Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

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Skeptiker

Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Skeptiker »

Das was bestimmte Gruppen als Tugendterror erkannt haben, ist ein Effekt, der im englischsprachigen Raum seit einiger Zeit einen Namen hat: Virtue Signalling

Es geht darum seine Haltung zu zeigen. Im einfachen Fall, indem man Position bezieht - in meinen Augen eine normale Sache. Jeder sollte sich für Anliegen einsetzen können, die ihm wichtig sind.

Allerdings gibt es Fälle die ausarten, und man fragt sich, was es mit eigener Tugend zu tun hat, wenn man fremde Leute angreift, weil diese Signale nicht so abgeben, wie man sich das selber wünscht. Ein Beispiel für diesen Effekt hat Frank Stein gezeigt. Er verweist auf einen Beitrag bei n-tv: https://www.n-tv.de/leben/Wenn-Aktivism ... 86701.html

Da geht es also um Aktivisten, die Netzwerke betreiben, mit denen systematisch Personen und Organisationen aufgespürt werden, denen man fehlendes (!!!!) Zeigen von Haltung vorwirft. Bedeutet also, man muss selber gar nichts verbrochen haben, aber die Tatsache alleine, selber kein Aktivist zu sein und nicht selber so definierte Ungerechtigkeit zu beklagen, macht einen dadurch zum Ziel von Shitstorms (weil man dadurch angeblich Teil des Problems ist).

Mich erinnert das an religiösen Wahn. Wenn in einer Region oder gesellschaftlichen Gruppe eine Religion fundamental interpretiert wird, dann setzt das ggf. eine Spirale in Gang, in der alle Personen auf Konformität mit der geltenden Tugend überprüft werden, wodurch sich ein wahrer Wettstreit der Tugendhaftigkeit ergibt. Jeder, der sich diesem Trend in den Weg stellt, wird über Kurz oder Lang als Feind eingestuft - typischerweise hilft nur abducken.

Für mich ist die Frage: Ab wann wird der Versuch selber Tugendhaft zu sein toxisch? Kann man garnicht genug Tugendhaft sein? Oder sollte man sich mit der Tugend vielleicht insgesamt zurückhalten? Wo ist die Grenze?
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Billie Holiday »

Natürlich ist das Wahn und Fanatismus. Ob ich tugendhaft bin oder nicht, geht andere einen Scheißdreck an. Und ob und wie ich Gewaltopfern gedenke, ist meine Sache und sonst niemandes.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von DarkLightbringer »

Moderne Puritaner streben ein holistisch-kollektivistisches Weltbild an, das entsprechend einen Gegensatz zum Pluralismus bildet.

Ob das gefährlich ist?
Es wird darauf ankommen, ob sich a. autoritäre Sekten bilden und b., ob diese dann Einfluß erreichen oder aber als "Spinner" ein Dasein im Außenseitertum fristen.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Billie Holiday »

DarkLightbringer hat geschrieben:(28 Feb 2021, 12:04)

Moderne Puritaner streben ein holistisch-kollektivistisches Weltbild an, das entsprechend einen Gegensatz zum Pluralismus bildet.

Ob das gefährlich ist?
Es wird darauf ankommen, ob sich a. autoritäre Sekten bilden und b., ob diese dann Einfluß erreichen oder aber als "Spinner" ein Dasein im Außenseitertum fristen.
Deren Einfluß auf ältere Menschen wird wohl gering sein. Aber auf die jungen Generationen enorm. Deren Gefallsucht ist ja heute schon nicht zu übersehen.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Teeernte »

DarkLightbringer hat geschrieben:(28 Feb 2021, 12:04)

Moderne Puritaner streben ein holistisch-kollektivistisches Weltbild an, das entsprechend einen Gegensatz zum Pluralismus bildet.

Ob das gefährlich ist?
Es wird darauf ankommen, ob sich a. autoritäre Sekten bilden und b., ob diese dann Einfluß erreichen oder aber als "Spinner" ein Dasein im Außenseitertum fristen.
zu 90% sind derartige "Vereine" zu irgendeinem Zweck - fremdfinanziert.

Der gloriose Einfall der "heiligen Erleuchtung" kommt meist von Fremd. Leider haben manche Leute kein weiteres Eikommen - und hängen ihre ganze Lebenskraft in diese "FIRMA" - die das Einkommen generiert. Ob nun aus Spenden - oder nur Teil aus Spenden - und der Rest aus anderer Quelle.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von conscience »

"Virtue signalling wurde zum Kampfbegriff amerikanischer Konservativer gegen Liberale und Linke, etwa auf der rechten Nachrichtenwebsite Breitbart", schöne Sachen und Vorbilder, die sich der Skeptiker da zu eigen macht. Aber Tugend hat was. Denn: Während der französischen Revolution sind wegen der Tugend Köpfe gerollt.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von schokoschendrezki »

Gestern abend habe ich mir Florian Silbereisens "Schlagerchampions - das große Fest der Besten" angetan. Was ich offengestanden nur mit einigen Gläsern Wein auszuhalten vermag. Aber ich wollte mich einfach mal auf den Laufenden bringen in Hinsicht auf TV-Unterhaltungskultur in der Richtung "Schlager". Die meisten der auftretenden Akteure waren mir bekannt. Schaut man auf ihre Vita etwa bei Wikipedia, so gibt es grundsätzlich die Kategorie "Soziales Engagement". Soso: Eine der Sängerinnen der wiederbegründeten "No Angels" hat einer blindern Frau in Meißen einen Blindenhund geschenkt. Ich kniee nieder vor Ehrfurcht! Das ist wahrlich Tugendprotzerei. Es scheint nicht anders zu gehen. Ist das nun wirklich ein politisches Problem oder irgendein idiotisches Ding in der deutschen Unterhaltungsbranche?
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Sören74 »

schokoschendrezki hat geschrieben:(28 Feb 2021, 13:50)

Gestern abend habe ich mir Florian Silbereisens "Schlagerchampions - das große Fest der Besten" angetan. Was ich offengestanden nur mit einigen Gläsern Wein auszuhalten vermag. Aber ich wollte mich einfach mal auf den Laufenden bringen in Hinsicht auf TV-Unterhaltungskultur in der Richtung "Schlager". Die meisten der auftretenden Akteure waren mir bekannt. Schaut man auf ihre Vita etwa bei Wikipedia, so gibt es grundsätzlich die Kategorie "Soziales Engagement". Soso: Eine der Sängerinnen der wiederbegründeten "No Angels" hat einer blindern Frau in Meißen einen Blindenhund geschenkt. Ich kniee nieder vor Ehrfurcht! Das ist wahrlich Tugendprotzerei. Es scheint nicht anders zu gehen. Ist das nun wirklich ein politisches Problem oder irgendein idiotisches Ding in der deutschen Unterhaltungsbranche?
Da würde ich einfach zwischen sozialer Tätigkeit und deren Darstellung trennen. Die soziale Tätigkeit ist vorhanden, ob man sie aber größer darstellt als berechtigt ein ganz anderer Punkt.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Skeptiker »

conscience hat geschrieben:(28 Feb 2021, 13:32)
"Virtue signalling wurde zum Kampfbegriff amerikanischer Konservativer gegen Liberale und Linke, etwa auf der rechten Nachrichtenwebsite Breitbart", schöne Sachen und Vorbilder, die sich der Skeptiker da zu eigen macht.
Natürlich ist Virtue Signalling ein Kampfbegriff. Du zitierst ja die Quelle die ich verlinkt habe. Da habe ich nichts zu verheimlichen.
"Herdprämie" ist ja auch ein Kampfbegriff - einer von sehr vielen. Die politische Linke war noch nie verlegen Phänomenen einen Namen zu verleihen. Warum auch nicht?

