IndianRunner » So 26. Apr 2015, 16:55 hat geschrieben:
Die EU plant ständig, und bezüglich der Krimkrise sind doch schon in der heißen Phase ständig deutsche Politiker vor Ort gewesen.
Herr John J. Mearsheimer hat diesbezüglich die Zusammenhänge sehr genau erklärt, sehr verständlich.
Warum der Westen an der Ukraine-Krise schuld ist
von John J. Mearsheimer
Im Westen gilt es als gesicherte Erkenntnis, dass an der Ukraine-Krise massgeblich die aggressive Haltung der Russen schuld ist. Der russische Präsident Wladimir Putin, so die gängige Argumentation, hat die Krim annektiert, weil er schon lange eine Wiederbelebung des Sowjetreichs im Sinn hatte, und wird womöglich auch den Rest der Ukraine und andere Länder Osteuropas ins Visier nehmen. Die Absetzung des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch im Februar 2014 habe Putin lediglich den Vorwand dafür geliefert, russische Streitkräfte auf die Krim zu entsenden.
Doch diese Darstellung ist falsch: Die Hauptschuld an der Krise tragen die USA und ihre europäischen Verbündeten. An der Wurzel des Konflikts liegt die Nato-Ost-Erweiterung, Kernpunkt einer umfassenden Strategie, die Ukraine aus der russischen Einflusssphäre zu holen und in den Westen einzubinden. Dazu kamen die EU-Ost-Erweiterung und die Unterstützung der Demokratiebewegung in der Ukraine durch den Westen, beginnend mit der orangenen Revolution 2004. Seit Mitte der 1990er Jahre lehnen russische Staatschefs eine Nato-Ost-Erweiterung entschieden ab, und in den vergangenen Jahren haben sie unmissverständlich klargemacht, dass sie einer Umwandlung ihres strategisch wichtigen Nachbarn in eine Bastion des Westens nicht untätig zusehen würden. Das Fass zum Überlaufen brachte der unrechtmässige Sturz des demokratisch gewählten prorussischen Präsidenten der Ukraine; Putin sprach zu Recht von einem «Staatsstreich». Als Reaktion darauf annektierte er die Halbinsel Krim, auf der, wie er befürchtete, die Einrichtung einer Nato-Marinebasis geplant war, und betrieb die Destabilisierung der Ukraine, um sie von einer Annäherung an den Westen abzubringen.
Putins Gegenwehr kam eigentlich alles andere als überraschend. Immerhin war der Westen, wie Putin nicht müde wurde zu betonen, in den Hinterhof Russlands vorgedrungen und hatte dessen strategische Kerninteressen bedroht. Die politischen Eliten der USA und Europas trafen die Ereignisse nur deshalb unvorbereitet, weil sie der Logik des Realismus im 21. Jahrhundert kaum noch Bedeutung zumessen und davon ausgehen, dass sich die Einheit und Freiheit Europas mittels liberaler Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, ökonomischer Interdependenz und Demokratie gewährleisten lassen.
Doch dieses Konzept ging in der Ukraine nicht auf. Die dortige Krise belegt, dass die Realpolitik durchaus noch relevant ist – und Staaten, die dies übersehen, es auf eigene Gefahr tun. Der Versuch US-amerikanischer und europäischer Politiker, die Ukraine in einen Stützpunkt des Westens direkt an der russischen Grenze zu verwandeln, ist gründlich misslungen. Nun, da die Konsequenzen unübersehbar sind, wäre es ein noch grösserer Fehler, diese verhunzte Politik fortzusetzen.
Der Affront durch den Westen
Nach dem Ende des Kalten Krieges waren der sowjetischen Staatsführung ein Verbleiben der US-Streitkräfte in Europa und ein Fortbestand der Nato nur recht, weil sie in ihren Augen den Frieden mit einem wiedervereinigten Deutschland sicherten. Doch ein Wachsen der Nato wollten weder die Sowjets noch ihre russischen Nachfolger, und man ging davon aus, dass westliche Diplomaten das nachvollziehen konnten. Die Regierung Clinton sah das offenkundig anders und forcierte ab Mitte der 1990er Jahre die Nato-Ost-Erweiterung.
In der ersten Erweiterungsrunde wurden 1999 die Tschechische Republik, Ungarn und Polen integriert. In der zweiten folgten 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien. Die Russen protestierten von Anfang an aufs schärfste, waren damals jedoch zu schwach, um die Nato-Ost-Erweiterung zu verhindern, die ohnehin nicht sonderlich bedrohlich wirkte, da abgesehen von den winzigen baltischen Staaten keines der neuen Mitgliedsländer an Russland grenzte.
Dann wanderte der Blick der Nato weiter nach Osten. Auf dem Gipfel 2008 in Bukarest beriet sie über eine Aufnahme Georgiens und der Ukraine. Die Regierung George W. Bush unterstützte das Vorhaben, Frankreich und Deutschland aber waren dagegen, weil sie fürchteten, Russland gegen sich aufzubringen. Am Ende einigten sich die Nato-Mitgliedsstaaten auf einen Kompromiss: Das Bündnis leitete keine formale Aufnahmeprozedur ein, sondern gab lediglich eine Erklärung ab, in der es die Bestrebungen Georgiens und der Ukraine begrüsste und rundheraus erklärte: «Diese Länder werden der Nato beitreten.»
