usaTomorrow » Do 5. Jul 2012, 22:48 hat geschrieben:
Du findest es nicht befremdlich, wenn man nach jahrhundertelanger Tolerierung (von der Nazizeit mal abgesehen) auf einmal elementare religiöse Bräuche von einem Tag auf den anderen kriminalisiert?
1. Die Beschneidung wurde nicht jahrhundertelang toleriert, ganz im Gegenteil: Sie wurde immer wieder, auch schon vor den Nazis, kriminalisiert. Motiviert durch Antisemitismus. (Dazu mehr unter 3.)
2. Die Beschneidung von Säuglingen und Kindern ohne medizinische Indikation wurde nicht von einem Tag auf den andern kriminalisiert. Im Prinzip ist sie in D seit 1871 strafbar, spätestens aber seit Inkrafttreten des GG. Sie stellt seitdem eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Tat dar, die bislang lediglich nicht bestraft wurde, weil man zugunsten der Durchführenden und deren Anstiftern einen schuldausschließenden Verbotsirrtum annahm.
3. Während in der Vergangenheit die Beschneidungsverbote für Juden einen eindeutig antisemitischen Charakter hatten, ist dies heute nicht der Fall.
Die zunehmende Entwicklung, die fortschreitende Aufklärung gibt uns die zwingende Einsicht, dass Menschenrechte immer auch Kinderrechte sind und dass gerade Kinder besonders unter den Schutz der MR gestellt werden müssen, können sie selbst ja selten bis garnicht für sich selbst eintreten.
Wenn es also in der Vergangenheit darum ging, Juden die Beschneidung ihrer Söhne zu untersagen (um bspw die jüdische Identität zu brechen) , scherte man sich einen Dreck um die Rechte dieser. Denn Kinder, egal ob jüdisch oder nicht, waren eher Eigentum der Eltern als alles andere. (Schön zu sehen daran, dass auch in Westeuropa die "Zwangsverheiratung" aus wirtschaftlichen und pragmatischen Gründen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nicht eben selten war.)
Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts findet aber ein Prozess des Umdenkens statt:
Zivilisierte Gesellschaften begreifen, dass Kinder Träger von Rechten sind wie jeder andere Mensch auch.
Man hat deshalb z.B. - leider viel zu spät - entschieden, dass die körperliche Züchtigung ("Popoklaps", Ohrfeigen etc.) durch Eltern, Lehrer usw. verboten ist. Eine Jahrtausende alte Erziehungspraxis, die bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts hier bei uns als selbstverständlicher Ausdruck des elterlichen Erziehungsrechts zum Wohle der Kinder galt,
wurde endlich als körperliche Misshandlung iSd § 223 StGB gewertet und folgerichtig auch bestraft. Nur zweifelhafte Gestalten kämen auf die Idee, gegen diese Wertung mit dem Verweis auf das Erziehungsrecht der Eltern zu argumentieren.
Denn die Anerkennung der Kinder als Menschenrechtsträger wie jeder andere Mensch gebietet deren Gleichbehandlung vor dem Gesetz:
Die Rechtspositionen des Kindes sind abzuwägen gegen die Rechtspositionen der Eltern bzw. Sorgeberechtigten. Und dies wurde hier ja schon mehrfach schlüssig und mit Bezug zum geltenden (Verfassungs-)Recht dargelegt (u.a. von ToughDaddy, AmunRa, schelm):
Es stehen sich gegenüber:
Seitens des Kindes:
- das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit, Art 2 II GG
- das Recht des Kindes auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, mithin des Selbstbestimmungsrechts, Art 2 I GG
- das Recht auf die Freiheit des Glaubens, Art 4 I GG
- das Recht auf die Freiheit des weltanschaulichen bzw. religiösen Bekenntnisses, ebd.
Seitens der Eltern:
- das Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder, Art 6 II GG
- das Recht der Eltern auf die Freiheit des Glaubens, Art 4 I GG
Wer sich die Mühe macht, sich mit dem Verfassungsrecht und den Prinzipien seiner Auslegung und Anwendung auseinanderzusetzen, der wird schnell erkennen, warum das LG Köln zu dem hier diskutierten Ergebnis kam: Es gab keine andere Möglichkeit!
Auch die (privatrechtliche) Einwilligung der Eltern ändert daran nichts. Zwar wird die Entscheidung, was dem Kindeswohl entspreche, primär den Eltern oder Sorgeberechtigten überlassen. Dennoch räumt sich der Staat (bzw die "staatliche Gemeinschaft") in Art 6 II S. 2 GG das Recht ein, diese Entscheidungen zu überwachen. Nur weil Eltern also meinen, sie handelten im Interesse ihres Kindes, heißt dies nicht, dass damit ein Raum betreten würde, der dem staatlichen Eingriff entzogen sei.
Der (Grund-)Gesetzgeber verdeutlicht damit, dass auch das elterliche Erziehungsrecht schnell an seine Grenzen stößt, wenn Eingriffe in eine Grundrechtsposition des Kindes stattfinden oder zu befürchten sind, vorallem, wenn sie irreversibel sind.
Und für all jene, die meinen, dieses Urteil sei antijüdisch, antimuslimisch, antireligiös motiviert:
Wie vieles andere schwappt auch der Trend der "christlich motivierten" Beschneideung aus den USA zu uns, ebenso wie die Beschneidung aus rein ästhetischen oder rein hygienischen Gründen. All das ist seit 1949 strafbar, wie die religiösen Beschneidungen auch. Und wie diese können sich deren Durchführer nicht länger ohne weiteres auf einen Verbotsirrtum berufen.
Beschwert sind also nicht nur Juden, nicht nur Muslime, sondern alle Eltern die meinen, ihre Söhne ohne medizinische Indikation einer im wahrsten Sinne des Wortes einschneidenden Prozedur zu unterwerfen.
@usaTomorrow:
Solltest Du vorhaben, mich nach meiner Meinung zur Abtreibung bzw Abtreibungspraxis hierzulande zu befragen: Ich lehne Abtreibung ab und toleriere sie nur dann, wenn das Leben der Schwangeren auf dem Spiel steht. Der Abbruch kriminogener Schwangerschaften ist für mich dsbzgl. eine Sonderfall, über dessen persönliche ethische Bewertung ich mir bislang nicht klar bin.