Parlamentswahl in Tschechien

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schokoschendrezki
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Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von schokoschendrezki »

In Deutschland redet man sich grad überall die Köpfe heiß wegen der bevorstehenden Bundestagswahlen.

Am 8. und 9. Oktober finden unmittelbar danach Parlamentswahlen (offiziell: Abgeordnetenhauswahlen) in Tschechien statt. Tschechien ist ein verhältnismäßig kleines Land aber immerhin eines unserer Nachbarländer.

Wie ist die aktuelle SItuation? 2017, bei den letzten Wahlen, gab es eine Art Erdrutschsieg der "Babiš -Partei" "ANO". ANO steht einerseits für tschechisch "JA" und dann und eigentlich für "akce nespokojených občanů, „Aktion unzufriedener Bürger“.

Für welche Politik steht diese Partei eigentlich? Antwort: Das weiß man eigentlich nicht. Links? Rechts? Man weiß es nicht! Ähnlich vielleicht wie bei den 5-Sternen in Italien. Und auch ANO gibt zumindest vor, ähnlich wie 5-Sterne vor allem gegen Korruption vorgehen zu wollen. Auf der anderen Seite steht an der Spitze kein Kabarettist sondern ein schwerreicher Oligarch. Also eine Mischung vielleicht von 5-Sterne/Grillo und Forza Italia/Berlusconi.

Die Voraussagen allerdings sehen diesmal ein Bündnis von Oppositionsparteien vorn, die ANO möglicherweise wieder in der Versenkung verschwinden lässt.

Das Besondere in Tschechien ist die bedutsame Rolle, die der tschechische Ableger der Piratenpartei spielt. Drittstäkste Partei 2017. (Prags Bürgermeister z.B. kommt von der Piratenpartei). Klar stehen die Piraten für Netz, Internet, Digitalisierung. Prag ist ein bedeutendes europäsiches Zentrum für Softwareentwicklung. Von kleinen innovativen Startups bis zu den Niederlassungen großer IT-Weltunternehmen. Vielleicht ein bissel unbekannt ist das Eintreten der tschechischen Piraten für Taiwan in Konfrontation mit dem großen China.

Ich befinde mich in diesem Augenblick gerade in Tschechien. In Lovosice an der Elbe. EIner Kleinstadt in der Region, die man mal irgendwann Sudetenland nannte. Auf dem zentralen Markplatz steht ein einziges Riesen-Wahlplakat der Piratenpartei. Ein Stückchen weiter in einer Nebengasse das der ANO-Partei. Andere Wahlplakate habe ich bei einem Spaziergang nicht erblickt.

P.S.: Impfausweis- bzw. QR-Code-Kontrollen fanden an der deutsch-tschechischen Grenze (in Sachsen) nicht statt. Weder in die eine noch in die andere Richtung. Irgendwo in einem Seitenwinkel der Autobahn hab ich unmittelbar vor der Grenze ein deutsches Polizeiauto gesichtet. Das wars. Wies in Bayern aussieht weiß ich nicht.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Quatschki »

schokoschendrezki hat geschrieben:(23 Sep 2021, 21:40)

Ich befinde mich in diesem Augenblick gerade in Tschechien. In Lovosice an der Elbe. EIner Kleinstadt in der Region, die man mal irgendwann Sudetenland nannte.
Die Region heißt Nordböhmen oder Böhmisches Elbland.
Der Name "Sudetenland" wurde 1918 nach dem Zerfall Östereichs bis 1945 für alle deutschböhmischen Gebiete benutzt. Eine politische, aber keine geographische Bezeichnung, denn die Sudeten sind ja nur der Gebirgszug zwischen Böhmen und Schlesien. Die Berge um Lovosice gehören hingegen zum Böhmischen Mittelgebirge.

