Von den Werten in der deutschen Politik

Moderator: Moderatoren Forum 7

Antworten
Benutzeravatar
Ökosystem
Beiträge: 245
Registriert: Mittwoch 29. März 2023, 16:21

Von den Werten in der deutschen Politik

Beitrag von Ökosystem »

Es wird in der Politik viel von Werten geredet - zustimmend als auch ablehnend. Aber was meint das eigentlich. Meine Fragen zielen konkret auf drei politische Schlagworte ab und wie dort der Begriff 'Werte' verstanden wird. Dies sind:

- Leitkultur,
- wertegeleitete Außenpolitik und
- Wertepartner.

In der phoenix runde spricht Anton Hofreiter im Kontext der Leitkultur davon, dass er 'ganz dediziert die Werte von Friedrich Merz eben nicht teilt'. Also Dissens über Binnenwerte. Annalena Baerbock spricht dagegen von wertegeleiteter Außenpolitik und benennt u.a. Indien und die Vereinigten Staaten als Deutschlands Wertepartner. Demnach Konsens über Außenwerte.

Fragen, die ich dazu habe sind:

- Sind die Werte in den Kategorien (Leitkultur, Außenpolitik, Wertepartner), die selben Werte oder jeweils andere?
- Kann es eine wertegeleitete Außenpolitik überhaupt ohne eine "wertegeleitete Innenpolitik" (Leitkultur) geben? Wenn ich mich nicht auf Werte innerhalb Deutschlands einigen kann, wie kann ich sie dann nach außen tragen?

(Ich habe den Faden hier eingestellt als Beitrag zur politischen Philosophie. Falls fehl am Platz, entsprechend verschieben.)
alle anders, alle gleich
Solimar
Beiträge: 60
Registriert: Dienstag 30. Januar 2024, 14:27

Re: Von den Werten in der deutschen Politik

Beitrag von Solimar »

"Leitkultur" hat einen negativen Beigeschmack. Wo man sie hochhält, wird sie einem aufgezwungen, ansonsten verfällt er der "Cancel Culture". Wer zB. LGBT kritisiert oder gar ablehnt, ist nicht weit davon entfernt in die Nazi-Ecke gedrängt, oder als religiöser Extremist abgestempelt zu werden.

Politik ist manchmal eine eklige Arena, wo Fairness keinen Pfifferling wert ist.
Puck Footin!
Benutzeravatar
Billie Holiday
Beiträge: 34361
Registriert: Mittwoch 11. Juni 2008, 11:45
user title: Mein Glas ist halbvoll.
Wohnort: Schleswig-Holstein, meerumschlungen

Re: Von den Werten in der deutschen Politik

Beitrag von Billie Holiday »

Solimar hat geschrieben: Montag 5. Februar 2024, 16:20 "Leitkultur" hat einen negativen Beigeschmack. Wo man sie hochhält, wird sie einem aufgezwungen, ansonsten verfällt er der "Cancel Culture". Wer zB. LGBT kritisiert oder gar ablehnt, ist nicht weit davon entfernt in die Nazi-Ecke gedrängt, oder als religiöser Extremist abgestempelt zu werden.

Politik ist manchmal eine eklige Arena, wo Fairness keinen Pfifferling wert ist.
Als Tourist oder Zuwanderer findet man Leitkultur in anderen Ländern sehr geil. Oder man bleibt für sich in seiner Community und plärrt, dass der Einheimische mit einem nichts zu tun haben will. Dann verbringt man sein Leben vor Ort halt nur als Berufstätiger. Auch schön.
Keiner zieht dorthin, wo er die Menschen und deren Kultur scheiße findet. Es sei denn temporär und für sehr viel Geld.
Wer in ein anderes Land geht und dort die Einheimischen, die Lebensart und die Kultur toll findet, erkennt eine Leitkultur an, er ist ja wegen ihr gekommen.

