Selina hat geschrieben:(09 Nov 2019, 12:45)Ich stimme eigentlich oft mit dem von dir Gesagten überein. Zumindest in einigen Punkten. Bis dann meistens irgendein Satz kommt, den ich eben nicht so sehe, wo ich etwas völlig anderes erlebt habe. Und diese Differenziertheit muss einfach aushaltbar sein: Dass es eben auch andere Ex-DDR-Leute gibt, die vieles halt anders sehen, als es offiziell ständig erzählt wird ("Narrativ"). Diese individuelle Sicht - die im Übrigen ebenfalls mit DDR-Unrecht zu tun hat, aber eben nicht nur - kommt in den Medien während dieser nicht enden wollenden momentanen Feierlichkeiten einfach nicht vor. Und sie ist hier ebenfalls nicht gerne gesehen. Ich finde das schade, denn nur so, indem wir die vielen verschiedenen Geschichten einander erzählen und indem wir es aushalten, dass jemand auch mal eine ganz andere Sicht auf die Dinge hat, ohne die DDR als Gesamtpaket zu verherrlichen, kann eine Art der Verarbeitung geschehen. Indem man nur die offizielle Sicht duldet und alles andere als Teufelszeuchs verdammt, wird nichts aufgeklärt, verstanden und verarbeitet.
Welche individuellen Sichten auf die DDR kommen deiner Meinung nach nicht vor? Interessant z.B. fand ich in letzter Zeit eine aufkommende berechtigte Kritik, die eine zu starke Fixierung auf die Stasi anspricht. Manchmal bekomme man den Eindruck, die ganze DDR habe nur aus Mielkes Ministerium bestanden. Tatsächlich ist eine solche Sicht reichlich verzerrt. Das Leben, die Diktatur der Partei usw. waren natürlich bedeutend vielschichtiger. Ich bringe mal ein praktisches Beispiel:
Die ideologische Indoktrination, bzw. der Versuch derselben, begann bereits im Kindergarten, erstreckte sich über Schule, Berufsausbildung, Studium, den Zwangsdienst in der sogenannten NVA, bei Grenztruppen oder der Bereitschaftspolizei bis ins spätere berufliche und familiäre Dasein. Jeder war damit konfrontiert und jeder reagierte darauf anders, ging anders damit um.
Ich nehme hier nur mal meine Lehrzeit und dort die Lehrerin für Staatsbürgerkunde und ihre Kollegin für Sprachkommunikation (eine einfach andere Variante von Deutschunterricht). Bei der Staatsbürgerkundelehrerin, die ja eigentlich die parteiamtliche Dogmatik am klarsten und deutlichsten zu vermitteln hatte, wurde ich das Gefühl nicht los, dass die den ganzen Scheiß längst nicht mehr so richtig glaubte. Sie zog es einfach durch. Was sollte sie auch sonst machen? Die Alternative wäre Rausschmiss und vielleicht ein Job irgenwo am Fließband gewesen.
Im Gegenzug dazu dann deren Kollegin. Die war tatsächlich das, was man eine 180-Prozentige nennen konnte. Dazu kam noch, dass sie nicht die hellste Kerze auf der Torte war - vielleicht eine nicht unwichtige Voraussetzung um gläubige Kommunistin zu sein. Alles was sie von sich gab war dermaßen dogmatisch und rot gefärbt, dass es heute in einem Film zu Lachanfällen führen könnte. Vor kurzem fischte ich aus einem Karton auf der Straße das damalige Lehrbuch für Sprachkommunkation. So konnte ich noch eimal all die penetranten Texte lesen. Doch das war schließlich die Regel. Ob deutscher Duden, Deutschlehrbücher oder Mathematikbücher. Alles in diesem Land war vollkommen auf Indoktrination gerichtet. Bereits eine Durchsicht der von mir aufgezählten Bücher könnte einen Unvoreingenommenen Leser dazu bringen, über die Definition der DDR als Unrechtsstaat nachzudenken.
"Ich möchte an einem Ort sein, an dem es keine Politik gibt, keine Waffen, keine Religion."
Libanesin Anfang August 2020