Nächste Woche am 1. Oktober 2021 ist der 265.Jahrestag der Schlacht bei Lobositz
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Quatschki
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Quatschki »

Wenn ich Tscheche wäre, würde ich die Kommunisten wählen.
Weil die in allen Punkten, die mich an unseren "Linken" stören, vernünftige Ansichten haben.
Drauf so sprach Herr Lehrer Lämpel:
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von H2O »

Die Voraussagen allerdings sehen diesmal ein Bündnis von Oppositionsparteien vorn, die ANO möglicherweise wieder in der Versenkung verschwinden lässt.
Mit anderen Worten: Eine Koalition mehrerer kleiner Parteien, so wie sich das auch in Deutschland abzeichnet.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Adam Smith »

Quatschki hat geschrieben:(24 Sep 2021, 13:19)

Wenn ich Tscheche wäre, würde ich die Kommunisten wählen.
Weil die in allen Punkten, die mich an unseren "Linken" stören, vernünftige Ansichten haben.
Was wären denn diese vernünftigen Ansichten? :?:
Das ist Kapitalismus:

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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Quatschki »

Adam Smith hat geschrieben:(24 Sep 2021, 15:13)

Was wären denn diese vernünftigen Ansichten? :?:
Migrationspolitik, EU-Integration, Ausländerwahlrecht, Weltenrettung
Die tschechischen Kommunisten haben da eher nationalkonservative Ansichten.
Auch zur Vergangenheitsbewältigung.
Was natürlich aus deutscher Sicht doof ist, da sie jegliche Anfechtung der Beneš-Dekrete ablehnen - Tschechland den Tschechen
Drauf so sprach Herr Lehrer Lämpel:
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Adam Smith »

Quatschki hat geschrieben:(24 Sep 2021, 15:19)

Migrationspolitik, EU-Integration, Ausländerwahlrecht, Weltenrettung
Die tschechischen Kommunisten haben da eher nationalkonservative Ansichten.
Auch zur Vergangenheitsbewältigung.
Was natürlich aus deutscher Sicht doof ist, da sie jegliche Anfechtung der Beneš-Dekrete ablehnen - Tschechland den Tschechen
Bei den Beneš-Dekreten geht es doch nur noch darum, dass Sudetendeutsche in Tschechien keine Veranstaltungen ausrichten dürfen. Oder geht es um mehr?
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Vongole »

Adam Smith hat geschrieben:(24 Sep 2021, 15:46)

Bei den Beneš-Dekreten geht es doch nur noch darum, dass Sudetendeutsche in Tschechien keine Veranstaltungen ausrichten dürfen. Oder geht es um mehr?
Hier kannst du ein bisschen nachlesen:
https://www.eu-info.de/europa-punkt/ung ... s-dekrete/

Aber wer jetzt umfassend über die Dekrete diskutieren will, macht das bitte im Geschichtsforum.
-Mod.-
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Adam Smith »

schokoschendrezki hat geschrieben:(23 Sep 2021, 21:40)

Am 8. und 9. Oktober finden unmittelbar danach Parlamentswahlen (offiziell: Abgeordnetenhauswahlen) in Tschechien statt. Tschechien ist ein verhältnismäßig kleines Land aber immerhin eines unserer Nachbarländer.
Wir handeln übrigens seit dem Brexit mehr mit Tschechien als mit Großbritannien. Unsere direkten Nachbarländer sind im Prinzip auch unsere wichtigsten Handelspartner. Davon gibt es eigentlich nur drei Ausnahmen. China, die USA und Italien. China ist unser wichtigster Handelspartner. Russland, Japan und die Türkei befinden sich noch nicht mal in der Top 10. Mit Kanada wäre die USA (Nordamerika) unser zweitwichtigster Handelspartner. Ansonsten halt unsere direkten Nachbarländer. Lokal ist halt wichtig, bis auf China, USA (Kanada) und Italien.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von schokoschendrezki »

Quatschki hat geschrieben:(24 Sep 2021, 08:44)

Die Region heißt Nordböhmen oder Böhmisches Elbland.
Der Name "Sudetenland" wurde 1918 nach dem Zerfall Östereichs bis 1945 für alle deutschböhmischen Gebiete benutzt. Eine politische, aber keine geographische Bezeichnung, denn die Sudeten sind ja nur der Gebirgszug zwischen Böhmen und Schlesien. Die Berge um Lovosice gehören hingegen zum Böhmischen Mittelgebirge.