Die Existenz eines Kampfbegriffes erleichtert es zunächst nur den Effekt auszumachen. Dennoch kann man sachlich diskutieren wodurch der Effekt ausgemacht wird, ob er kritisch zu betrachten ist, er banal ist, oder gar nicht existiert. So what?
Aber Tugend hat was. Denn: Während der französischen Revolution sind wegen der Tugend Köpfe gerollt.
Und das soll nun was aussagen?
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Uffhausen »

Skeptiker hat geschrieben:(28 Feb 2021, 11:41)
Für mich ist die Frage: Ab wann wird der Versuch selber Tugendhaft zu sein toxisch?
Die Antwort hast du dir doch mit deiner Thread-Überschrift selbst gegeben: Wenn man sich fremdbestimmten (z. B. Hass-)Ideologien unterwirft, ist es mit der selbstbestimmten Tugendhaftigkeit vorbei.
"Man kann auf seinem Standpunkt stehen, aber man sollte nicht darauf sitzen." Erich Kästner
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Skeptiker »

schokoschendrezki hat geschrieben:(28 Feb 2021, 13:50)
...
Soso: Eine der Sängerinnen der wiederbegründeten "No Angels" hat einer blindern Frau in Meißen einen Blindenhund geschenkt. Ich kniee nieder vor Ehrfurcht! Das ist wahrlich Tugendprotzerei. Es scheint nicht anders zu gehen. Ist das nun wirklich ein politisches Problem oder irgendein idiotisches Ding in der deutschen Unterhaltungsbranche?
Da hast du was sehr wichtiges erwähnt.

Ja, bei öffentlichen Personen "scheint es nicht mehr anders zu gehen". Es scheint einen gewissen Druck zu geben sich tugendhaft zu zeigen, weil es ansonsten offenbar Konsequenzen gibt, die man vermeiden möchte (Shitstorm, Wahrnehmung als sozial kalt, nicht antworten können auf Fragen zum eigenen sozialen Engagement).

Tugendhaftigkeit wurde früher typischerweise durch Konformität mit oft religiös besetzten Moralvorschriften gesehen. Ich frage mich, ob der Rückgang der Vorbildfunktion der Kirche und damit die fehlende "Tugendhaftigkeit" die man durch Zugehörigkeit zu einer solchen moralstiftenden Organisation hat, durch übersteigerte Bekenntnishaftigkeit in sozialen Medien kompensiert wird, und dieser Trend zu einer Art neuer Tugendwelle wird, die gerade etwas "überschwingt".
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sören74 hat geschrieben:(28 Feb 2021, 13:55)

Da würde ich einfach zwischen sozialer Tätigkeit und deren Darstellung trennen. Die soziale Tätigkeit ist vorhanden, ob man sie aber größer darstellt als berechtigt ein ganz anderer Punkt.
Und ein wiederum anderer Punkt ist, ob man die Darstellung tatsächlicher oder vorgespielter Tugendhaftigkeit sowie deren "Einforderung" - so wie der Threadersteller - als "Toxisch" ansieht. Ich kann jedenfalls gut und ohne Vergiftungssysmptome damit leben. Mehr noch: Diese heuchlerische "Größerdarstellung" ist willkommener Anlass für ein paar Witze und bissige Bemerkungen.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von schokoschendrezki »

Skeptiker hat geschrieben:(28 Feb 2021, 14:10)

Da hast du was sehr wichtiges erwähnt.

Ja, bei öffentlichen Personen "scheint es nicht mehr anders zu gehen". Es scheint einen gewissen Druck zu geben sich tugendhaft zu zeigen, weil es ansonsten offenbar Konsequenzen gibt, die man vermeiden möchte (Shitstorm, Wahrnehmung als sozial kalt, nicht antworten können auf Fragen zum eigenen sozialen Engagement).

Tugendhaftigkeit wurde früher typischerweise durch Konformität mit oft religiös besetzten Moralvorschriften gesehen. Ich frage mich, ob der Rückgang der Vorbildfunktion der Kirche und damit die fehlende "Tugendhaftigkeit" die man durch Zugehörigkeit zu einer solchen moralstiftenden Organisation hat, durch übersteigerte Bekenntnishaftigkeit in sozialen Medien kompensiert wird, und dieser Trend zu einer Art neuer Tugendwelle wird, die gerade etwas "überschwingt".
Siehe oben: Dieses "Überschwingen" ist für mich eher der Anlass für polemische Entgegnungen. Ich wüsste nicht, wo da irgendein "Druck" entstehen sollte. Ja vielleicht in etwas zu beengter Nähe. Da wo die Leute aufpassen, ob der Nachbar rechtzeitig den Schnee weggefegt hat und wo die lokalen Behörden genau wissen, wer seine Steuererklärung nicht oder zu spät abgegeben hat. Sprich: In einem kommunitaristischen Umfeld. Darauf muss man sich aber auch entweder einlassen wollen oder die Courage haben, dies zu ignorieren.
Zuletzt geändert von schokoschendrezki am So 28. Feb 2021, 14:17, insgesamt 1-mal geändert.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Sören74 »

schokoschendrezki hat geschrieben:(28 Feb 2021, 14:11)
Mehr noch: Diese heuchlerische "Größerdarstellung" ist willkommener Anlass für ein paar Witze und bissige Bemerkungen.
Das sei Dir und anderen auch gegönnt. :)
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Sören74 »

Skeptiker hat geschrieben:(28 Feb 2021, 14:10)

Tugendhaftigkeit wurde früher typischerweise durch Konformität mit oft religiös besetzten Moralvorschriften gesehen. Ich frage mich, ob der Rückgang der Vorbildfunktion der Kirche und damit die fehlende "Tugendhaftigkeit" die man durch Zugehörigkeit zu einer solchen moralstiftenden Organisation hat, durch übersteigerte Bekenntnishaftigkeit in sozialen Medien kompensiert wird, und dieser Trend zu einer Art neuer Tugendwelle wird, die gerade etwas "überschwingt".
Da kann ich Dir in allen Punkten eigentlich nur zustimmen. Aber ich frage mich, ist Konformität nicht ein notwendiger Bestandteil in einer funktionierenden Gesellschaft? Ein gewisses Maß an Konformität braucht es immer. Das bringen uns schon unsere Eltern bei, damit wir in der Gesellschaft nicht immer unnötig in Konflikte geraten. Jetzt könnte man darüber debattieren, welches Maß an Konformität einfach notwendig ist und welches Maß an Individualität und Änderung wünschenswert.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Tom Bombadil »

schokoschendrezki hat geschrieben:(28 Feb 2021, 14:16)

Ich wüsste nicht, wo da irgendein "Druck" entstehen sollte.
Du bist ja auch keine Person des öffentlichen Lebens. Wer anonym vor sich hinlebt, am besten noch in der anonymen Großstadt in einer anonymen Mietskaserne, der hat wenig zu befürchten, auch wenn er anonym vor sich hintwittert oder -facebooked. Kommt aber der reale Name hinter dem Nickname ans Tageslicht, kann es damit schnell vorbei sein.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von DarkLightbringer »

conscience hat geschrieben:(28 Feb 2021, 13:32)

"Virtue signalling wurde zum Kampfbegriff amerikanischer Konservativer gegen Liberale und Linke, etwa auf der rechten Nachrichtenwebsite Breitbart", schöne Sachen und Vorbilder, die sich der Skeptiker da zu eigen macht. Aber Tugend hat was. Denn: Während der französischen Revolution sind wegen der Tugend Köpfe gerollt.
Man könnte es ja trumping up (auftrumpfendes Signal) nennen, um das Problem semantischer Vereinnahmungen zu umgehen.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von BlueMonday »

