jack000 hat geschrieben:(18 Sep 2019, 20:27)
Ich bin der Idee eines Grundeinkommens per se gar nicht abgeneigt. Aber m.E. ist da noch nichts auch nur einmal bis zu Ende gedacht.
=> Es hängen da weitaus viel mehr Faktoren da mit drin die in den einfachen Antworten verbreitet werden, z.B.:
- Was ist mit denen, die derzeit mehr Rente oder ALG1 als 1000€ haben?
- Was ist mit denen die einen Mehrbedarf haben (z.B. Gehbehinderte oder Personen die ein bestimmtes Essen benötigen (Diabetiker)?
- Derzeit gibt es z.B. auch im Stuttgarter Zentrum H4-Empfänger, bei einem Grundeinkommen wäre damit Feierabend
- Was ist mit den Gesellschaftlichen Auswirkungen? Bei einem Grundeinkommen müsste man ohne Arbeit aufs Land in die freien Wohnungen ziehen
- Wieviel wird denn denjenigen dann abgerippt werden, die dann arbeiten?
- Was ist überhaupt mit Krankenversicherung & CO?
- Was ist dann mit Mindestlohn und Tariflöhnen?
- Etc...
=> Gibt es irgendwo eine Quelle, wo das mal vollständig und in allen Zusammenhängen durchgerechnet wurde? Wenn ja würde ich mich da über einen Link freuen!
Du hast anscheinend eine bestimmte Vorstellung davon, wie "Dein" BGE-Modell aussehen soll. Wenn du diese postest, kann man konkret an diesem Modell sicher einen Teil der Fragen beantworten.
Generell gilt, dass man auch in einer BGE-Gesellschaft beliebig viel Ungerechtigkeit und Unsinn anstellen kann. Wer beispielsweise eine BGE-Gesellschaft mit 3000€ je Monat je Person umsetzt, wird sicher unter den heutigen Bedingungen den Zusammenbruch der Gesellschaft generieren. Wer ein BGE von 400€ fordert, aber gleichzeitig alle möglichen sozialen Leistungen wegfallen lässt, der generiert nur eine Massenarmut.
Es gibt einige Ansätze, wie man eine BGE-Gesellschaft realistisch organisieren könnte. ABer - ganz sicher wird es so sein, ganz gleich welchen BGE-Ansatz du umsetzt, du bekommst gegenüber der Gesellschaft von heute Gewinner und Verlierer. Das ist aber auch kein Alleinstellungsmerkmal - nahezu jede gesellschaftliche Reform, die die Finanzverteilung in der Gesellschaft verändert, bringt auch Gewinner und Verlierer mit sich. Entscheidend ist unterm Strich, ob es möglichst weniger Verlierer als Gewinner gibt, und: dass die Veränderungen von der Allgemeinheit mit einer Mehrheit als hinreichend gerecht empfunden werden.
Tatsächlich könntest du auch unser bestehendes System in eine BGE-Gesellschaft überführen - und zwar so, dass sich nahezu nichts verändern würde, weil vieles nur Rechnerei oder Rechte-Tasche, Linke-Tasche ist.
Wenn ich über eine BGE-Gesellschaft nachdenke, dann nähere ich mich deshalb auch von anderen Positionen, als zunächst zu versuchen, potentielle Problemstellungen zu finden. Ich mache mir statt dessen erst einmal Gedanken darüber, was ich alles HEUTE nicht gut finde, und wie man das anders organisieren könnte.
Ein Punkt dabei ist, dass wir heute schon in einer Gesellschaft leben, in der das Grundgesetz und in seiner Interpretation des Bundesverfassungsgerichtes festlegt, dass es so etwas wie ein allgemeines Recht auf Existenzsicherung gibt. Sicherlich nicht bedingungslos, und auch nicht zu jedem Preis - aber in mehreren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder betont, dass die Würde des Menschen auch und gerade dann unantastbar ist, wenn Menschen in Not sind - ihre Existenz ist dann durch staatliche Leistungen zu sichern. Dieses Kernprinzip ist auch über die Menschenrechte oder die EU-Grundrechtecharta prinzipiell abgesichert oder zusätzlich verankert in unseren westlichem Gedankengut.