Nächste Woche am 1. Oktober 2021 ist der 265.Jahrestag der Schlacht bei Lobositz
"Österreich" bitte. Mit zwei err. Einwände dieser Art gegen Krümelkacker kann ich mir leider nicht immer verkneifen. Leute, die mir nahelegen wollen, dass ich den Namen "Stettin" nicht zu benutzen habe und mit dann als Alternative einen falsch geschriebenen Namen in polnisch vorschreiben wollen habens nicht anders verdient.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von schokoschendrezki »

Vongole hat geschrieben:(24 Sep 2021, 15:51)

Hier kannst du ein bisschen nachlesen:
https://www.eu-info.de/europa-punkt/ung ... s-dekrete/

Aber wer jetzt umfassend über die Dekrete diskutieren will, macht das bitte im Geschichtsforum.
-Mod.-
Das sehe ich auch so. Für Leute, die im Internet über Politik diskutieren wollen, gehört es sich, sich anlässlich einer anstehenden Parlamentswahl in einem Nachbarland, sich zu möglichen Richtungsänderungen in naher Zukunft zu verständigen.

Wenn man genauer hinschaut: Es gibt ale möglichen politischen Turbulenzen in Tschechien. Ein rechtspopulistischer Oligarch als Regierungschef und ein an Boris Jelzin erinnernder alkoholkranker Russlandfreund als Staatsoberhaupt. Das entspricht den tatsächlich eigentlich positiven wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in dem Land überhaupt nicht. Die Leute von den tschechischen Piraten sind kluge, liberale Politiker. Einen oder eine von denen hätte das Land verdient.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Der Neandertaler »

Hallo schokoschendrezki.
schokoschendrezki hat geschrieben:In Deutschland redet man sich grad überall die Köpfe heiß wegen der bevorstehenden Bundestagswahlen.

Am 8. und 9. Oktober finden unmittelbar danach Parlamentswahlen ...in Tschechien statt.
Für welche Politik steht diese Partei eigentlich?
ANO war mit dem Slogan "Taten statt Worte" angetreten, allerdings wird die Regierung Babiš zunehmend wegen ihres Corona-Krisenmanagements kritisiert. Auch wächst innerhalb der Bevölkerung der Unmut wegen der Befürchtung eventuell ausbleibender EU-Gelder durch Babiš' Verstrickung mit Agrofert.
  • (Stichwort: Korruptionsverdacht - "Storchennest")
Allerdings ist so wie mit allen populistich-angehauchten Politikern ... Regierungen:
  • vor Wahlen werden Ängste suggeriert sowie Versprechungen gegeben und Wohltaten verordnet, um potentielle (gegnerische) Wähler umzustimmen.
So sagte Babiš auf einer Wahlveranstaltung auf Schloß Větruše, im Ort Ústí nad Labem (südsüdöstlich von Dresden, zwischen dem Erzgebirges und dem Böhmischen Mittelgebirge):
  • "Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Es ist wichtig, denn es ist die letzte Chance, unsere nationalen Interessen, unsere Kultur, unsere Identität zu schützen. Vor allem ist es die letzte Chance, die beiden Anti-Babiš-Koalitionen zu stoppen, die unsere Souveränität abgeben wollen."
Auch kündigte er an, niemals den Euro einzuführen, keinen einzigen illegalen Flüchtling aufzunehmen und kein Verbot von Verbrennungsmotoren zu akzeptieren. Zusätzlich versprach er den Pensionären im Land, wenn seine Partei wiedergewählt werde, umgerechnet 800 Euro im Monat. Demnach werde die Rente 2025 etwa 20.000 čsk im Monat betragen.

Auch hege zumindest ich den Verdacht, daß der Streit mit Russland um die mögliche Beteiligung von Agenten an einem Anschlag von ihm eventuell provoziert sein könnte, um Unterstützung eventuell dafür aus anderen EU-Staaten und von der Opposition zu bekommen. Zumindest läßt der Zeitpunkt der Enthüllungen Fragen offen.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Vongole »

Bei den Parlamentswahlen hat die Opposition eine Mehrheit erzielt, trotzdem scheint Präsident Zeman erneut Babis von ANO den Regierungsauftrag erteilen zu wollen.
Nun wurde Zeman ins Krankenhaus eingeliefert, es kann also dauern.
https://www.spiegel.de/ausland/tschechi ... 14e393d466
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Rautenberger »

Vongole hat geschrieben:(10 Oct 2021, 15:10)

