schokoschendrezki hat geschrieben:(28 Sep 2017, 08:41)
Wolfgang Merkel bezeichnet den von dir in dem Zitat beschriebenen Kosmopolitismus als "funktionalistisch" und beschreibt unmittelbar im Anschluss an den zitierten Text in dem von dir weiter oben verwiesenen Artikel einen zweiten, als "normativ" gekennzeichneten Typus. Der "funktionalistische" Kosmopolit ist vor allem durch "Reichweiten"-Kompetenz gekennzeichnet. Als Forderung und vor allem als Verfügbarkeit. Also der mobile, gebildete Weltbürger, der heute in London und morgen in Shanghai arbeitet. Und der die sozial Benachteiligten und ihr Bedürfnis nach Identität einfach als "Rechtspopulismus" abtut. Der "normative" Kosmopolit wiederum besteht vor allem auf "Entgrenzung", auf eine Aufhebung von Staatsgebilden und erweise sich damit bestenfalls als politisch naiv. Merkel hätte mit seinem Vorwurf der faktischen Entdemokratisierung als Folge dieser Art von Kosmopolitismus recht, würde sich dieser nur auf diese beiden Typen beschränken. Tut er aber nicht! Es gibt darüberhinaus einen Kosmopolitismus als strikte
Kollektivismusverweigerung. Insbesondere die Verweigerung eines Kollektivismus der Nation. Der aber die Bedeutung und Funktion von Gebilden wie "Staaten" keineswegs ablehnt. Will man unbedingt eine soziologische Beispielbiographie dafür haben, so wäre es neben dem Eliteangehörigen als "reichweitenkompetenten" Kosmopoliten und dem "Naiven" als Entgrenzungs-Kosmopoliten etwa der "mittellose Künstler" mit seiner selbstgewählten und den normativen sozialen Hierarchien bewusst widersprechenden gesellschaftlichen Stellung. Die - das muss betont werden - keineswegs auf soziale Entsolidarisierung hinausläuft.
Bezeichnend ist doch, dass Merkel überhaupt von Eliten spricht - einer relativ "dünnen" gesellschaftlichen Schicht also, der es im Grunde ausschließlich um die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen geht. Als "abgehängt" - sozial benachteiligt - wird damit jeder bezeichnet, der nicht zur Elite gehört - die Mehrheit der Bevölkerung! Demokratie ist bei der Durchsetzung dieser Interessen mehr als hinderlich.
Nun - vielleicht ist dir ja aufgefallen, dass Merkel bei der Beschreibung der beiden Typen von "Idealtypen" spricht, es in der Realität jedoch diverse "Mischtypen" gibt. Merkel hätte nicht nur recht - er hat recht, weil sich gegenwärtig abzeichnet,
dass tatsächlich eine Gruppe ihre eigenen Interessen - insbesondere politisch - durchzusetzen bestrebt ist.
Gemeinsamer EU-Haushalt, gemeinsames "Solidarsystem" etc funktioniert nicht ohne Aufgabe von Souveränitätsrechten und damit unter "Zurückdrängung" demokratischer Strukturen. Die Zurückdrängung demokratischer Strukturen zeichnet sich jedoch schon länger ab, indem bestimmte Beschlüsse und/oder Gesetzesvorlagen in den jeweiligen EU-Kommissionen - ohne Legitimation des EU-Parlaments - durchgesetzt werden. Auch das führt zu weiterer Polarisierung der Gesellschaft.
Was Kosmopoliten zunehmend negieren, ist die Tatsache, dass Zugehörigkeit zu Gemeinschaft, Nation, Kultur nicht zwingend Kollektivismus, "Kulturalismus" etc bedeutet, dass dadurch Individualität nicht aufgegeben wird und das führt zur Diffamierung dieser indentistästsiftenden Komponente als "identitär". Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft, einem Volk, einer Nation etc bedeutet zwar Abgrenzung von anderen, aber
nicht Abwertung des anderen. So wie sich jeder einzelne Mensch, durch seine ganz individuelle Identität von anderen Menschen abgrenzt - müssten eigentlich Individualisten, die ihre Individualität betonen, wissen - so grenzen sich auch Gruppen/Gemeinschaften von anderen Gruppen/Gemeinschaften ab - und das ganz ohne Wertung. Anders sein, bedeutet
nicht besser oder schlechter sein.
schokoschendrezki hat geschrieben:(28 Sep 2017, 08:41)Es wäre hochinteressant und vor allem aktuell hochbrisant, über diese Phänomene zu diskutieren. In einem Interview mit der TAZ von letzter Woche formuliert Wolfgang Merkel seine Thesen anlässlich des Wahlerfolgs der AfD in der zugespitzten Form "Linksliberale Kosmopoliten sind für den Erfolg der Rechtspopulisten mitverantwortlich". Und das ist ernst zu nehmen. Und mehr noch im gesamteuropäischen Maßstab. Dass es in Warschau Demonstrationen von tausenden Menschen mit EU-Flaggen gab, wird von selbstgefälligen westeuropäischen Linksliberalen vor allem mit der unsäglich dummen und völlig falschen Behauptung quittiert, dies täten sie vor allem, um sich "die Fleischtöpfe der EU" zu sichern. So verlieren wir einige der momentan wichtigsten potenziellen Kämpfer für Demokratie. Kein Wunder, dass sie sich dann lieber der Identität als Katholiken und polnische Nationalisten zuwenden. Linksliberale, arrogante westeuropäische Kosmopoliten sind für Kaczynski mitverantwortlich! Das ist vollkommen richtig.
Ich gehe sogar so weit, zu behaupten Kosmopoliten haben die Voraussetzungen für das Entstehen und die Etablierung rechtspopulistischer Parteien und Strömungen überhaupt erst geschaffen.
Sie ignorieren bzw negieren (sogar) die Möglichkeit und/oder Tatsache, dass Souveränitat, Nationalbewusstsein etc keinen Antagonismus zur EU bzw eine Absage an die EU bedeutet. Was spricht gegen eine europäische Gemeinschaft, in der souveräne Staaten
gemeinsam, wirtschaftliche, politische Interessen etc abstimmen, dass ein Minimalkonsens gefunden wird und nicht der Maximalkonsens um jeden Preis angestrebt wird. Der Preis für einen Maximalkonsens = Aufgabe von Souveränitätsrechten, Zurückdrängen demokratischer Strukturen etc könnte zu hoch sein und zu einem Auseinanderbrechen der EU führen. Die Anzeichen dafür mehren sich und auch die Anzeichen dafür, dass Rechtspopulisten und "echte" Rechtsparteien weiter an Zuspruch gewinnen.
Gegen die menschliche Dummheit sind selbst die Götter machtlos.
Moralische Entrüstung ist der Heiligenschein der Scheinheiligen