https://www.bild.de/politik/inland/poli ... dAB49XU6igWie konnte Claas Relotius (33) dem Magazin so viele falsche Geschichten unterjubeln? Fake-Reporter gibt Preise zurück
Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ aus Hamburg ist laut Gründer Rudolf Augstein ein „Sturmgeschütz der Demokratie“, präsentiert sich als Musterbeispiel für seriösen Journalismus.
Doch dieses Image ist am Mittwoch mit einem lauten Knall vorerst in sich zusammengekracht.
Der neue Chefredakteur des „Spiegel“, Steffen Klusmann, versammelt die Redaktion. Heraus kommt: Der „Spiegel“ hat einen Reporter, der zuhauf Geschichten manipuliert oder frei erfunden hat.
Bis zu 55 Geschichten könnten mehr oder weniger ein Produkt der Fantasie des mehrfach preisgekrönten „Spiegel“-Reporters Claas Relotius (33) sein, der seit Jahren für das Magazin schreibt. Bis jetzt sind 14 Fälle nachgewiesen.
Inzwischen hat Relotius seine vier renommierten Deutschen Reporterpreise zurückgegeben. Das teilte die Jury der vom Deutschen Reporterforum vergebenen Auszeichnung am Donnerstag in Hamburg mit. Er habe sich per SMS bei ihr gemeldet und dies mitgeteilt. Er kam einer möglichen Aberkennung zuvor.
Auf die Spur der Machenschaften kam ein Kollege von Relotius. Juan Moreno hatte mit ihm an einer großen Geschichte über eine US-Bürgerwehr an der mexikanischen Grenze recherchiert. Dabei waren ihm Unregelmäßigkeiten des Kollegen aufgefallen. Doch mit seinen Bedenken stieß Moreno bei seinen Chefs beim „Spiegel“ auf taube Ohren.
Spiegel-Vize Ullrich Fichtner schrieb am Mittwoch auf „Spiegel Online“ in einem langen Text zum Skandal u.a.: „Im Streit mit und über Relotius riskiert Moreno seinen eigenen Job, zwischenzeitlich recherchiert er dem Kollegen, verzweifelt, auf eigene Kosten hinterher. Drei, vier Wochen lang geht Moreno durch die Hölle, weil Kolleginnen und Vorgesetzte in Hamburg seine Vorwürfe anfangs gar nicht glauben können.“
Zu diesen Vorgesetzten gehörte Fichtner jahrelang selbst. Aber schließlich hatte Moreno so viele Hinweise gesammelt, dass Relotius doch noch mit den Vorwürfen konfrontiert wurde.
Zunächst wies Relotius alles zurück. Doch Ende der vergangenen Woche musste er zugeben, dass er eine Vielzahl von Texten manipuliert oder erfunden hatte. Bis zum Schluss versuchte er, seinen Kollegen Moreno zu diskreditieren. Sogar mit gefälschten E-Mails.
In den Texten von Relotius kommen Menschen vor, die er nie getroffen hatte, Orte, an denen er nie war, Zitate, die niemand gesagt hatte. Er sammelte sein Material aus anderen Quellen und seiner Fantasie zusammen. Niemandem fielen die Lügen auf. Auch nicht der sogenannten „Dokumentation“.
Der „Spiegel“ rühmt sich für diese Abteilung, deren Aufgabe es ist, jeden Fakt, der in den Texten der Reporter geschildert wird, auf Korrektheit zu überprüfen. Doch im Fall Relotius ist diese journalistische Sicherheitsvorkehrung des „Spiegel“ implodiert.
Eine Katastrophe für das Magazin.
Wenn Schilderungen eines „Spiegel“-Reporters auf eigenen, undokumentierten Recherchen beruhen, kommt es vor, dass sie nachträglich nicht mehr zu überprüfen sind. Dann schreibt die „Spiegel“-Dokumentation ein spezielles Kürzel an den Rand des ausgedruckten Manuskripts - für „eigene Recherche“.
Relotius’ Texte müssen von diesen Kürzeln gewimmelt haben. Spätestens jetzt hätte es seinen Chefs auffallen müssen, dass irgendetwas nicht stimmt.
In seinem Text bezeichnet Fichtner die „Spiegel“-Fehlleistung mit einer gehörigen Prise Selbstmitleid und Pathos als „Schock“ und „stechenden Schmerz“. Er ließ offen, wer genau für die Fehler verantwortlich ist.