Bei den Parlamentswahlen hat die Opposition eine Mehrheit erzielt, trotzdem scheint Präsident Zeman erneut Babis von ANO den Regierungsauftrag erteilen zu wollen.
Nun wurde Zeman ins Krankenhaus eingeliefert, es kann also dauern.
https://www.spiegel.de/ausland/tschechi ... 14e393d466
Jemand scheint großes Interesse daran zu haben, dass es Zeman ist, der den Auftrag zur Regierungsbildung gibt. Sonst würde man nicht so ein Geheimnis um seinen Gesundheitszustand machen und er hätte schon längst aus gesundheitlichen Gründen - zumindest vorübergehend - seine Vollmachten abgeben können. Für mich weist das alles darauf hin, dass Babis im Amt gehalten werden soll. Das ist nichts anderes als Sabotage an der Demokratie. Zeman würde in dem Fall das eindeutige Ergebnis einer demokratischen Wahl missachten - eine absolute Frechheit. Wer seine Amtsführung aber ein bisschen verfolgt hat, der weiß, dass ihm alles zuzutrauen ist. Manche halten ihn ja sogar für einen russischen Einflussagenten...
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von schokoschendrezki »

Es gibt, das zeigen sowohl die ganz aktuellen Ereignisse in Tschechien wie auch in Österreich und in Polen (mindestens) eine Gemeinsamkeit in all den Ländern, die mal ganz oder in Teilen zum k.u.k.-Reich gehörten: Die Konservativen haben ihre Basis im ländlichen Raum und die Liberalen in der Stadt. Das ist zwar erstmal eine Binsenweisheit. Aber diese Polarisierung hat sich in den letzten Jahren nochmal deutlich verschärft. Und das gilt auch für Ungarn. Die einen haben mit den anderen nur noch sehr wenig zu tun und es steht im Großen und Ganzen Fifty to Fifty.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von schokoschendrezki »

Der Neandertaler hat geschrieben:(29 Sep 2021, 13:42)

Hallo schokoschendrezki.ANO war mit dem Slogan "Taten statt Worte" angetreten, allerdings wird die Regierung Babiš zunehmend wegen ihres Corona-Krisenmanagements kritisiert. Auch wächst innerhalb der Bevölkerung der Unmut wegen der Befürchtung eventuell ausbleibender EU-Gelder durch Babiš' Verstrickung mit Agrofert.
  • (Stichwort: Korruptionsverdacht - "Storchennest")
Allerdings ist so wie mit allen populistich-angehauchten Politikern ... Regierungen:
  • vor Wahlen werden Ängste suggeriert sowie Versprechungen gegeben und Wohltaten verordnet, um potentielle (gegnerische) Wähler umzustimmen.
So sagte Babiš auf einer Wahlveranstaltung auf Schloß Větruše, im Ort Ústí nad Labem (südsüdöstlich von Dresden, zwischen dem Erzgebirges und dem Böhmischen Mittelgebirge):
  • "Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Es ist wichtig, denn es ist die letzte Chance, unsere nationalen Interessen, unsere Kultur, unsere Identität zu schützen. Vor allem ist es die letzte Chance, die beiden Anti-Babiš-Koalitionen zu stoppen, die unsere Souveränität abgeben wollen."
Auch kündigte er an, niemals den Euro einzuführen, keinen einzigen illegalen Flüchtling aufzunehmen und kein Verbot von Verbrennungsmotoren zu akzeptieren. Zusätzlich versprach er den Pensionären im Land, wenn seine Partei wiedergewählt werde, umgerechnet 800 Euro im Monat. Demnach werde die Rente 2025 etwa 20.000 čsk im Monat betragen.
Agrofert hat übrigens auch in Deutschland Niederlassungen und Standorte. In der Region Usti (Ústecký kraj) ist das vor allem der Riesenkomplex "Lovochemie" für Kunstdüngerherstellung. Die Folge all dieser Gegebenheiten ist, dass die Arbeitslosenzahlen in solchen Regionen häufig nahe an Vollbeschäftigung grenzen. Bei diesen "EU-Geldern" muss man zwischen "Infrastukturgeldern" und der "GAP", der gemeinsamen Agrarpolitik unterscheiden. Letztere ist mit einem deutlich höheren Geldtopf verbunden.

