Katana » Fr 24. Mai 2013, 19:58 hat geschrieben:
Nur hat er diese Thesen weder zu einer Religion erhoben noch hält sich irgenein Evangele daran...
Stimmts?
Oh! - damals hielten sich allerdings jahrhundertelang ganze Generationen daran.
Es gab Texte in 2 Phasen: Die FRÜHSCHRIFTEN von 1523 (die positiv waren, weil Luther die Juden bekehren wollte) gaben den Juden - nicht nur in Deutschland - sehr viel Hoffnung.
Die SPÄTSCHRIFTEN - die Hetze - kamen 1543 und bedrohten das Leben vieler vieler ...
Luthers „Judenschriften“, gehörten wegen seiner Popularität zu den meistgelesenen Texten zum Thema Juden im 16. Jahrhundert. Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei wurde damals mit zehn deutschen und drei lateinischen Ausgaben, Vom Shem Hamphoras in sieben, die übrigen Schriften über Juden in jeweils zwei deutschen und einer lateinischen Ausgabe gedruckt. Buchdruck und Druckgrafiken
verbreiteten Luthers Sicht der Juden einschließlich seiner entmenschlichenden Invektiven weit, so dass sie zu wachsendem Judenhass in der Bevölkerung beitrugen und langfristig literarisch weiterwirken konnten. Sie bestimmten das damalige Judenbild des Luthertums, das die wesentlichen antijudaistischen Dogmen der Alten Kirche übernahm.
Trotz dieses Judenbildes unterstützten andere Reformatoren Luthers Forderungen von 1543 kaum; einige distanzierten sich ausdrücklich davon. Wolfgang Capito unterstützte Josel von Rosheims Bitte um Aufhebung des Durchzugsverbots in Sachsen, obwohl auch er von Bundesverlust und Verblendung der Juden ausging.[46] Heinrich Bullinger lehnte Luthers Schriften von 1543 wegen des Vorwurfs des „Judaisierens“ darin ab. Antonius Corvinus und Kaspar Güttel hielten die Solidarität der gemeinsamen Schuld von Juden und Christen vor Gott fest. Urbanus Rhegius bemühte sich in seiner Region um eine gewaltlose Judenmission. Andreas Osiander trat dem Ritualmordvorwurf 1529 in einer anonymen Schrift entgegen und widerlegte ihn anhand der Toragebote und des Talmud, die den Blutgenuss verbieten. -
Die meisten evangelischen Fürsten wollten die Juden als Wirtschaftsfaktor und Einnahmequelle behalten und ignorierten darum Luthers Forderungen von 1543. Das Kurfürstentum Sachsen erneuerte und verschärfte 1543 das Durchreise- und Aufenthaltsverbot für Juden von 1536. Einige Monate nach Luthers Tod wurden die Juden aus Braunschweig und weiteren Städten vertrieben. Philipp der Großmütige ordnete eine Talmudverbrennung an, verbot Juden das Zinsnehmen und setzte einen Inquisitor zur Überwachung dieser Vorschriften ein.
1570 veröffentlichte der Gießener Pastor Georg Nigrinus die Hetzschrift „Judenfeind“, deren aggressive antijüdische Polemik an Luthers Schrift von 1543 anknüpfte. Er griff er die Legenden des verbotenen Hostienfrevels auf und bedrohte damit das Leben der Juden in Hessen.
1577 gab der Leipziger Superintendent Nikolaus Selnecker, Mitautor der Konkordienformel, Luthers „Judenschriften“ von 1538 und 1543 mit seinem Brief an Josel von Rosheim und einer anoym verfassten Liste „schrecklicher Gotteslästerungen“ der Juden als Buch heraus. - Von den vielen Feinden der
Lutheraner seien die Juden besonders gefährlich, da sie überall gesellschaftlich aufgestiegen seien, während die wahre Lehre „greulichen Schiffbruch gelitten“ habe.[52] 1578 verfasste der Braunschweiger Pastor Martin Chemnitz ein Gutachten, das die Vertreibung der Juden aus evangelischen Städten als eine die Gewissen betreffende „Religionssache“ begründete und somit die lokalen Geistlichen für zuständig erklärte. Diese empfahlen ihren Kollegen in Einbeck,
Luthers Forderungen von 1543 umzusetzen, weil die Juden schon durch ihr Dasein Jesu Messianität bestritten und ihn und die Christen somit lästerten. Deshalb seien sie genauso wie „Sakramentierer“ und Sekten zu behandeln.
Der Judenschutz gefährde die einheitliche Durchsetzung des Augsburger Bekenntnisses. Die bisherige Duldung der Juden in den meisten evangelischen Gebieten galt den Autoren als Abkehr vom dogmatisierten lutherischen Glauben; Luthers Spätschriften galten nun als maßgebend dafür.
Eine Tendenz zur Radikalisierung des Antijudaismus im Gefolge der Reformation gilt als erwiesen. Die Ursachen dafür waren aber noch mehr als Luthers Schriften über Juden
als seine Stärkung der Obrigkeit zur Durchsetzung der evangelischen Lehre und Kirchengestalt,
Juden konnten nun leichter ausgegrenzt und nach Bedarf aus Fürstentümern und Städten vertrieben werden. Auch um sich von der evangelischen Seite abzugrenzen,
dogmatisierte die katholische Kirche umso stärker ihre bisherigen antijudaistischen Lehren, Ritualmordlegenden, erneuerte ihre Ghettoisierungs- und Kennzeichnungsgebote.[54]
Orthodoxie und Pietismus
Im 17. Jahrhundert lehnte die lutherische Orthodoxie die Judenmission als zwecklos ab. Theologen wie Johann Conrad Dannhauer und Johann Arndt deuteten
Israels „Verstockung“ im Anschluss an Luthers Spätschriften als endgültige Verwerfung aller Juden bis zum Endgericht. Sie forderten eine schärfere Unterdrückung der Juden als Teil von Kirchenreformen.