Heute aber haben wir zahlreiche "Unstimmigkeiten" in den Gesetzen, wenn es darum geht, wie dieses Grundrecht auf Existenzsicherung umgesetzt wurde. Und gerade diese Unstimmigkeiten und Systembrüche bringen immer wieder Probleme mit sich, wenn es um die gesellschaftliche Akzeptanz geht. Mal neidet man den "Bedürftigen", dass sie "so viel" vom Staat bekommen, obwohl sie so wenig für die Gesellschaft tun - mal kreidet man an, dass es so viel Armut gibt, obwohl unsere Gesellschaft doch so reich ist.
Daraus entsteht dann die Frage, wenn man an einem grünen Tisch sitzen würde, und die Sozialgesetzgebung von der Pike auf neu erstellen würde - wie könnte man ein System einrichten, bei dem sichergestellt ist, dass zumindest die üblichen Kardinalfehler des heutigen Systems vermieden werden können.
Meine Antwort darauf ist: Ganz sicher sollte man das Problem der Existenzsicherung mal einheitlich in der Sozialgesetzgebung organisieren - also EIN Existenzgrundsicherungsgesetz, welches dieses Thema von der Wiege bis zur Bahre einheitlich organisiert. DAS wäre schon mal ein sehr großer Fortschritt! Denn heute ist die Existenzgrundsicherung teilweise in den SGBs organisiert, teilweise aber auch in der Steuerpolitik, Rentenpolitik und noch in vielen weiteren Politikfeldern zu finden - je nach Themenfeld, was man lösen möchte.
Das führt dann zur Frage: Was gehört eigentlich zur Existenzgrundsicherung dazu?
dazu gibt es schon Definitionen - aber auch die sind heute keineswegs in allen Bereichen einheitlich organisiert. Trotzdem kann man thematisch zusammenfassen:
- Nahrung und Grundbedarf an Kleidung u.ä.
- Wohnung
- in Teilen Kindergarten
- Schule und finanzielle Förderung bei der Ausbildung / Studium
- Absicherung bei Krankheit und Pflege
- prinzipiell auch das Thema "Haftpflicht"
- Durch das Bundesverfassungsgericht ist auch definiert, dass zur Existenzgrundsicherung eine gewisse minimalistische aber angemessene Beteiligungsmöglichkeit am öffentlich kulturellen Leben mit dabei sein muss.
Sitzt man auch wieder nur am grünen Tisch und kalkuliert daraus den
finanziellen Wert dieser Existenzgrundsicherung, dann kommt man hier auf einen Betrag von ca. 1000 - 1500€, je nachdem, welche weiteren Annahmen getroffen werden.
Diese Absicherung steht also prinzipiell jedem zu, sofern er sich gesellschaftlich "wohl" verhält.
Würde man dies am grünen Tisch (der Begriff hat nichts mit der Partei der GRÜNEN zu tun!) einheitlich organisieren, dann wäre schon vieles gewonnen! Ein Grundeinkommen ist EINE adäquate Antwort für diese Fragestellung - bedingungslos muss es dafür noch nicht sein (!). Tatsächlich wird zwar heute häufig über ein BEDINGUNGSLOSES Grundeinkommen gesprochen - gleichzeitig aber fordert niemand wirklich ein im echten Sinne bedingungsloses Grundeinkommen - es werden IMMER Bedingungen zugrunde gelegt - typischerweise beispielsweise was die Staatszugehörigkeit angeht, oder auch, dass die Höhe des Grundeinkommens bei unterschiedlichem Lebensalter differenziert ausgestaltet wird. Denkbar wäre auch, dass man den Wohnungsanteil an reale Wohnsituationen finanziell koppelt und ähnliches.
Man mache sich nun klar: Dieses Existenzgrundsicherungsprinzip steht auch HEUTE jedem (!) zu - nur geht der Staat heute davon aus, dass ein überwiegender Teil der Bevölkerung sich diese Existenzgrundsicherung selbst finanziert.
Doch genau damit entstehen systemische Probleme - weil es im Übergang zwischen denen, die sich die Existenzgrundsicherung selbst finanzieren (können/müssen) und denen, die zu 100% staatlich subventioniert werden, einen extrem schlecht organisierten Bereich gibt, der mit hohem Bürokratieaufwand und wenig Effizienz und zweifelhafter Effektivität ohne ausreichende Zielssicherheit irgendwie irgendwen mit irgendwas fördert oder auch nicht.