Erinnert mich an diese Echo-Farce wegen "Kollegah" als die 17fach Echo prämierte Helene Fischer ihre Echosammlung nicht brav zurückgeben wollte wie die anderen stromliniengeformten Sauberkünstler*innen und dann von allen Seiten bearbeitet wurde, damit sie endlich ihr Schweigen dazu wenigstens bricht. Den ganzen Echo haben sie gleich noch mitabgeschafft. Nicht, dass es darum sonderlich schade wäre, aber diese Überreaktion des Mainstreams ist schon mindestens bemerkenswert. Als ob die beiden Buben das Böse schlechthin wären. Wirklich auseinandergesetzt haben sich die Guten&Tugendhaften mit den Deliquenten sowieso nicht. Hier im Forum war es ja nicht anders.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von BlueMonday »

Skeptiker hat geschrieben:(28 Feb 2021, 13:56)

Natürlich ist Virtue Signalling ein Kampfbegriff. Du zitierst ja die Quelle die ich verlinkt habe. Da habe ich nichts zu verheimlichen.
"Herdprämie" ist ja auch ein Kampfbegriff - einer von sehr vielen. Die politische Linke war noch nie verlegen Phänomenen einen Namen zu verleihen. Warum auch nicht?

Die Existenz eines Kampfbegriffes erleichtert es zunächst nur den Effekt auszumachen. Dennoch kann man sachlich diskutieren wodurch der Effekt ausgemacht wird, ob er kritisch zu betrachten ist, er banal ist, oder gar nicht existiert. So what?

Und das soll nun was aussagen?
Vor allem wenn man diese dünnste, hier immer wieder angeschleppte "Argumentation" weiterspinnt: Die ganze "Diskussion" beschränkt sich dann nur noch auf dem "Argument", dass irgendein Anliegen, irgendein Einwand, irgendein Begriff von der Gruppe/Quelle X stammt. Und Quelle X ist ... irgendein einseitig negativ belegtes Prädikat folgt. Kurzer Schluss: Deshalb muss man sich gar nicht erst damit beschäftigen. EoD. Die Gegenseite macht es spiegelseitig genauso. Daraus besteht dann die ganze "geförderte politische Diskussion" in ihren immer weiter abgeschotteten Ideologieblasen.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Teeernte »

Sören74 hat geschrieben:(28 Feb 2021, 14:20)

Da kann ich Dir in allen Punkten eigentlich nur zustimmen. Aber ich frage mich, ist Konformität nicht ein notwendiger Bestandteil in einer funktionierenden Gesellschaft? Ein gewisses Maß an Konformität braucht es immer. Das bringen uns schon unsere Eltern bei, damit wir in der Gesellschaft nicht immer unnötig in Konflikte geraten. Jetzt könnte man darüber debattieren, welches Maß an Konformität einfach notwendig ist und welches Maß an Individualität und Änderung wünschenswert.
Die "Bearbeitung" der Masse erzeugt eine Polarisierung nach "allen" Seiten.

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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Skeptiker »

schokoschendrezki hat geschrieben:(28 Feb 2021, 14:16)
Siehe oben: Dieses "Überschwingen" ist für mich eher der Anlass für polemische Entgegnungen. Ich wüsste nicht, wo da irgendein "Druck" entstehen sollte. Ja vielleicht in etwas zu beengter Nähe. Da wo die Leute aufpassen, ob der Nachbar rechtzeitig den Schnee weggefegt hat und wo die lokalen Behörden genau wissen, wer seine Steuererklärung nicht oder zu spät abgegeben hat. Sprich: In einem kommunitaristischen Umfeld. Darauf muss man sich aber auch entweder einlassen wollen oder die Courage haben, dies zu ignorieren.
Ja. So lange das von einzelnen Personen ausgeht, kann man das mit einer gewissen Gelassenheit sehen. Aus dem verlinkten Artikel geht allerdings durchaus ein gewisser Organisationsgrad der Attacken hervor. Daher sehe ich da durchaus schon mehr dahinter.

In Form von Cancel Culture ist das für Unternehmen und öffentliche Personen in den USA durchaus ein relevanter Faktor - weniger NOCH in Europa. Ich denke daher, dass uns das durchaus noch beschäftigen wird.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von DarkLightbringer »

schokoschendrezki hat geschrieben:(28 Feb 2021, 14:16)

Siehe oben: Dieses "Überschwingen" ist für mich eher der Anlass für polemische Entgegnungen. Ich wüsste nicht, wo da irgendein "Druck" entstehen sollte. Ja vielleicht in etwas zu beengter Nähe. Da wo die Leute aufpassen, ob der Nachbar rechtzeitig den Schnee weggefegt hat und wo die lokalen Behörden genau wissen, wer seine Steuererklärung nicht oder zu spät abgegeben hat. Sprich: In einem kommunitaristischen Umfeld. Darauf muss man sich aber auch entweder einlassen wollen oder die Courage haben, dies zu ignorieren.
Du meinst das Geierwally-Syndrom - soziale Kontrolle durch die Dorfgemeinschaft.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von schokoschendrezki »

DarkLightbringer hat geschrieben:(28 Feb 2021, 23:07)

Du meinst das Geierwally-Syndrom - soziale Kontrolle durch die Dorfgemeinschaft.
Diese Art von Kontrolle, und das ist das Bemerkenswerte, ist nicht nur verbreitet sondern in vielen Fällen erwünscht. Aber nicht nur in Dorfgemeinschaften. Chinas Bevölkerung ist in ihrer großen Mehrheit absolut pro für ein digitales Sozialpunktesystem eingestellt. Sowohl die weißen wie auch die schwarzen Schafe sollen sichtbar sein.

Anderer Punkt: Ich habe gerade ein Intervie zum Thema "Me Too"-Debatte mit der bekannten Philosophin und Autorin Svenja Flasspöhler gehört. Ihr Motto: "Verlasst die Opferrolle". Wenn eine Frau für eine Bewerbung zum Vorsprechen in das Hotelzimmer eines Regisseurs gebeten wird und sich dann genau das herausstellt, was auch zu vermuten ist ... ja bitte: Dann kann sie sagen: "Ich bin hier wohl im falschen Film gelandet. Tschüss." Auch die Opferrolle bei den vermeintlichen Meinungsdiktaten und "Deutungshoheiten" hat mit der Paradoxie zu tun, dass man (gerechtfertigterweise) persönlich die vorherrschende Meinung in irgendeiner Bevölkerungsgruppe - und sei es die einer Mehrheit - ablehnt oder zumindest kritisiert. Gleichzeitig aber Konsens wünscht. So geht das nicht! Nehmen wir nur mal an, das Gebot der Tugendhaftigkeit oder auch die Vorgabe politischer Korrektheit gehen einem auf den Senkel. Ja bitte. Dann macht man da halt nicht mit! Ja was denn sonst? Ich lasse das Argument, dass das nicht geht nicht gelten. Es geht: Man befindet sich dann halt in einenr Außenseiterposition. Ja und?
Flasspöhler hat geschrieben: Und da muss ich einfach sehr klar sagen, das missversteht den Begriff der Autonomie radikal, weil autonom zu handeln, nun einmal heißt, dass man Widerstände in Kauf nimmt, dass man Risiken in Kauf nimmt, dass man mutig und selbstbestimmt handelt. Das genau meint der Begriff der Autonomie. Und wenn wir nicht davon ausgehen können, dass Menschen, Bürger wie Bürgerinnen, sich mündig verhalten in Situationen, dann sehe ich tatsächlich die liberale Demokratie in Gefahr.
https://www.swr.de/swr2/wissen/210221-s ... en-100.pdf