Für Moskau war dieses Ergebnis alles andere als ein Kompromiss. Putin liess wissen, die Aufnahme dieser beiden Länder in die Nato stelle für Russland eine «unmittelbare Bedrohung» dar. Einer russischen Zeitung zufolge liess Putin in einem Gespräch mit Bush durchblicken, «dass die Ukraine, sollte sie in die Nato aufgenommen werden, aufhören werde zu bestehen».
Die russische Invasion Georgiens im August 2008 hätte jeden Zweifel an Putins Entschlossenheit, Georgien und die Ukraine am Nato-Beitritt zu hindern, ausräumen müssen. Doch ungeachtet dieser unmissverständlichen Warnung liess die Nato nie offiziell von ihrem Ziel ab, Georgien und die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen. Und im Jahr 2009 schritt die Nato-Ost-Erweiterung mit der Aufnahme Albaniens und Kroatiens fort.
Auch die EU marschiert gen Osten. Im Mai 2008 beschloss sie ihre Initiative «Östliche Partnerschaft», die in Ländern wie der Ukraine den Wohlstand fördern und sie in den EU-Wirtschaftsraum integrieren sollte. Wenig überraschend sieht die russische Staatsführung in dem Plan eine Bedrohung ihrer nationalen Interessen. Im vergangenen Februar, ehe Janukowitsch aus dem Amt gedrängt wurde, warf der russische Aussenminister Sergej Lawrow der EU vor, sie versuche, eine «Einflusssphäre» in Osteuropa zu schaffen.
Ein weiteres Instrument des Westens zur Ablösung Kiews von Moskau ist schliesslich das Lancieren westlicher Werte und die Förderung der Demokratie in der Ukraine und anderen postsowjetischen Staaten, häufig über die Finanzierung prowestlicher Personen und Organisationen. Victoria Nuland, die stellvertretende US-Aussenministerin für europäische und eurasische Angelegenheiten schätzte im Dezember 2013, dass die Vereinigten Staaten seit 1991 mehr als 5 Milliarden Dollar investiert hatten, um der Ukraine zu «der Zukunft, die sie verdient», zu verhelfen. Teil dieser Bemühungen war die Finanzierung des National Endowment for Democracy (NED). Diese nicht-gewinnorientierte Stiftung finanzierte mehr als 60 Projekte, deren Ziel die Förderung der Zivilgesellschaft in der Ukraine war, und der Präsident des NED, Carl Gershman, nannte das Land «den grössten Gewinn». Nachdem Janukowitsch im Februar 2010 die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte, kam das NED zum Schluss, dass er seine Ziele untergrabe, und intensivierte daher seine Bemühungen, die Opposition zu unterstützen und die demokratischen Institutionen des Landes zu stärken.
Wenn russische Führer das westliche Social engineering [die soziale Manipulation] in der Ukraine betrachten, machen sie sich Sorgen, dass ihr Land das nächste sein könnte. Angesichts der Anstrengungen des Westens, gesellschaftliche Strukturen in der Ukraine zu beeinflussen, befürchtet die russische Staatsführung, ihr Land könnte als nächstes dran sein. Und solche Befürchtungen sind durchaus nicht unbegründet. So schrieb der Präsident der US-Stiftung National Endowment for Democracy, Carl Gershman, im September 2013 in der «Washington Post»: «Die Annäherung der Ukraine an Europa wird den Niedergang der von Putin repräsentierten Ideologie des russischen Imperialismus beschleunigen.» Und er fügte hinzu: «Auch die Russen stehen vor einer Entscheidung, und Putin findet sich womöglich auf der Verliererstrasse wieder, nicht nur im nahen Ausland, sondern auch in Russland selbst.»
Die Herbeiführung einer Krise
Das Dreierpack politischer Massnahmen des Westens – Nato-Ost-Erweiterung, EU-Ost-Erweiterung und Förderung der Demokratie – war die Nahrung für ein Feuer, das nur noch entzündet werden musste. Der Funke kam im November 2013, als Janukowitsch einem wichtigen Wirtschaftsabkommen, das er mit der EU verhandelt hatte, eine Absage erteilte und statt dessen ein Gegenangebot der Russen über 15 Milliarden Dollar annahm. Dieser Entscheidung folgten regierungsfeindliche Demonstrationen, in deren Verlauf bis Mitte Februar etwa hundert Demonstranten zu Tode kamen. Westliche Emissäre eilten nach Kiew, um die Krise zu lösen. Am 21. Februar unterzeichneten Regierung und Opposition eine Vereinbarung, nach der Janukowitsch bis zur Abhaltung von Neuwahlen im Amt bleiben sollte. Doch dieses Abkommen hatte keinen Bestand, und Janukowitsch floh schon tags darauf nach Russland. Die neue Regierung in Kiew war prowestlich und antirussisch bis ins Mark; vier ranghohe Mitglieder können durchaus legitim als Neofaschisten bezeichnet werden.