Eher schmallippig gibt er zu: „Dass es Relotius gelingen konnte, jahrelang durch die Maschen der Qualitätssicherung zu schlüpfen, die der ,Spiegel‘ in Jahrzehnten geknüpft hat, tut besonders weh.“
Für den „Spiegel“ ist der Skandal eine Katastrophe, die an die gefälschten Hitler-Tagebücher erinnert, auf die der Stern hereingefallen ist. Die Glaubwürdigkeit ist beschädigt, der gute Ruf für lange Zeit dahin.
Gerade in Zeiten von „Fake News“- und „Lügenpresse“-Brüllern schlägt dieser Skandal wie eine Bombe im Hauptquartier in der HafenCity ein.
Chefredakteur Klusmann: „Wir müssen uns nackig machen und die Hosen runterlassen. Alles transparent und sauber aufarbeiten.“
Auch preisgekrönte Texte waren Fälschungen
Mindestens 14 „Spiegel“-Texte von Relotius waren erstunken und erlogen. Darunter auch preisgekrönte Stücke. „Spiegel Online“ dokumentierte am Mittwoch u.a.:
▶︎„Ein Kinderspiel“ (Juni 2018): Unter dieser Überschrift schrieb Relotius, angeblich aus dem Syrien-Krieg, über einen 13 Jahre alten Jungen, der glaube, mit seinem Assad-feindlichen Graffiti den Krieg mit ausgelöst zu haben.
Erfunden!
Relotius reiste nicht nach Syrien, sondern führte angeblich WhatsApp-Gespräche. Ob der Junge wirklich Mouwiya heißt und Relotius jemals wirklich mit ihm gesprochen hat – der „Spiegel“ weiß es nicht.
Chefredakteur Steffen Klusmann am Mittwoch: Man wisse „nicht einmal ansatzweise“, wie viele Texte betroffen seien.
Drei Monate zuvor hatte Relotius über eine 59-jährige Amerikanerin geschrieben, die angeblich durch das Land reise, um bei Hinrichtungen zuzusehen („Die letzte Zeugin“, März 2018).
Relotius erzählt von seiner Busreise mit der Frau. Und von deren Ehemann, der sehr früh an Krebs gestorben sei. Doch: Diese Busfahrt gab es nie, den kranken Ehemann auch nicht. Und ob es Frau Gaddis wirklich gibt – unklar.
▶︎Erst vor einem Monat hatte Relotius von einer Bürgerwehr im US-Bundesstaat Arizona geschrieben, direkt an der Grenze zu Mexiko. Doch Relotius war gar nicht vor Ort, hatte mit keinem Mitglied der Bürgerwehr gesprochen.
▶︎Auch am Interview mit Traute Lafrenz, der letzten Überlebenden der Hitler-Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, hat der „Spiegel“ nun Zweifel. Relotius hatte mit der 99-Jährigen angeblich über AfD und „Lügenpresse“ gesprochen. Einen Monat zuvor hatte BILD mit Lafrenz ein autorisiertes Interview geführt.
Der „Spiegel“ hat angekündigt, eine Kommission zur weiteren Aufklärung des Betrugs einzuberufen. Wer Hinweise auf weitere Fälschungen habe, solle sich melden.
Er wurde mit Journalistenpreisen überhäuft
Claas Relotius galt dem „Spiegel“ als talentiertester Jung-Journalist, Shootingstar und Edelfeder: Er schrieb mit 28 Jahren als freier Journalist erstmals für das Magazin, nebenbei u. a. auch für die „Neue Zürcher Zeitung“, „Financial Times“, „taz“ und WELT.
Für seine Texte räumte er einen Preis nach dem nächsten ab: Der US-Sender CNN krönte ihn zum „Journalist of the Year“. Relotius gewann viermal den „Deutschen Reporterpreis“. Außerdem u. a. den „Peter Scholl-Latour-Preis“ (wurde ihm inzwischen aberkannt), den „European Press Prize“, den Katholischen Medienpreis sowie den „Reemtsma Liberty Award“.
Das ist für den Spiegel eine Katastrophe, wie konnte sowas passieren? Im Gegensatz zu den Hitlertagebüchern beim Stern war das ja ein Interner der den Spiegel beschissen hat.
=> Ein "Qualitätssystem" was so eindeutige Hinweise nicht bemerkt?