Ich würde übrigens in einem Land mit einem guten Wirtschaftspotenzial wie Tschechien auch niemals den Euro einführen. In Tschechien laufen die ... ja, sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kreisläufe auf einem zwar nicht besonders hohen aber auch keineswegs auf einem besonders niedrigen Niveau. Die Leute haben eine bezahlbare Wohnung, die KInder gehen zur Schule, die Eltern zur Arbeit .... ich bin ja öfter dort und kann das besichtigen, wenn ich einfach mal Werktags um 7:00 durch eine Stadt spaziere.

In einem Euro-Land wie Spanien liegt die altersmäßige Elternwohnungsauszugsgrenze bei irgendwo um die 29. Absolute Spitze in Europa. Du hast einen Uni-Abschluss aber du bekommst weder eine Arbeit noch eine bezahlbare Wohnung. Du lebst noch mit Anfang 30 bei den Eltern. Wenn auch auf relativ hohem Wohlstandsniveau. Familie gründen, Kinder kriegen ... schwierig. Ähnliches gilt für Griechenland, Portugal, Italien. Und das hat nach meinem Gefühl auch etwas mit dem Euro zu tun. Mit der tschechischen Krone sitzt man quasi an einem Kontrollterminal und kann den "Preis für Arbeit" zumindest in gewissen Grenzen nach oben und nach unten regeln. Und nicht einfach in einem ferngesteuerten Fahrzeug.

Ich halte dieses tschechische sozial-wirtschaftlich-gesellschaftliche Modell, das letztendlich auf eine möglichst geringe Ungleichheit bei der Einkommensverteilung hinausläuft für vernünftig. SOlange nicht das Level "Existenzsicherung" unterschritten wird und solange Demokratie, Rechtsstaat und Meinungsfreiheit herrschen. Bei der statistischen Einkommensgleichheit nimmt Tschechien weltweit eine Spitzenplatz ein. (GINI-Index zum Beispiel).
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von H2O »

Ähnliches gilt für Griechenland, Portugal, Italien.
Tja, in Deutschland sucht man Fachkräfte... und die kommen aus Mittel- und Osteuropa; sogar ganz gern, weil sie vergleichsweise gute Arbeitsbedingungen (Arbeitslöhne, Lebenshaltungskosten, Freizeitgestaltung) finden. Wie weit dies auch für Tschechen zutrifft... das kann bestenfalls eine Statistik zeigen. Diese Bewegung geht von Saisonarbeit über Pendler im Wochenrhythmus bis zur Zuwanderung.

Diese Bewegung ist nach Südeuropa weniger ausgeprägt. Ob's am Euro liegt, oder doch am rauhen Wetter, an unseren Lebensgewohnheiten, unseren Umgangsformen am Arbeitsplatz, unserer Freizeitgestaltung... keine Ahnung. Griechische Restaurants, italienische Restaurants und einige spanische Restaurants fallen uns aber schon auf... bereichern unser Leben. Muß man auch so sehen.

Vielleicht ist es so, daß der Euro doch einigen Wohlstand mit sich bringt, der den Menschen den Druck nimmt, ihr Land zu verlassen?
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Der Neandertaler »

Hallo schokoschendrezki.
schokoschendrezki hat geschrieben:Ich würde übrigens in einem Land mit einem guten Wirtschaftspotenzial wie Tschechien auch niemals den Euro einführen.
OK! Aber all die Gründe, die Du genannt hast, werden vielleicht durch den EURO erst offensichtlicht ... besonders im Verhältnis zu anderen Ländern (mit einheitlicher Währung), werden aber nicht erst durch den EURO eingeführt .... der EURO ist also nicht Auslöser der Probleme. Letztlich würde ich allerdings sagen, daß die Enführung des EURO zumindest der Wirtschaft einige Vorteile bringt ... Stichwort: Umtausch oder Umrechnung der Währungen fällt weg oder Vergleichbarkeit der Preise (für Waren, die in den Export gehen) wird sichtbarer, etc. Und wenn es der Wirtschaft besser geht ... wenn diese also mehr Gewinn macht, können Gewerkschaften auch höhere Löhne fordern. Letztlich ist dies alles auch gut für die Bevölkerung.
  • (Wohlgemerkt: Ich bin kein Verfechter der "der Markt wird es schon richten"-Theorie!)
À propos EURO und Vergleichbarkeit bzw. nicht-Auslöser der Probleme:
Nimm etwa Griechenland:
  • Daß der griechische Haushalt nicht sehr ... sagen wir mal: belastbar war, wurde zwar durch den EURO erst richtig sichtbar, aber nicht durch den EURO ausgelöst.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von schokoschendrezki »

