Zur Abwechslung möchte ich hier mal kein Urteil diskutieren, sondern einen Artikel posten, der interessante Hintergründe zur Strafbemessung deutscher Gerichte liefert.
In der KriPoZ ist im Januar folgender Artikel erschienen:
https://kripoz.de/2018/09/20/die-oeffen ... -reformen/
Es wird darin über die Wahrnehmung der Strafzumessung für bestimmte Delikte geschrieben. Da geht es auch um die Analyse von Userkommentaren in Zeitschriften.
Ich poste hier nur mal Teile aus dem letzten Abschnitt des Beitrages, weil er interessante Erklärungsansätze, durchaus justizkritisch, aufzeigt, und auch Lösungsansätze darstellt.
2. Erklärungsansätze
Die beobachtete Kritik an den Urteilen der Strafgerichte lässt sich auf zwei Weisen erklären: (1) Es besteht tatsächlich eine Diskrepanz in der Strafschwereeinschätzung durch RichterInnen und Laien oder (2) Das Unverständnis über die Sanktionsentscheidung der Gerichte ist Folge eines defizitären Kommunikationsprozesses. Eine Annäherung an diese Fragen können Studien ermöglichen, die das Strafzumessungsverhalten von RichterInnen und Laien auf Basis gleicher Sachverhaltsinformationen untersuchen. Erste Erkenntnisse einer von der Verfasserin durchgeführten Befragung weisen darauf hin, dass Laien gerade im Bereich von Sexual- und Gewaltdelikten tatsächlich – deutlich – strengere Strafen befürworten als RichterInnen.[27]
a) Diskrepanzen in der Strafschwereeinschätzung
Eine unterschiedliche Bewertung angemessenen Strafens durch RichterInnen und Laien kann drei Ursachen haben: Die Strafvorstellungen der Bevölkerung sind zu hoch, die Urteile der Gerichte zu milde oder die Strafschwereeinschätzung der Gruppen beruht auf verschiedenen Prämissen.
aa) Unterschiedliche Wertungen
Möglicherweise legen RichterInnen und Laien ihrer Strafzumessungsentscheidung unterschiedliche Wertungen zugrunde.[28] So hat die Analyse der Kommentarspalten gezeigt, dass die Kritik der Nutzer an zu milden Strafen häufig mit der Vernachlässigung der Opferperspektive begründet wurde. Eine Hypothese könnte daher lauten, dass Laien die Folgen der Tat für das Opfer in ihrer Strafzumessungsentscheidung stärker gewichten als RichterInnen, die den Täter im Zentrum des Strafverfahrens sehen. Ebenfalls unterschiedlich scheinen RichterInnen und Laien die Bedeutung eines Geständnisses zu bewerten. In der gerichtlichen Praxis stellt die geständige Einlassung des Täters einen zentralen Strafzumessungsfaktor dar.[29] Ein Geständnis wird auch dann strafmildernd berücksichtigt, wenn es nicht „in erster Linie aus Schuldeinsicht und Reue, sondern aus verfahrenstaktischen Gründen im Rahmen der Verständigung“[30] abgegeben wird. Selbst wenn ein Geständnis bei Vorliegen „erdrückender Beweise“ erfolgt, ist dem Gericht eine strafmildernde Würdigung nicht verwehrt.[31] Viele Laien lehnen hingegen eine Strafmilderung für ein rein taktisches Geständnis ab. Damit liegen sie nicht „falsch“, sondern treffen eine nachvollziehbare Wertung, die auch im Schrifttum geteilt wird.[32] In der Tat birgt die geltende Rechtsprechung die Gefahr, ein Geständnis allein aus arbeitsökonomischen Gründen zu belohnen und dabei die Grenzen schuldangemessenen Strafens zu unterschreiten.[33] Ein weiteres Risiko besteht darin, dass die Strafmilderung zum Automatismus wird und RichterInnen selbst ein „schlichtes Geständnis“ am Ende einer eindeutigen Beweisaufnahme zu Gunsten des Angeklagten in Ansatz bringen. Ein solches Vorgehen wäre mit dem Ziel einer schuldangemessenen Strafe nicht mehr vereinbar; schließlich ist die Einlassung des Täters in diesem Fall weder ein Zeichen moralischer Besserung (die dann nicht mehr durch Strafe erreicht werden muss) noch kann in einem formelhaften Bekenntnis zur Tat eine ausreichende Kommunikationsleistung zur Anerkennung der verletzten Norm gesehen werden. Die öffentliche Kritik könnte hier also nicht nur legitim sein, sondern auf eine notwendige Korrektur der gerichtlichen Praxis hinweisen.