Hier mal einen Bürokratieabbau zu veranstalten, wäre schon mal ein sehr liberales Prinzip! Das geht insbesondere dann gut, wenn man sich seitens des Staates nicht mehr um jeden einzelnen Furz kümmert - sondern vielleicht ein paar Euros mehr in die Grundsicherung investiert, dafür aber dem Bürger Eigenverantwortung und Selbstorganisation zurückgibt! Also beispielsweise: Wenn heute eine Mutter mit Hartz IV für ihr Kind die Klassenfahrt finanzieren will, dann ist das ein erheblicher Aufwand, und mit Behördengängen und Bürokratie verbunden. Was, wenn man stattdessen der Mutter für das Kind 20€ im Monat mehr geben würde, dafür aber sagt: Das Kind hat ein Anrecht auf die Klassenfahrt, und bitteschön liebe Mutter, das hin zu bekommen - das ist DEINE Aufgabe! Wenn du es nicht hinbekommst, dann leidet dein Kind darunter - und wenn du dein Kind leiden lässt, dann steht in Frage, ob du in der Lage bist, für dein Kind angemessen zu sorgen.....
Ein anderes Thema wäre: Warum braucht der Millionär ein Grundeinkommen?
Antwort: Klar - braucht er eigentlich nicht. Ist aber die falsche Fragestellung. Denn beim Millionär würde man zwar das Grundeinkommen zahlen, aber auch nur deshalb, weil es eh sehr pragmatisch organisiert wird. Über Gegenfinanzierungsmaßnahmen würde man sich das Geld vom Millionär schon wieder zurückholen - also beispielsweise, weil der Steuersatz entsprechend angepasst wird.
Auf einer sehr abstrakten Stufe kann aber damit ein BGE-Modell auch als Transfergrenzenmodell beschrieben werden - das bedeutet, dass bis zu einer Transfergrenze die Menschen Empfänger von Geld sind, oberhalb der Transfergrenze sind sie Zahler. Genau dieses abstrakte Modell wurde im Ulmer Transfergrenzenmodell wissenschaftlich beschrieben - und auf der Basis dieses wissenschaftlichen Ansatzes wurde ein Excel zur Verfügung gestellt, über welches man auf der Basis von vorhandenen Statistikdaten zum Einkommen für bestimmte Eckwerte ausrechnen kann, welche Gesellschaftliche Gruppe finanziell wie hoch für welches BGE bezahlen müsste, und welche Einkommensgruppe tendenziell eher und wie stark zu den Gewinnern, oder eben zu den Verlierern gehören würde.....
Das Transfergrenzenmodell ist gut - weil es systemisch beschreibt, was bei einem BGE-Ansatz grundlegend passieren könnte. Für eine konkrete Umsetzung ist es wenig geeignet, weil man dafür erst einmal ganz real diverse Vorarbeiten in der Sozialgesetzgebung machen muss, damit man überhaupt seriös in ein solches Modell einsteigen kann. Ausserdem ist es wenig sinnvoll, weil das Modell erst einmal davon ausgeht, dass ausser der Organisation eines BGEs sich sonst nichts ändert. (ein typisch wissenschaftlicher Ansatz - realpolitik funktioniert so aber nicht.)
Vielleicht fängst du auf der Basis dieser oder ähnlicher Gedanken auch erst mal mit DEINEM Grüne-Wiese Ansatz an, und überlegst dir, wie du effektiv und effizient und möglichst gerecht einen Sozialstaat auf der Grünen Wiese organisieren würdest. Wer müsste wie viel für den Staatshaushalt beitragen - wie viel soziale Umverteilung findest du gerecht?
Auf der Basis solcher Überlegungen solltest du dir dann überlegen, wie man das effektiv gesellschaftlich näherungsweise umsetzen könnte, und dann auch, welche Effekte das gegenüber dem heutigen Ansatz haben würde.
DAS führt dann dazu, dass du mehr und mehr erkennst, wie viel Ungerechtigkeit in unserem heutigen Ansatz enthalten ist - und damit bist du dann auch eher bereit, emotional Gewinner und Verlierer bei einem alternativen Ansatz für richtig zu empfinden.
Es kann sein, dass du dann auch zum BGE-Befürworter wirst - oder dass du andere für dich stimmigere Konzepte findest - was ich ausschließen würde ist, dass du mit dem derzeitigen System zufrieden bist.
Also - fühle dich frei und eingeladen, dich in diesem Kontext an der Diskussion rund um ein BGE zu beteiligen.