DANN:
Spener setzte die pietistische Position durch, indem er die Ursprungsversion der Lutherpredigt in die Neuauflagen der Hauspostille aufnahm. Damit machte er Luther zum Kronzeugen der Judenmission;
dessen spätere gegenteiligen Aussagen ließ er fortan unerwähnt. Zwar erinnerte Gottfried Arnold 1699 noch einmal an Luthers Schriften von 1543, betonte aber,
nur der frühe Luther sei für die Haltung zu den Juden verbindlich
Diese Sicht dann prägte das evangelische Lutherbild bis in das 20. Jahrhundert hinein.[56] Für die evangelische Kirche im Deutschen Kaiserreich (1870-1918) blieb Luthers Schrift von 1523 insgesamt maßgebend; seine Spätschriften galten als unvereinbar mit Paulus und der reformatorischen Theologie. Auch gemäßigte Antisemiten wie Adolf Stöcker beriefen sich nicht darauf.
Sie wurden bis 1933 in evangelischen Kreisen wenig beachtet; auch Dietrich Bonhoeffer kannte sie 1933 noch nicht.
Nationalismus und Antisemitismus
Seit der Französischen Revolution (1789) und der Herrschaft Napoleons (bis 1815) vereinnahmten deutsche Philosophen, Dichter und Historiker Luther für ihren romantischen oder idealistischen Nationalismus. Dieses Lutherbild vertraten im 19. Jahrhundert etwa Johann Gottfried Herder, Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte, Leopold Ranke, Heinrich von Treitschke und ein Großteil der protestantischen Theologen.
Vertreter des nationalistischen Lutherbilds übernahmen viele antijudaistische Klischees von Luther in ihre Ausgrenzungsrhetorik und formten sie allmählich in antisemitische Motive um..
Aus dem religiösen Gegensatz von Juden und Christen wurde ein angeblicher
ethnisch-rassischer Gegensatz von Juden und Deutschen;
Seit 1879 vertraten Antisemiten wie Islebiensis (Pseudonym eines anonymen Autors), Theodor Fritsch und Houston Stewart Chamberlain eine rassistische Lutherdeutung, für die sie sich ausschließlich auf Luthers spätere Aussagen zu Juden beriefen.
Auf diesen „Radau-Antisemitismus“ reagierten einige protestantische Theologen mit einer Doppelstrategie: Ludwig Lemme berief sich 1913 auf Luther, um politisch „scharfe Barmherzigkeit“, nämlich Enteignung und Entrechtung des angeblich dominanten Judentums, und zugleich „herzliche Nächstenliebe“, nämlich offensive kirchliche Judenmission zu fordern. Dabei sei vom Verfluchtsein aller Juden seit Jesu Kreuzigung auszugehen. Dass es noch Juden gebe, sei ein Versagen der Christen.
Alfred Falb deutete Luthers Ablass-Streit 1921 als Kampf „gegen das Eindringen jüdischen Geistes in die Kirche“ und fand die Grundzüge des „jüdischen Bolschewismus“ im AT.
Luther habe 1543 die „Judenausweisung“ als „unbedingte Notwehrmaßnahme eines ausgeplünderten Volkes erkannt“, aber den „letzten Schritt“ zur Trennung des christlichen Gottes vom jüdischen Gott nicht vollzogen.
Ähnlich forderte Artur Dinter 1926 eine
„Vollendung der Reformation“ durch konsequente „Entjudung“ Karl-Otto von der Bach begründete die „völkische Bedeutung der Reformation“ gegen die „jüdische Plage“ ausschließlich mit einer
Liste judenfeindlicher Zitate aus Luthers späteren Schriften.
Judentum
Luthers Schrift von 1523 empfanden viele Juden damals als Sensation: Zum ersten Mal seit über 1000 Jahren eröffnete ihnen ein einflussreicher christlicher Theologe die Aussicht, sie menschlich, gewaltlos, als gleichberechtigte Gesprächspartner in der gemeinsamen Bibelauslegung zu behandeln und auch ihre Rechtslage zu verbessern. Darum schickten holländische Juden Luthers Schrift als Hoffnungszeichen an die verfolgten Juden Spaniens. Andere sandten ihm zum Dank eine deutsche Übersetzung des 130. Psalms in hebräischer Schrift.[72] Josel von Rosheim erkannte jedoch nach seinem vergeblichen Kontaktversuch mit Luther, dass er von diesem keine Hilfe, sondern eher stärkere Entrechtung der Juden zu erwarten hatte.
1595 ließ Kaiser Rudolph II. auf Bitten der Judengemeinden Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lügen als „schamloses Schmachbuch“ konfiszieren.
Im 19. Jahrhundert reagierten deutsche Juden wie Johann Salomo Semler oder Heinrich Heine auf das nationalistisch-ausgrenzende Lutherbild, indem sie Luther ihrerseits zum Helden der Geistesfreiheit und Wegbereiter der Toleranz stilisierten. Seine judenfeindlichen Aussagen wurden dabei übergangen, nicht gekannt oder als für seine Genialität unwesentlicher Randaspekt vernachlässigt. Manche lehnten den ganzen Luther aufgrund seiner Spätschriften und deren antisemitischer Verwendung ab.
Heinrich Graetz erklärte den Widerspruch in Luthers Aussagen von 1523 und 1543 aus persönlicher Verbitterung, Rechthaberei und Unverständnis für die ethische Qualität des Judentums.
Luthers judenfeindliches „Testament“ habe die protestantische Welt lange „vergiftet“.