bb) Fehlende Entscheidungsmaßstäbe
Auf den ersten Blick liegt die Annahme nahe, dass RichterInnen gegenüber der Bevölkerung über eine „größere Urteilskompetenz“ verfügen und folglich eher in der Lage sind, „richtige“ Strafmaßentscheidungen zu treffen. Dabei wird jedoch stillschweigend vorausgesetzt, dass es für jeden Fall ein „richtiges“ Strafmaß gibt, dem sich die Beteiligten annähern können. Dass diese Voraussetzung nicht zutrifft, zeigt aber bereits die Tatsache, dass ausländische Rechtsordnungen andere Strafrahmen vorgeben als das deutsche Recht. Ob etwa ein Wohnungseinbruchsdiebstahl mit einem, drei oder fünf Jahren bestraft werden soll, lässt sich nicht theoretisch bestimmen, sondern ist das Ergebnis einer durch gesellschaftliche Rechtsvorstellungen geprägten Wertentscheidung.
Im Übrigen gibt das deutsche Strafrecht – abgesehen von den seltenen Fällen „absoluter“ Strafdrohungen wie in § 211 StGB – nur wenige verbindliche Maßstäbe für eine „richtige“ Strafzumessungsentscheidung vor. Die gesetzlichen Strafrahmen sind bei den meisten Tatbeständen sehr weit – so liegt die Mindeststrafe für Erpressung (§ 253 StGB) bei fünf Tagessätzen Geldstrafe, die Höchststrafe nach § 253 Abs. 4 StGB bei 15 Jahren Freiheitsstrafe. Auch die allgemeinen Regelungen in §§ 46-47 StGB enthalten nur vage Kriterien, deren Gewichtung und Verhältnis zueinander offen bleibt.[34] Damit wird die Frage nach der angemessenen Strafe dem jeweils entscheidenden Richter überlassen, ohne dass sich dieser auf klare gesetzliche Vorgaben stützen könnte. Dies hat zur Folge, dass Strafmaßentscheidungen unterschiedlicher RichterInnen, wie verschiedene empirische Studien gezeigt haben, nicht homogen sind, sondern ganz erhebliche Diskrepanzen aufweisen.[35] Jüngst hat Strengdie Erkenntnisse eines Experiments veröffentlicht, in dem RichterInnen in unterschiedlich zusammengesetzten Gruppen ein Strafmaß festlegen sollten. Die von den sieben „Gerichten“ für denselben Fall einer räuberischen Erpressung erarbeiteten Strafen reichten von 3 Jahren und 3 Monaten bis zu 8 Jahren Freiheitsstrafe.[36] Und auch der gleiche Richter verhängt für eine Straftat nicht immer dieselbe Sanktion: Studien, die den ProbandInnen in zeitlichen Abständen einen identischen Sachverhalt zur Bewertung präsentiert haben, belegen deutlich abweichende Strafmaßentscheidungen.[37] Angesichts dieser Befunde wird man der Kritik an einzelnen Urteilen schwerlich entgegenhalten können, dass die Strafzumessung durch das Gericht objektiv „richtig“ war und Einwände gegen sie daher unberechtigt sind.
Als Ausblick wird vorgeschlagen Strafbemessungsrichtlinien zu erarbeiten, wie sie in anderen Ländern existieren.
3. Ausblick: Die Einführung von Strafzumessungsrichtlinien
Gerichtliche Strafmaßentscheidungen treffen in der Bevölkerung nicht selten auf Unverständnis. Die gesellschaftlichen Folgen sind in hohem Maße problematisch: Die Wut über zu milde Urteile schwächt das Vertrauen in die deutsche Justiz und die Handlungsfähigkeit des Staates, begünstigt Vorbehalte gegen Ausländer und vertieft die Gräben in der deutschen Flüchtlingspolitik. Das Recht gibt den Gerichten kaum klare Maßstäbe für eine gerechte Strafzumessung an die Hand. Es kann daher wenig überraschen, dass richterliche Sanktionen regional und individuell höchst unterschiedlich ausfallen. Strafhöhen erscheinen daher nicht selten zufällig und sind der Öffentlichkeit kaum vermittelbar.
Diese Befunde machen ein grundsätzliches Umdenken im Bereich der Strafzumessung notwendig. Da es keine absolut „richtige“ Strafe gibt, müssen Strafrahmen und Strafzumessungskriterien das Ergebnis eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses sein. Aufgabe des Richters ist es, die vereinbarten Regelungen im Einzelfall anzuwenden – nicht aber, weitgehend losgelöst von rechtlichen Vorgaben eigene Strafzumessungssysteme zu entwickeln.