Es ist doch völlig klar: Man bekommt die Durchsetzung seiner eigenen Ansichten, wenn sie sich von denen irgendeiner Mehrheit unterscheidet doch nicht quasi als Verfassungsrecht in den Schoß gelegt.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von King Kong 2006 »

"Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, nicht mit schlechten" oder so ähnlich.
Wenn man zuviel weiß, wird es immer schwieriger, einfache Entscheidungen zu treffen.
Wissen stellt eine Barriere dar, die einen daran hindert, etwas in Erfahrung zu bringen.
- Frank Herbert, Die Kinder des Wüstenplaneten
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denkmal
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von denkmal »

JA.Auch zitiert als:
Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, nicht mit schlechten. Alle Menschen haben gute Absichten. (George Bernard Shaw zugeschrieben).
Interessant dabei
Diejenigen mit guten Absichten glauben, dass ihre Praktiken gut für die Gruppe sind; es ist für sie selbstverständlich. Sie rechtfertigen Kollateralschäden in dem Glauben, dass sie ein „höheres Gut“ vertreten. Der von anderen erlittene Schaden ist deutlich sichtbar und anerkannt, wird aber als ""zahlungswürdiger Preis"" abgeschrieben.
So sieht's aus. Opfer müssen gebracht werden (aber möglichst von den "anderen")...
Im Laufe ihres steinernen Daseins nehmen sogar manche Denkmäler menschliche Züge an.
© Martin Gerhard Reisenberg
(*1949), Diplom-Bibliothekar und Autor
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von BlueMonday »

Oder mit Nietzsche: "Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird."

Und das "road to hell is paved with good intentions" hat noch eine längere Geschichte: https://en.wikipedia.org/wiki/The_road_ ... intentions
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Umetarek »

DarkLightbringer hat geschrieben:(28 Feb 2021, 23:07)

Du meinst das Geierwally-Syndrom - soziale Kontrolle durch die Dorfgemeinschaft.
Hä? Wer Geierwally war weiß ich, was hat das mit Dorfkontrolle zu tun?
Mutter des Wahnsinns und Harmoniebeauftragte des Forums, sowie geprüfte Völkermörderin!
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von DarkLightbringer »

Umetarek hat geschrieben:(02 Mar 2021, 16:35)

Hä? Wer Geierwally war weiß ich, was hat das mit Dorfkontrolle zu tun?
Sie nahm eine gewisse Außenseiterrolle ein. Ist aber jedenfalls eine interessante Geschichte.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Bielefeld09 »

Teeernte hat geschrieben:(28 Feb 2021, 15:52)

Die "Bearbeitung" der Masse erzeugt eine Polarisierung nach "allen" Seiten.

13% Rechts steht 13% Links ....funktionierend ? ich würd eher INSTRUMENTALISIERT sagen.

Konform ist (ich schreib extra >>) _Billig ! (Kosten)
Was ist denn nun konform?
Sie Soldat!
Sorry Mods, lasst diese Laden am laufen. Das ist eben Demokratie :( :p
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von schokoschendrezki »

Eine wirklich bemerkenswerte Auseinandersetzung zum ganzen Themenkreis gabs aktuell im DLF, im Deutschlandfunk. Wie ich sie so auch noch nie erlebt habe. Am 25. Februar (vorige Woche Montag) gabs ein Interview mit dem ehemaligen Bundestagschef Thierse (SPD). Zusammenfassung:
Identitätspolitik von rechts führe zu Ausschließung, Hass und Gewalt, die aktuelle radikale Identitätspolitik von links zu Cancel Culture, sagte der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) im Dlf. Eine pluralistische Gesellschaft könne nur funktionieren, wenn Unterschiedlichkeiten zu Wort kämen.
https://www.deutschlandfunk.de/wolfgang ... _id=493111
Der zentrale Punkt bei Thierse war
Meine Beobachtung ist folgende. Wir leben in einer wahrlich pluralen Gesellschaft – ethnisch-kulturell, religiös-weltanschaulich, kulturell-sozial. Dieses Zusammenleben funktioniert nur, wenn wir erstens Ja sagen zu dieser Vielfalt, wenn wir sie akzeptieren – das ist nicht selbstverständlich – und wenn wir zugleich uns Mühe geben, an dem Wir zu arbeiten, an den Gemeinsamkeiten, das was uns verbindet.
Das Interview lief auch in einer neuen Reihe betitelt mit "Auf der Suche nach dem Wir".

Kurz darauf gabs eine scharfe Entgegnung gegen Thierse beim gleichen Sender von der Publizistin Anna Seibt:
Momentan gibt es in Deutschland vor allem eine dominierende Gruppe, die das „Wir“ gepachtet hat: Das sind vor allem weiß, heterosexuell und patriarchal geprägte Menschen, eine Gruppe, der Wolfgang Thierse und auch ich angehören. ... Wolfgang Thierse aber will und kann das strukturelle Problem nicht an-erkennen, dass im Moment nicht alle gleichberechtigt in unserer Gesellschaft teilhaben können. Das führt zu dem Paradox, dass er die Dominanz der Mehrheitsperspektive ignoriert und sie dennoch gleichzeitig mit all seinen Argumenten manifestiert: Was wäre so falsch daran, die Berliner M-Straße in Anton-Wilhelm-Amo-Straße umzubenennen? In Gedenken an den ersten bekannten schwarzen Philosophen und Rechtswissenschaftler Deutschlands, womit tatsächlich ein unsichtbarer Teil deutscher Geschichte sichtbar gemacht werden würde?
https://www.deutschlandfunk.de/erwideru ... _id=493179

Und dann, und nun wirds interessant, ein Gegengegenkommentar von Stephan Detjen, Chefkorrespondent im Hauptstadtstudio des DLF, einer der besten und klügsten Journalisten, die es im deutschsprachigen Raum gibt:
Die Diskussion um einen Zeitungsbeitrag und ein Deutschlandfunk-Interview des ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse ist Teil einer Auseinandersetzung, die Züge eines Kulturkampfes trägt. Es geht um tatsächliche oder vermeintliche Diskurshegemonien, Diversität in der Gesellschaft und Pluralität in den Medien. Dazu gehört auch die gestern an dieser Stelle gesendete Erwiderung auf das Thierse-Interview, die ihrerseits zu Klarstellung und Widerspruch herausfordert. ... Die demokratische Funktion öffentlich-rechtlicher Medien ist es, breite Diskursräume zu öffnen und darin einer Vielfalt unterschiedlicher Stimmen Raum zu geben. .... Im Zeichen eines dramatischen technischen, ökonomischen und generationellen Medienwandels verändern sich publizistische Selbstverständnisse. Traditionsreiche Medien und ihre Redaktionen sind Arenen von Auseinandersetzungen, in denen Journalisten nicht nur Beobachter, sondern Akteure sind. Es gehört deshalb auch zur Aufgabe von Medien, dieses innere Ringen um das eigene Selbstverständnis transparent zu gestalten. Deshalb diese Erwiderung auf eine Erwiderung.
https://www.deutschlandfunk.de/kontrove ... _id=493268

