegend, aber zweifelsohne auch noch nicht bewiesen.
Beweise scheint es also keine zu geben.
Interessant ist auch diese Stelle:
Rhein-Zeitung: Sie und Ihre Kollegen haben gesagt: „Wir sorgen dafür, dass Frau Zschäpe einen fairen Prozess bekommt.“ Haben Sie Zweifel an dieser Selbstverständlichkeit oder am Gericht?
Stahl: Ich habe keinerlei Veranlassung, Zweifel an den beteiligten Richtern zu äußern. Aber eines ist doch klar: In den Medien wird deutschlandweit schon seit einem Jahr – bedauerlicherweise veranlasst durch ein Vorpreschen der Ermittlungsbehörden – unter anderem von einer Mörderbande gesprochen. Diese Dimension der Vorverurteilung macht es jedem Richter ausgesprochen schwer, noch unvoreingenommen einer Angeklagten entgegenzutreten. Das wird ein großes Problem sein. Denn die durchaus vorhandenen Zweifel an der Richtigkeit des Tatverdachts tauchen nicht gleichrangig in einer Ermittlungsakte auf, wenn in eine bestimmte Richtung ermittelt und ein roter Faden verfolgt wird. Das gibt es auch in anderen Fällen. Aber hier kommt eine öffentlichkeitswirksame Vorverurteilung hinzu, die ein faires Verfahren für alle Beteiligten ungemein erschwert.
http://www.rhein-zeitung.de/nachrichten ... articletop
Hier frage ich mich schon lange, ob die Justiz, in diesem Fall also Staatsanwaltschaft und Richter, nicht auch eine Fürsorgepflicht für Angeklagte haben. Gerade in solchen extrem medizienwirksamen Fällen.
Wenn man sich nun vorstellt, Frau Zschäpe würde freigesprochen, wie würde ihr weiteres Leben aussehen? Ganz Deutschland kennt ihr Gesicht, die Ermittler haben viele Fotos von ihr an die Medien weitergegeben. In allen Medien wird sie seit über einem Jahr als "Terroristin", "Mörderin", "Mitglied des Mörder-Trios" usw. vorverurteilt und verhetzt.
Die Frau könnte doch nie wieder in Deutschland normal Leben, selbst wenn sich vor Gericht ihre Unschuld herausstellen bzw. ihr keine Schuld nachgewiesen werden könnte. Sie wäre wohl für immer ein geächteter und stigmatisierter Mensch, für den ein normaler Leben in dieser Gesellschaft de facto unmöglich wäre.
Und wie gesagt, es handelt sich noch immer um eine Angeklagte, keine rechtskräftig verurteilte Verbrecherin, insofern gilt für sie nach Rechtstaatsprinzipien die Unschuldgsvermutung.
Gibt es das keine Schutzpflicht des Staates, der gerade in solchen medienwirksamen Fällen sicherstellen muss, dass ein Angeklager nicht öffentlich blossgestellt und an den Pranger gestellt und damit seine soziale Zukunft in diesem Land unabhängig vom Ausgang des Prozesses zerstört wird?