Transparente und allgemeingültige Maßstäbe für gerechtes Strafen könnten durch Strafzumessungsrichtlinien bestimmt werden, wie sie etwa in den USA oder Australien gelten.[48] Diesen Sentencing Guidelines begegnet man in der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur jedoch seit jeher mit Skepsis.[49] Ein wesentlicher Grund für die Vorbehalte dürften die oft drakonischen Strafen US-amerikanischer Gerichte sein, die – auch wenn einige Leser dies fordern (oben III. 4 a)) – kaum zum Vorbild dienen können.[50] Die strengen Strafen in den USA sprechen freilich nicht gegen das Modell der Strafzumessungsrichtlinien, sondern allenfalls gegen seine konkrete Umsetzung im US-amerikanischen Recht.[51] Für die Gestaltung einer deutschen Regelung könnten die Erfahrungen aus den USA nutzbar gemacht werden, um ähnliche Entwicklungen zu vermeiden. Gewichtigere Bedenken gegen Strafzumessungsrichtlinien bestehen allerdings dahingehend, dass ein vorab festgelegtes „Punktesystem“ für die Bestimmung der angemessenen Strafe der Komplexität des jeweiligen Einzelfalls möglicherweise nicht gerecht wird.[52] Eine strikte „Mathematisierung“ der Strafzumessung würde die Besonderheiten von Tat und Täter ausblenden und damit nur eine „vordergründige Gleichheit der Strafen“ herstellen.[53] Erlaubte man hingegen in großem Umfang Abweichungen durch den Richter, würde der Vorteil von Sentencing Guidelines erheblich relativiert.[54]
All dies vermag die Vorzüge von Strafzumessungsrichtlinien jedoch nicht grundsätzlich in Frage zu stellen.[55] Mit den Richtlinien würde die Gesellschaft grundlegende Entscheidungen darüber treffen, welche Strafhöhen sie für welche Taten als angemessen erachtet, welche Umstände eine Strafe mildern und welche sie verschärfen sollen. Der Richter erhielte auf diese Weise eine klare Orientierung für sein Urteil, und für die Öffentlichkeit wäre eine Strafmaßentscheidung, die auf feststehenden Kriterien beruht, leichter nachzuvollziehen. Sinnvollerweise wären Abweichungen von den Richtlinien zur Gewährleistung einer individuell gerechten Sanktionsentscheidung zulässig, müssten vom Gericht jedoch hinreichend begründet werden. RichterInnen wären also verpflichtet, sich mit den Richtlinien auseinanderzusetzen und eine unterschiedliche Einschätzung des angemessenen Strafmaßes zu erklären. Ein solches Modell würde dem Gericht den notwendigen Spielraum für die Berücksichtigung außergewöhnlicher Umstände belassen und gleichzeitig einen hohen Gewinn an Transparenz mit sich bringen.
Die Einführung von Sentencing Guidelines würde das geltende Strafzumessungsrecht grundlegend verändern und von den Gerichten ein erhebliches Umdenken erfordern. Um ein für RichterInnen praktikables Modell zu schaffen, müsste zuvor eine Vielzahl von Aspekten geklärt werden: etwa das Maß an Verbindlichkeit und an Detailgenauigkeit der Richtlinien. Zentral für die Akzeptanz von Strafzumessungsrichtlinien in Justiz und Öffentlichkeit dürfte die Entscheidung darüber sein, wer an der Erarbeitung der Richtlinien beteiligt wird: In welchem Umfang und auf welchem Wege sollen Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung Eingang in die Sentencing Guidelines finden – und welches Gewicht kommt sachverständigem Rat zu? Strafrechtswissenschaft, Politik und Justiz sollten den Mut haben, diese Diskussionen in den nächsten Jahren zu führen, und sich nicht aus Angst vor Veränderung mit dem status quo einer uneinheitlichen und für die Öffentlichkeit kaum nachvollziehbaren Strafzumessungspraxis begnügen.
Um es mal mathematisch zu formulieren: Es gibt einen extrem großen persönlichen Entscheidungsspielraum im deutschen Strafrecht (offenbar größer als in anderen Ländern), was zu einer sehr großen Streuung von Strafzumessungen führt. Zudem wird das Strafmittel durch Umstände begünstigt, die von der Bevölkerung nicht geteilt werden (wozu Milde für ein taktisches Geständnis? Wieso Strafrabatt für Arbeitsersparnis in der Justiz?). Bei der Menge an Urteilen muss das automatisch zu einer großen Menge viel zu milder Urteile führen (ggf. auch weniger zu harter). Das MUSS folgerichtig zu Irritationen zwischen Justiz und Bevölkerung führen.
Den Vorschlag Strafbemessungsrichtlinien zu erarbeiten finde ich sehr gut. Hoffen wir mal, dass daraus was wird.