Sprich: Dieses ganze Ding rund um diese "Wir-Pachtung" gibt es nicht! Manchmal auch etwas vornehmer "Diskurshoheit" genannt. Wir leben in einer grundsätzlich diversen Gesellschaft. Und jeder Mensch auf der Welt wird als Mensch geboren, als Individuum und nicht als Teil eines Kulturkreises, einer Nation, sozialen Klasse oder Religionsgemeinschaft. Für mich als durch und durch liberal denkenden Menschen ist nicht die Seite entscheidend, von der aus um diese Wir-Pachtung gerungen wird. Sondern der Begriff und der Ansatz überhaupt. "Wir" ... das klingt nach Sozialismus. Oder Nationalismus. Oder beides zusammen. Oder zuweilen auch nach "Gottesstaat".
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Tom Bombadil »

Was Thierse verschweigt ist, dass die "aktuelle radikale Identitätspolitik von links" auch zu Ausschließung, Hass und Gewalt führt.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von firlefanz11 »

Was hier - es sei denn ich habe das überlesen - auch nicht aufgeführt wurde ist, dass Thierse öffentliches Anprangern von Einzelnen oder Institutionen nach Aussagen, die die Kritiker als diskriminierend oder als anderweitiges Fehlverhalten werten (sprich: Cancel Culture) als demokratiefeindlich einstuft. Wofür er wiederum von Esken u. Kühnert als rückwärtsgewandt hingestellt wurde, weswegen er jetzt in einem offenen Brief an die Beiden fragt ob er dann noch in der SPD erwünscht sei. :rolleyes:
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von firlefanz11 »

Tom Bombadil hat geschrieben:(03 Mar 2021, 11:26)

Was Thierse verschweigt ist, dass die "aktuelle radikale Identitätspolitik von links" auch zu Ausschließung, Hass und Gewalt führt.
Ach Quatsch! Die Linken sind doch alle soooo tolerant u. humanistisch...! Das ist doch alles nur legitimer Protest...! :rolleyes:
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Tom Bombadil »

schokoschendrezki hat geschrieben:(03 Mar 2021, 10:56)

Und jeder Mensch auf der Welt wird als Mensch geboren, als Individuum und nicht als Teil eines Kulturkreises, einer Nation, sozialen Klasse oder Religionsgemeinschaft.
Das ist fern jeder der Realität.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von DarkLightbringer »

Thierse bietet praktisch sein Deplatforming an, das innere Exil.
Heißt aber nicht, dass er dann nichts mehr sagen oder schreiben könnte. Es würde lediglich bedeuten, dass der "Untergrund" Zuwachs bekommt.
Im Deutschlandfunk kritisierte Thierse daraufhin Identitätspolitik von rechts wie von links. »Die Identitätspolitik von rechts ist eine Politik, die zu Ausschließung, zu Hass, ja zu Gewalt führt«, so der 77-Jährige: »Und die Identitätspolitik von links führt, wenn sie weiter so einseitig und in dieser Radikalität betrieben wird, zu Cancel Culture.« Zudem kritisierte er, dass gendergerechte Sprache »auf dem Verordnungswege« durchgesetzt werde.
https://www.spiegel.de/politik/deutschl ... 3f683fd07d
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Skeptiker

Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Skeptiker »

Tom Bombadil hat geschrieben:(03 Mar 2021, 11:26)
Was Thierse verschweigt ist, dass die "aktuelle radikale Identitätspolitik von links" auch zu Ausschließung, Hass und Gewalt führt.
Ja, aber man muss ihm schon anrechnen, dass er aufzeigt, dass es auch abweichende Meinungen dazu in der SPD gibt. Er hat ja auch vollkommen Recht - in meinen Augen.

Das wird wohl ein spannender Richtungsstreit. Eigentlich hatten Kühnert und seine von ihm installierten Vorsitzenden diesen Richtungsstreit ja schon für sich entschieden gesehen. Nun wird man also sehen ob es dagegen noch ein Aufbegehren gibt.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Sören74 »

Tom Bombadil hat geschrieben:(03 Mar 2021, 11:26)

Was Thierse verschweigt ist, dass die "aktuelle radikale Identitätspolitik von links" auch zu Ausschließung, Hass und Gewalt führt.
Vielleicht verschweigt er das, weil es das nicht so sieht.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von schokoschendrezki »

DarkLightbringer hat geschrieben:(03 Mar 2021, 12:01)

Thierse bietet praktisch sein Deplatforming an, das innere Exil.
Heißt aber nicht, dass er dann nichts mehr sagen oder schreiben könnte. Es würde lediglich bedeuten, dass der "Untergrund" Zuwachs bekommt.

https://www.spiegel.de/politik/deutschl ... 3f683fd07d
Nicht der "Untergrund". Nochmal der oben gepostete Gegengegenkommentar von Stephan Detjen. Sorry, wenn ich jetzt ein Zitat nochmal wiederholt zitiere;
Die Diskussion um einen Zeitungsbeitrag und ein Deutschlandfunk-Interview des ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse ist Teil einer Auseinandersetzung, die Züge eines Kulturkampfes trägt. Es geht um tatsächliche oder vermeintliche Diskurshegemonien, Diversität in der Gesellschaft und Pluralität in den Medien. Dazu gehört auch die gestern an dieser Stelle gesendete Erwiderung auf das Thierse-Interview, die ihrerseits zu Klarstellung und Widerspruch herausfordert.

Klarstellung, weil darin aus der Redaktion dieses Senders heraus ein Postulat formuliert wurde, dass es zu „unserer Aufgabe“ erklärte „Mauern aus Privilegien“ aufzubrechen. Welches „Wir“ hier auch immer sprach – es kann jedenfalls nicht ein redaktionelles Kollektiv gewesen sein. Der Rundfunk ist durch seinen Verfassungsauftrag zu innerer Pluralität verpflichtet, die sich im lebendigen Wettstreit unterschiedlicher Meinungen beweisen muss. Wenn auch nur der Anschein erweckt wird, ein Medium ertrage am Abend die Äußerungen eines Gesprächspartners nicht mehr, den man am Morgen zum Interview geladen hat, ist dem zu widersprechen.
https://www.deutschlandfunk.de/kontrove ... _id=493268
Der Mann hat nun passenderweise zur These vom "inneren Exil" die von der "inneren Pluralität" (jedenfalls dieses Teils des ÖRRs) aufgestellt. Und ich kann das bestätigen.

Darüber hinaus bringt dieser Kommentar die durchaus richtige und wichtige Erkenntnis zum Ausdruck, dass die Gesellschaft der Bundesrepulbik (wie auch andere Gesellschaften) grundlegend verändert haben. Diese alte gemütliche Bonner Bundesrepulbik kann auch nicht wiederhergestellt werden!
Es gab Zeiten, in denen diese Pluralität durch einen schlichten Proporz erfüllt werden konnte – heute ein Schwarzer im Interview, morgen ein Roter, einmal katholisch, einmal evangelisch, auf den Arbeitgebervertreter folgt der Gewerkschafter. Diese simple Rechnung geht in einer auf vielschichtigere Weise diversen Gesellschaft nicht mehr auf.
Wobei mit "Schwarzer" hier wohl eher "Unions-naher" gemeint sein dürfte. :p

Es gibt diese alte Bonner Bundesrepublik nicht mehr. Diese Zeiten, in denen sowas wie "Verhandlungen der IG Metall mit den Arbeitgebern" oder "Fluglotsenstreiks" regelmäßig die erste Meldung in der Tagesschau war. Die Katastrophe von Tschernobyl, die iranische Revolution, der polnische Papst, der beginnenden wirtschaftliche Aufstieg Chinas ... das waren in etwa zeitgleich Symptome eines grundlegenden Wandels der Welt.