Anders hier, hier ist alles Mist, doof, rassistisch, häßlich und kulturlos. Mit diesem verächtlichen Selbstbild erwartet man aber die Zuneigung von sehr stolzen Menschen, die ihre eigene Kultur hochhalten. Mehr als Verachtung kommt da nicht - und ein wenig Mitleid mit dem armen Teutonen, der wieder mal zwischen den Extremen Selbsthass und Selbstüberhöhung schwankt. :D
„Wer mich beleidigt, bestimme ich.“ (Klaus Kinski)

„Just because you’re offended, doesn’t mean you’re right.“ (Ricky Gervais)
Corella
Beiträge: 4044
Registriert: Samstag 11. Januar 2014, 12:08

Re: Von den Werten in der deutschen Politik

Beitrag von Corella »

Mir wäre wohler, man könnte die Titel, die schon wie Kampfparolen gebraucht werden, mal auf 3 Stufen niedriger kochen, sich einfach bloß für Standards einsetzen. Abnahme von Produkten aus Pädofakturen, Umwelt-dumping etc eindämmen, soweit im Wettbewerb leistbar. Beginnt mit ordentlicher Diagnose, braucht starken internationalen Bund.
Und dann diese Themen nicht mit unseren Integrationslasten, die wir eingegangen sind und die erheblich sind, zu vermengen.
Benutzeravatar
Ökosystem
Beiträge: 245
Registriert: Mittwoch 29. März 2023, 16:21

Re: Von den Werten in der deutschen Politik

Beitrag von Ökosystem »

Corella hat geschrieben: Montag 5. Februar 2024, 18:14 Mir wäre wohler, man könnte die Titel, die schon wie Kampfparolen gebraucht werden, mal auf 3 Stufen niedriger kochen
Mein Eindruck ist, dass um Begriffe wie wertegeleitete Außenpolitik und Wertepartner gar nicht gekämpft wird. Die werden scheinbar einfach hingenommen. Kampfplatz ist immer nur Leitkultur. Aber wenn wir uns im Inneren der Diskussion um Werte verweigern, wie können wir sie dann in der Außenpolitik wie selbstverständlich hinnehmen und als Handlungsanleitung für den Umgang mit anderen Staaten nehmen? Wie gefragt, sind es andere Werte?
alle anders, alle gleich
Benutzeravatar
Ökosystem
Beiträge: 245
Registriert: Mittwoch 29. März 2023, 16:21

Re: Von den Werten in der deutschen Politik

Beitrag von Ökosystem »

Billie Holiday hat geschrieben: Montag 5. Februar 2024, 17:24 Als Tourist oder Zuwanderer findet man Leitkultur in anderen Ländern sehr geil...
Das Lemma 'Leitkultur' bei Wikipedia beginnt mit: "Leitkultur ist ein Begriff, der von dem Politologen Bassam Tibi in die politikwissenschaftliche Debatte eingeführt wurde, um einen auf europäischen Werten basierenden gesellschaftlichen Konsens zu beschreiben, der als Klammer zwischen Deutschen und Migranten dienen soll". Weiter heißt es dort von Tibi: „Eigentlich bedeutet Leitkultur nichts anderes als eine Hausordnung für Menschen aus verschiedenen Kulturen in einem werteorientierten Gemeinwesen.“

Wie Corella schreibt, man könnte den Begriff gerne auch auf niedriger Flamme kochen. Wie hier von Tibi eingeführt. Unser Gemeinwesen ist nach außen werteorientiert, aber nach innen nicht? Ich kriege das nicht zusammen.
alle anders, alle gleich
Benutzeravatar
Oliver Krieger
Beiträge: 214
Registriert: Dienstag 20. September 2022, 03:23
user title: Philosoph sine venia legendi
Kontaktdaten:

Re: Von den Werten in der deutschen Politik

Beitrag von Oliver Krieger »

Analysieren wir einmal die Situation.

1
Was Tibi als Leitkultur definiert, ist zweitrangig. Nicht, weil der Begriff unwichtig ist, er ist in vielerlei Munde, sondern weil sich jeder etwas anderes darunter vorstellen will. Sonst wäre es ein ideologisches Konzept, und Teil der Bildung und Erziehung.

Ferner findet man den Begriff vorrangig im politischen Bereich, dieser ist weniger theoretische, denn praktische Vernunft, was bedeutet, das Leitkultur eher das ist, was man sich darunter denken möchte, als das, was de facto darunter verstanden werden kann, oder muss.