Die Rolle der USA ist zwar noch nicht in ihrer ganzen Tragweite bekannt, doch Washington hat den Staatsstreich offenkundig unterstützt. Victoria Nuland aus dem US-Aussenministerium und der republikanische Senator John McCain nahmen an den regierungsfeindlichen Demonstrationen teil, und der US-Botschafter in der Ukraine Geoffrey Pyatt erklärte nach Janukowitschs Sturz, der Tag werde «in die Geschichtsbücher eingehen». Wie einem öffentlich gemachten Telefonmitschnitt zu entnehmen ist, hatte Nuland einen Regimewechsel befürwortet und sich für den ukrainischen Politiker Arsenij Jazenjuk als Premierminister der neuen Regierung ausgesprochen, der es dann auch wurde. Kein Wunder, dass Russen aller politischen Couleurs glauben, der Westen habe bei Janukowitschs Amtsenthebung seine Finger im Spiel gehabt.
Für Putin war die Zeit gekommen, der Ukraine und dem Westen entgegenzutreten. Kurz nach dem 22. Februar befahl er den russischen Streitkräften, der Ukraine die Krim abzunehmen, die er bald darauf Russland einverleibte. Die Aufgabe stellte sich dank der Tausenden von russischen Soldaten, die bereits auf der Marinebasis des Krimhafens Sewastopol stationiert waren, als verhältnismässig einfach heraus. Die Krim stellte auch deshalb ein leichtes Ziel dar, weil die Bevölkerung zu rund 60 Prozent aus ethnischen Russen besteht. Die meisten von ihnen wollten von der Ukraine weg.
Als nächstes setzte Putin die neue Regierung in Kiew massiv unter Druck, sich nicht im Schulterschluss mit dem Westen gegen Moskau zu stellen, und machte deutlich, dass er eher die Staatsstruktur der Ukraine zerstören würde, als tatenlos dabei zuzusehen, wie sie zu einem Bollwerk des Westens vor Russlands Haustür würde. Zu diesem Zweck stellt er seither den russischen Separatisten in der Ostukraine Berater, Waffen und diplomatische Unterstützung zur Verfügung, damit sie das Land in einen Bürgerkrieg treiben. Er zog an der ukrainischen Grenze eine grosse Armee zusammen und drohte mit einer Invasion, sollte die Regierung in Kiew gegen die Rebellen vorgehen. Zusätzlich hob er den Preis für die russischen Erdgaslieferungen an die Ukraine stark an und forderte die Zahlung bereits erfolgter Exporte. Putin kämpft mit harten Bandagen.
Weiter hier....
http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1890
Indianer, du armer- musst auch sonntags arbeiten ? Hoofentlich gibt es einen Sonntagszuschlag...
Der von dir zittierte Artikel beschreibt die Nuancen der Realpolitik. Der Autor beschreibt die Ereignisse , erwähnt allerdings nicht alle Hintergründe und historischen Kontext, die Enfluß auf Entscheidungen hatten. Zur Nato-Osterweiterung kam es nichr, weil der Westen es so wollte, sondern, weil die ehemaligen Ostblockstaaten weg von Sowjetunion/Russland wollten. Die Kernfrage ist : warum ?
Warum wollten sie von einem Verteidigungsbündnis zu dem anderen wechseln ? Hatten die souverenen Staaten kein Recht dazu ? Und nochmals : warum, wenn sie mit der SU/Russland sooo gut hatten und seit Jarzehnten überzeugt waren, der Westen wäre böse und gefährlich ? Das konnte Russland zwar nicht gefallen aber es ist nun mal so...
Zum Sturz von Janukowich : warum wollten die seit Jahrhunderten an Russland gebundenen/befreundeten/verbrüderten Ukrainer plötzlich zur EU ? Zumindest diejenigen, die auf Maidan protestierten ? Nicht, weil USA oder EU so wollten, sondern, weil sie eine erneute Anbindung an Russland fürchteten und ihre Zukunft eher im Westen sahen. Hatten sie dazu kein Recht ? Es stimmt - die Ukraine ist ein zerrissenes Land - der Westen ist anders als der Osten und im Moment ist russische Propaganda sehr einflußreich dort. Deswegen wollen die zum größten Teil russifizierten Ostukrainer zurück zu Russland. Man kann den so genannten "Staatstreich" kritisch sehen aber auch hier war eher der Volkswille der Ukrainer als Machenschaften des Westens am Werk. Und warum ist Janukowich überhaupt abgehauen ?
Letztendlich sind sowohl die ehemaligen Ostblockstaaten als auch viele Ukrainer im 21. Jh angekommen, Russland ist im Anfang des 20-ten geblieben. Russland denkt, dass es wegen seiner schieren Flächengröße und der Atomwaffen die Welt nach seinem Willen gestalten kann und darf. Mag ja sein, dass es eine zeitlang Russland noch gelingt aber die Realität holt es schnell ein. Ich bin gespannt darauf was passiert, wenn in Zentralasien bald russlandaffine Regime fallen werden. Russland wird bald ziemlich allein stehen.
Kandyd