Die Kritik an der Identitätspolitik von Thierse ist erstmal vollkommen richtig. Erst kürzlich hörte ich zum Beispiel einen Beitrag zur Geschichte der innerafrikanischen Sklaverei. Rund tausend Jahre lang haben Afrikaner Afrikaner als Sklavenjäger gejagt und dann an andere Afrikaner in Afrika (oder Araber im Nahen Osten) verkauft. Von den Zahlen her ist das Ausmaß der innerafrikanischen Sklaverei weitaus bedeutsamer als das der nordamerikanischen. https://www.hr-inforadio.de/podcast/wis ... 83176.html
Was letztere natürlich erstens nicht besser macht. Und zweitens sticht natürlich die nordamerikanische Sklaverei gegen ihr eigenes Selbstbild von Zivilisation und AUfgeklärtheit heraus. Aber egal: identitätspolitik ist sowieso Unsinn. Die Frage, die sich mir stellt, ist dann, warum Thierse sich an diesem "Suchen nach einem Wir" beteiligt. Es gibt kein "Wir". Bzw. jeder, dem es nach einem "wir" gelüstet kann sich dieses aus seinem Freundes-, Bekannten- und Chatpartnerkreis selbst zusammenbauen. Eine andere Diskussion wäre förderlicher: Eine, die ein positives Bild von Diversität zeichnet. So wie bei Detjen.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von BlueMonday »

schokoschendrezki hat geschrieben:(03 Mar 2021, 10:56)

Sprich: Dieses ganze Ding rund um diese "Wir-Pachtung" gibt es nicht! Manchmal auch etwas vornehmer "Diskurshoheit" genannt. Wir leben in einer grundsätzlich diversen Gesellschaft. Und jeder Mensch auf der Welt wird als Mensch geboren, als Individuum und nicht als Teil eines Kulturkreises, einer Nation, sozialen Klasse oder Religionsgemeinschaft. Für mich als durch und durch liberal denkenden Menschen ist nicht die Seite entscheidend, von der aus um diese Wir-Pachtung gerungen wird. Sondern der Begriff und der Ansatz überhaupt. "Wir" ... das klingt nach Sozialismus. Oder Nationalismus. Oder beides zusammen. Oder zuweilen auch nach "Gottesstaat".
Eher das gibt es zunehmend weniger: "Die demokratische Funktion öffentlich-rechtlicher Medien ist es, breite Diskursräume zu öffnen und darin einer Vielfalt unterschiedlicher Stimmen Raum zu geben."
Das ist allenfalls ein hehres Ideal, das immer ferner ist, kein Istzustand. Heute nimmt die Furcht, den Falschen einzuladen und ihm zuzuhören und damit ein falsches "Signal" zu geben, sich selbst damit zu beschmutzen, sich in ein falsches Licht zu rücken, immer weiter zu. "Sprich": Dem "Falschen" Raum und Stimme zu geben. Dieses Phänomen kann man ja selbst in diesem kleinen Forum zunehmend erleben. Die "Diskurshoheit" ist nach wie vor das Ziel der meisten Diskursteilnehmer. Selbst der "Liberale", der die "Meinungskorridore" wieder breiter werden lassen will, muss irgendwo nach dieser Hoheit gegen die "Wir-Pachtung" streben. Die gibt es nicht als Intention, als Wunsch, als implizites Ziel? Nimm allein die aktuelle Impfdebatte. Da geht es um "Solidarität" gegen die Unsoldarischen, um ein "höheres Ziel" nationale Tragweite, wider den unsolidarischen Egoisten, der nur an sich und sein kleines unerhebliches Vergnügen denkt. Der Evergreen der Kollektivisten und Holisten.

Mit "Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein. „Pfui über den Egoisten, der nur an sich denkt!“"
hat Max Stirner diesen Kollektivgeist schon treffend eingeleitet in seinem "Einzigen" - vor über 170 Jahren. Es hat sich nichts wesentlich geändert. Der Egoist ist immer das Problem, ist der zu Belehrende, der Einzufangende, der in die Gemeinschaft der Wohlmeinenden zurückzuholen ist. Bei der Virusverfolgung bis zur Klimarettung.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von schokoschendrezki »

BlueMonday hat geschrieben:(03 Mar 2021, 14:50)

Eher das gibt es zunehmend weniger: "Die demokratische Funktion öffentlich-rechtlicher Medien ist es, breite Diskursräume zu öffnen und darin einer Vielfalt unterschiedlicher Stimmen Raum zu geben."
Das ist allenfalls ein hehres Ideal, das immer ferner ist, kein Istzustand. Heute nimmt die Furcht, den Falschen einzuladen und ihm zuzuhören und damit ein falsches "Signal" zu geben, sich selbst damit zu beschmutzen, sich in ein falsches Licht zu rücken, immer weiter zu. "Sprich": Dem "Falschen" Raum und Stimme zu geben. Dieses Phänomen kann man ja selbst in diesem kleinen Forum zunehmend erleben. Die "Diskurshoheit" ist nach wie vor das Ziel der meisten Diskursteilnehmer. Selbst der "Liberale", der die "Meinungskorridore" wieder breiter werden lassen will, muss irgendwo nach dieser Hoheit gegen die "Wir-Pachtung" streben. Die gibt es nicht als Intention, als Wunsch, als implizites Ziel? Nimm allein die aktuelle Impfdebatte. Da geht es um "Solidarität" gegen die Unsoldarischen, um ein "höheres Ziel" nationale Tragweite, wider den unsolidarischen Egoisten, der nur an sich und sein kleines unerhebliches Vergnügen denkt. Der Evergreen der Kollektivisten und Holisten.
Wenn Du den zitierten Beitrag nicht nur liest sondern ihn auch anhörst wirst Du die Erregtheit über den identitätspolitisch korrekten kritisierten Vorgänger-Beitrag spüren. Es handelt sich bei dem Autor jedoch um den Leiter des Hauptstadtstudios und nicht um einen Praktikanten mit einem ersten Beitrag.
Mit "Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein. „Pfui über den Egoisten, der nur an sich denkt!“"
hat Max Stirner diesen Kollektivgeist schon treffend eingeleitet in seinem "Einzigen" - vor über 170 Jahren. Es hat sich nichts wesentlich geändert. Der Egoist ist immer das Problem, ist der zu Belehrende, der Einzufangende, der in die Gemeinschaft der Wohlmeinenden zurückzuholen ist. Bei der Virusverfolgung bis zur Klimarettung.
Wusstest Du übrigens, dass Friedrich Engels eine zeitlang mit Stirner befreundet war? Es hätte nicht viel gefehlt und Stirner wäre anstelle von Marx der Protegierte geworden.

Es gibt doch auch moderne Theoretiker und Vordenker liberaler individualistischer Einstellungen. Der - hier auch nicht selten angeführte - Kommunitarismus ist im wesentlichen der Gegenentwurf zum Konzept des egalitären Liberalismus, vertreten vor allem durch den amerikanischen Philosophen John Rawls. Nach diesem sollen die Menschen unterschiedlich sein und diese Unterschiedlichkeit auch ausleben. Und sie können dies, weil Gerechtigkeit nicht "erarbeitet" werden muss sondern sozusagen verrechtlicht ist. Du kannst gegen Demokratie, Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit usw. sein. Du kannst auch ein Buch darüber publizieren, dass du diese Prinzipien ablehnst. Kein Jota verlierst Du damit an Anspruch auf Meinungsfreiheit, Wahlen, Rechtsansprüche bis hin zu sozialen Leistungen. Du musst dir diese Rechte nicht etwa verdienen, indem du im Herbst Laub wegfegst, unentgeltlich Malerarbeiiten an der Grundschule machst und dich so benimmst wie sich im Dorf oder der Kleinstadt alle benehmen. So wie die Kommunitaristen sich das vorstellen.