Darum zählen zu diesem Begriff bspw. auch nicht die durch wirkungsstarke öffentliche Foren oder Autoritäten umgesetzten Werte, insofern sie eine Verbreitung finden, und eine Anleitung darstellen, und Auswirkungen haben, sondern Abstrakta, von denen sich die Diskursteilnehmer denken, dass sie einfach dazuzählen. Das bedeutet, der Begriff Leitkultur hat mit fakten-orientierter empirischer Wissenschaft so wenig zu tun, wie mit der Ideologie.

Aus politikphilosophischer Perspektive, supervenieren Werte über bloßen Interessen. Das bedeutet, dass sich die konkreten Interessen eines politischen Gemeinwesens ändern können, während die Werte unverändert bleiben, aber auch, dass die Interessen sich notwendigerweise ändern, wenn sich die Werte verändern. Werte bestimmen demnach die Interessen des Staatswesens, die Interessen aber nicht dessen Werte.

Weil Werte wichtiger sind als Interessen, werden Werte als allgemeine Konzepte definiert, Interessen aber als konkrete praktische Vorhaben. Werte sollen motivierend, und kausal sein, weil sie immer moralisch sind, und die Ursache von Interessen sein, deren Grund hinterfragt werden kann.

Interessen können indes auch andere Ursachen haben, als bloße Werte, nämlich gesellschaftliche Zustände. Werte indes, als Begriffe der Moral, sollen keine gesellschaftlichen Zustände zur Ursache haben, weil sie sonst von diesen abhängig, und korrupt, oder nur Hilfsmittel, aber nicht von zentraler Bedeutung wären.


2
Wenn Baerbock Indien und die USA nennt, dann gilt es zu kritisieren, was sie damit meint. Ohne nachzudenken, gelangt man zu der Vorstellung, dass gemeinsam praktizierte Demokratie der Punkt dieser Äußerung sein müsse, aber wäre dem so, dann würde Baerbock Norwegen und Neuseeland nennen, denn die US rangieren auf dem 30., Indien auf dem 46. Platz des Demokratie-Indexes (The Economist, Quelle Wikipedia), respektive auf dem 35. (USA) und 84. (Indien, Quelle : Demokratie-Matrix).

Das bedeutet, man kann die Äußerung Baerbocks so deuten, dass sie eigentlich meint, dass man es mit der Demokratie eben nicht so übergenau nimmt, sonst wären das norwegische und neuseeländische Demokratie-Modell ein Leitkonzept deutscher Leitkultur, ein "Vorbild". Doch so weit ist man in Berlin noch gar nicht.

Der außenpolitische Wert eines Landes, ist der außenpolitische Unwert des anderen. Wenn also USA und Indien genannt werden, weil deren außenpolitische strategische Interessen gewürdigt werden, so handelt es sich nur bei den USA um die Stärke, denn China ist stärker als Indien, und nur bei Indien um die Bedürfnisse, denn die USA hat mit außenpolitischen Bedürfnissen zu kämpfen (Einwanderung), löst diese aber anders, als Deutschland (Trumps Mauer nach Mexiko).

Die innenpolitischen Verhältnisse in den USA und Indien - Kriminalität und Korruption grassieren dort - können schwerlich als Vorbilder einer deutschen Leitkultur definiert werden, sicher ist also die Trennung von außenpolitischem und innenpolitischem Wert gemeint.


3
Weil Werte solcherart abgehoben, allgemein, moralisch, und motivierend sind, treten sie kaum in den Vordergrund. Niemand würde einen Menschen anzeigen, weil dieser irgendwelche Werte mit Füßen tritt. Im Gegenteil ist der Wert, obwohl Motivation der Interessen, diesen gegenüber praktisch nachrangig.

Weil Werte nirgendwo einheitlich, und zwingend definiert werden - es wäre falsch, derlei zu versuchen - so bleiben sie Gegenstände des Wunschdenkens, der Suggestion, der Kritik, und des Desinteresses.
___________________________________________
" Wir sind doch klüger als das normale Volk. ;) "
- funky71
Antworten