Ungefähr hundert Jahre lang gab es die Praxis der Lynchmorde in den Südstaaten der USA. Mit teils grausamsten Einzelheiten. Leute wurden lebendig verbrannt. Einer Frau wurde das ungeborene Kind aus dem Leib gerissen. Vor Publikum. Auch vor Kindern. Anschließend gab es Barbeque. Und mit dem Beginn der Fotografie wurden die in Magnolienbäumen gehängten Leichen auf Postkarten abgezogen. Und am nächsten Sonntag ging man gut gekleidet zum Gottesdienst. Die Botschaft: Bei uns hier ... da läuft das so und so. Schau wies denen geht, die sich nicht daran halten. Das waren durch und durch kommunitaristische Veranstaltungen. Die Leitkulturphantasien eines Friedrich Merz gehen, konsequent zu Ende gedacht, in eine ähnliche Richtung.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von BlueMonday »

schokoschendrezki hat geschrieben:(03 Mar 2021, 15:23)
Mit Rawls konnte ich noch nie etwas anfangen. Letztlich gibt es keine unveräußerlichen Rechte oder so etwas. Alles ist erkämpft, erarbeitet, auf irgendeine Weise verdient und verteidigt.

Wenn du in den Kreis der Tugendhaften aufgenommen werden willst, dann hat das auch seinen Preis. Du brauchst Reputation. Einen Ruf. Und der gehört dir nicht wie ein Regenschirm. Du musst die richtigen Signale senden, das Richtige bekunden. Ein fehlendes Bekenntnis, ein Schweigen im falschen Moment kann dich schon verdächtig machen, deinen Ruf schädigen. Es gibt da geistig sehr "enge" Menschen und es gibt -selten- offenere Gesellen, die dir vielleicht auch mal ein Ohr schenken, obwohl du einen zweifelhaften Ruf bei den Tugendhaften hast, die dann beim Zuhören und Zusammensitzen ihren Ruf wiederum riskieren, sofern sie noch einen zu verlieren haben.

Mir ist es dann auch recht egal, ob jemand nur ein Praktikant ist, wenn er denn etwas Gescheites oder Interessantes zu sagen hat. Nichts ödet mich im Grunde mehr an als dieses Reputationsspiel unter diesen Bornierten. Ich zieh lieber dem Kaiser die Hosen aus.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von Teeernte »

Bielefeld09 hat geschrieben:(02 Mar 2021, 23:44)

Was ist denn nun konform?
Sie Soldat!
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Obs zu kalt, zu warm, zu trocken oder zu nass ist:.... Es immer der >>menschgemachte<< Klimawandel. :D
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von DarkLightbringer »

@ schokoschendrezki

Den Kommentar zum Kommentar habe ich jetzt zur Gänze gelesen und er ist gar nicht mal schlecht.
Sehe jetzt aber nicht, wo du mir eigentlich widersprichst.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von DarkLightbringer »

Skeptiker hat geschrieben:(03 Mar 2021, 12:20)

Ja, aber man muss ihm schon anrechnen, dass er aufzeigt, dass es auch abweichende Meinungen dazu in der SPD gibt. Er hat ja auch vollkommen Recht - in meinen Augen.

Das wird wohl ein spannender Richtungsstreit. Eigentlich hatten Kühnert und seine von ihm installierten Vorsitzenden diesen Richtungsstreit ja schon für sich entschieden gesehen. Nun wird man also sehen ob es dagegen noch ein Aufbegehren gibt.
Die Identitätspolitik von rechts UND links kritisch zu sehen wäre nahezu ein Alleinstellungsmerkmal.

Aber, so weit ich die Parteistrategen verstanden habe, zielt man eben gerade nicht auf tolle Angebote ab, sondern allein darauf, nicht zu viel an Grüne und Linke zu verlieren.

Bei der Landtagswahl in BaWü ringt die SPD allerdings um Platz 3, gegen AfD und FDP.
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Beitrag von schokoschendrezki »

BlueMonday hat geschrieben:(03 Mar 2021, 18:58)

Mit Rawls konnte ich noch nie etwas anfangen. Letztlich gibt es keine unveräußerlichen Rechte oder so etwas. Alles ist erkämpft, erarbeitet, auf irgendeine Weise verdient und verteidigt.

Wenn du in den Kreis der Tugendhaften aufgenommen werden willst, dann hat das auch seinen Preis. Du brauchst Reputation. Einen Ruf. Und der gehört dir nicht wie ein Regenschirm. Du musst die richtigen Signale senden, das Richtige bekunden. Ein fehlendes Bekenntnis, ein Schweigen im falschen Moment kann dich schon verdächtig machen, deinen Ruf schädigen. Es gibt da geistig sehr "enge" Menschen und es gibt -selten- offenere Gesellen, die dir vielleicht auch mal ein Ohr schenken, obwohl du einen zweifelhaften Ruf bei den Tugendhaften hast, die dann beim Zuhören und Zusammensitzen ihren Ruf wiederum riskieren, sofern sie noch einen zu verlieren haben.

Mir ist es dann auch recht egal, ob jemand nur ein Praktikant ist, wenn er denn etwas Gescheites oder Interessantes zu sagen hat. Nichts ödet mich im Grunde mehr an als dieses Reputationsspiel unter diesen Bornierten. Ich zieh lieber dem Kaiser die Hosen aus.
Vom Prinzip her hast du schon recht. Billie Holiday konnte in den 30er Jahren ihren berühmt gewordenen Song "Strange Fruit" über die Praxis der Lynchmorde in den Südstaaten im New Yorker "Café Society" deshalb zur Aufführung bringen, weil sie als totale Ausnahmekünstlerin wahrgenommen wurde. Und weil gleichzeitig dieser Ort in New York ein Ausnahmerefugium für die Begegnung von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft war.

Will man denn heute in den "Kreis der Tugendhaften" aufgenommen werden? Zwischen Billie Holiday und heute liegen etliche Wandelungen. Für die Postmoderne gilt: Anything goes. Wurde/wird ein Berlusconi als ein "Tugendhafter" wahrgenommen? Gewiss nicht! Ist/war er erfolgreich, reich, politisch einflussreich: Ganz gewiss! Auch ganz ohne Tugendausweis.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von schokoschendrezki »

DarkLightbringer hat geschrieben:(04 Mar 2021, 00:09)

@ schokoschendrezki

Den Kommentar zum Kommentar habe ich jetzt zur Gänze gelesen und er ist gar nicht mal schlecht.
Sehe jetzt aber nicht, wo du mir eigentlich widersprichst.
Ja. Widerspricht nicht.

Es regt mich ja auch ein bissel auf. Wenn die identitätspolitisch korrekte Kommentar-Autorin Anna Seibt als Entgegnung auf Thierse fordert, eine "M-Straße" in Berlin (gemeint ist die Mohrenstraße) in "Anton Wilhelm Amo-Straße" umzubenennen, so mag das in Bezug auf den Rechtsphilosophen afrikanischer Herkunft völlig berechtigt sein. Es besagt aber darüberhinaus nix. Die preisgekrönte nigerianische Schriftstellerin Adaobi Tricia Nwaubani ("I Do Not Come to You by Chance") bekannte im BBC, ihr Urgroßvater sei ein Sklavenjäger gewesen. Ließe sie sich auf dieses Identitätsding ein, so müsste sie sich zu einer Identität als Sklavenjägernachkommin bekennen. Hinter Parolen wie "die gerechte Sache des palästinensischen Volks" - nur als Beispiel - verbirgt sich in der Regel immer nur ein Machtanspruch. Und das gilt für alle Nationen in Nord, Süd, Ost und West. Für die sogenannten "Kulturen" gleichermaßen. Insbesondere für die sogenannte christlich-jüdisch-abendländische Kultur. Und es gilt gleichermaßen für die sogenannten großen Nationen und Völker. Das "British Empire", das "Mütterchen Russland", die "Grande Nation" usw.
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Re: Virtue Signalling - Wann wird Tugendhaftigkeit zur Hassideologie?

Beitrag von schokoschendrezki »

Ich will mit Bezug auf den Eingangsbeitrag nochmal ein konkretres Beispiel aufgreifen: Das Totschweigen des Phänomens der jahrhundertelangen innerafrikanischen Sklaverei. Ein Manuskript zum entsprechenden Audio-Beitrag find ich leider grad nicht. https://www.hr-inforadio.de/podcast/wis ... 83176.html Da wird definitiv, und zwar im ÖRR von einer Geschichtsverzerrung im Namen politischer Korrektheit gesprochen. Es ist also durchaus nicht so, wie immer wieder behauptet wird.

Konkret ging es in dem Beitrag u.a. um den sogenannten "Araber-Aufstand" (der Bevölkerung von Sansibar und des heutigen ostafrikanischen Tansania 1888 - 1890 gegen die deutsche Kolonialverwaltung). In dem Beitrag des hessischen Rundfunks wird das so dargestellt, dass die Europäer und speziell die Deutschen sich eigentlich für eine Abschaffung der Sklaverei einsetzten und dies von den ortsansässigen arabischen Sklavenhändlern bekämpft wurde. Also bitte: Ansichten, die man als hochgradig politisch inkorrekt einstufen könnte, können durchaus und auch im ÖRR publiziert werden.

Der Wikipedia-Eintrag zu diesem Aufstand argumentiert eher in anderer Richtung: Es sei vor allem der Hochmut und die Arroganz der deutschen Kolonialherren, die den Aufstand unter der Bevölkerung ausgelöst habe. Um sich über so etwas wie das Paarungsverhalten der Koala-Bären zu informieren ist Wikipedia genau richtig ... bei politisch aufgeladenen Themen sollte man jedoch kritisch sein. https://de.wikipedia.org/wiki/Aufstand_ ... %B6lkerung

Die historische Wahrheit dürfte trivial sein: Der Sklavenhandel war - trotz anderslautender Bekenntnisse - schlicht und einfach die ökonomische Basis für den Reichtum des Sultans von Sansibar und auch für den lebt es sich in Reichtum besser als in Armut. Und die Deutschen hatten tatsächlich ihrerseits kein Interesse am Sklavenhandel, sehr wohl aber ein Interesse an der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Landes. Alles andere: Christenheit, Islam, Abolitionismus, Befreiungsideologie usw. ist vorgeschoben. Ist Bemäntelung von Machterhaltungsstratgien, die sowieso und unabhängig davon schon beschlossen wurden.
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Re:

Beitrag von BlueMonday »

schokoschendrezki hat geschrieben:(04 Mar 2021, 08:52)


Will man denn heute in den "Kreis der Tugendhaften" aufgenommen werden? Zwischen Billie Holiday und heute liegen etliche Wandelungen. Für die Postmoderne gilt: Anything goes. Wurde/wird ein Berlusconi als ein "Tugendhafter" wahrgenommen? Gewiss nicht! Ist/war er erfolgreich, reich, politisch einflussreich: Ganz gewiss! Auch ganz ohne Tugendausweis.

Zu jeder Bewegung gibt es stante pedes freilich Gegenbewegungen. Es gibt den Opportunisten und den unbequemen Querschläger. Die meisten Menschen wählen den bequemeren, kostengünstigeren Weg, entsprechend dürfte sich dann das "man" anteilmäßig unter den Menschen aufteilen. Es wird ja auch keine Totalität behauptet, sondern allenfalls eine Entwicklung und Dynamik des "Tugendterrors" aufgezeigt.
Selbst das Dritte Reich war nicht total, sonst gäbe es es ja immer noch oder die DDR oder die Stalin-SU oder oder oder.

Es ist sicherlich eine Frage der Wahrnehmung (bzw. dessen, was man interessenbedingt nicht wahrnimmt und übersieht), aber von einem "anything goes" sind wir eher wieder weiter entfernt als dass wir uns ihm nähern. Wobei das gar nicht meine Utopie wäre. Der Mensch braucht Widerspruch und Reibungsfläche. Eine Lektion, die der Tugendhafte auch immer wieder lernen muss.
ensure that citizens are informed that the vaccination is not mandatory and that no one is under political, social or other pressure to be vaccinated if they do not wish to do so;
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Beitrag von schokoschendrezki »

BlueMonday hat geschrieben:(04 Mar 2021, 18:13)

Zu jeder Bewegung gibt es stante pedes freilich Gegenbewegungen. Es gibt den Opportunisten und den unbequemen Querschläger. Die meisten Menschen wählen den bequemeren, kostengünstigeren Weg, entsprechend dürfte sich dann das "man" anteilmäßig unter den Menschen aufteilen. Es wird ja auch keine Totalität behauptet, sondern allenfalls eine Entwicklung und Dynamik des "Tugendterrors" aufgezeigt.
Selbst das Dritte Reich war nicht total, sonst gäbe es es ja immer noch oder die DDR oder die Stalin-SU oder oder oder.

Es ist sicherlich eine Frage der Wahrnehmung (bzw. dessen, was man interessenbedingt nicht wahrnimmt und übersieht), aber von einem "anything goes" sind wir eher wieder weiter entfernt als dass wir uns ihm nähern. Wobei das gar nicht meine Utopie wäre. Der Mensch braucht Widerspruch und Reibungsfläche. Eine Lektion, die der Tugendhafte auch immer wieder lernen muss.
Das wir von einem anything goes eher wieder weg sind, ist richtig.

"Der neue Tugendterror", so war 2014 ein Buch von Thilo Sarrazin betitelt. Das ist mittlerweile nun auch schon rund 7 Jahre her. Da muss womöglich auch mal ein Upgrade her. Und schon damals waren seine sogenannten "Thesen" in diesem Buch einfach nur völlig platte Behauptungen. Ich nehme nur mal eine heraus: "Wer reich ist, sollte sich schuldig fühlen." Bitte? Es gibt seit ich glaube zwei drei Wochen eine Autowerbung im Ersten Öffentlichen ich glaub für BMW: Die ist so klassisch an den maskulinen Typ des übermotorisierten, überteuerten, inzwischen auch überdigitalisierten Fahrzeugs gerichtet, so dermaßen im Geist Mitte der Fünfziger ... von "Tugendterror" kann überhaupt keine Rede sein. Schon gar nicht im Öffentlichen TV. Dort gibts einen ganzen Abend lang im sogenannten "Ersten" DFB-Pokal. Auch hier in der Regel mit Trainern und Spielern, die durch und durch den maskulin geprägten Zeitgeist der 50er atmen. Heute war ich einkaufen in einem Supermarkt. Auf dem Parkplatz fast ausschließlich übermotorisierte, überteuerte, überdigitalisierte Großfahrzeuge. Marke BWM oder Audi oder Mercedes bevorzugt. Es schimpft auch niemand, wenn ich sage, dass die zu 90 Prozent wohlhabenden Russen gehören, die sich nebenan ein baptistisches schönes neues Gebetshaus hingesetzt haben. Tugendterror und Inkorrektheitsterror gleichermaßen und überall!
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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Beitrag von schokoschendrezki »

Der erwähnte Werbespot lief grad wieder: BWM 4 Cabrio. Also Tugendterror, jetzt aber mal wirklich, Tugendterror oder "Wer reich ist, sollte sich schuldig fühlen" sieht aber anders aus!
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