Der Neandertaler hat geschrieben:(11 Oct 2021, 13:46)

Hallo schokoschendrezki.OK! Aber all die Gründe, die Du genannt hast, werden vielleicht durch den EURO erst offensichtlicht ... besonders im Verhältnis zu anderen Ländern (mit einheitlicher Währung), werden aber nicht erst durch den EURO eingeführt .... der EURO ist also nicht Auslöser der Probleme. Letztlich würde ich allerdings sagen, daß die Enführung des EURO zumindest der Wirtschaft einige Vorteile bringt ... Stichwort: Umtausch oder Umrechnung der Währungen fällt weg oder Vergleichbarkeit der Preise (für Waren, die in den Export gehen) wird sichtbarer, etc. Und wenn es der Wirtschaft besser geht ... wenn diese also mehr Gewinn macht, können Gewerkschaften auch höhere Löhne fordern. Letztlich ist dies alles auch gut für die Bevölkerung.
  • (Wohlgemerkt: Ich bin kein Verfechter der "der Markt wird es schon richten"-Theorie!)
À propos EURO und Vergleichbarkeit bzw. nicht-Auslöser der Probleme:
Nimm etwa Griechenland:
  • Daß der griechische Haushalt nicht sehr ... sagen wir mal: belastbar war, wurde zwar durch den EURO erst richtig sichtbar, aber nicht durch den EURO ausgelöst.
Im Falle Tschechiens haben wir mit dem Euro-Land Slowakei die Möglichkeit, einen sehr naheliegenden Vergleich anzustellen. Einen großen Unterschied sehe ich so als gelegentlicher Besucher nicht. Ich glaube, in der Autoproduktion pro Kopf liegt die Slowakei noch mal weiter vorn und - wenn ichs richtig im Kopf hab - sogar absolut an der Weltspitze.

Fakt ist jedoch trotzdem: Länder wie Tschechien wie auch die Slowakei zeichnen sich in den Lebensverhältnissen gegenüber Ländern wie Italien oder Griechenland gewissermaßen durch eine bessere Gleichgewichtslage aus, die jedoch auf einem etwas niedrigeren Wohlstands-Niveau erreicht wird.

Die Arbeitslosen-Zahlen sind dabei schon noch ein verlässlicher Indikator. Und mal ganz unwertend und pauschal gesagt: Arbeit muss einigermaßen preiswert sein, wenn die Arbeitslosenraten runtergehen sollen.

Und dann gibts noch einen weiteren, sehr häufig vernachlässigten Faktor bei der Analyse der Lage in Ostmitteleuropa: Dieser sogenannte "informelle Sektor". Der lässt sich natürlicherweise nicht statistisch in gesicherten Zahlen erfassen. Der spielt aber eine viel größere Rolle, als sich das Leute, sagen wir mal in Kassel vorstellen können. Wo es kaum jemanden gibt, der seine Steuererklärung zu spät abgibt. Ohne diesen informellen Sektor ist der rein äußerlich vielfach sichtbare WOhlstand kaum gänzlich zu erklären. Und was dieser Kleine-Leute-Wohlstand im Kleinen ist ... das ist halt Babis im ganz Großen.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Der Neandertaler »

Hallo schokoschendrezki.
schokoschendrezki hat geschrieben:Fakt ist jedoch trotzdem: Länder wie Tschechien wie auch die Slowakei zeichnen sich in de-n Lebensverhältnissen gegenüber Ländern wie Italien oder Griechenland gewissermaßen durch eine bessere Gleichgewichtslage aus, die jedoch auf einem etwas niedrigeren Niveau erreicht wird.
"Eine bessere Gleichgewichtslage": mag sein. Ich bin bin seither noch nicht in Griechenland oder Italien gewesen, aber abgesehen davon, daß meine Frau Tschechin ist, sowohl meine Tochter als auch meine Schwägerin dort lebt und ich mindestens zweimal im Jahr in Tschechien bin ... ich mich also sehr für die dortigen Verhältnisse interessiere, kann ich Dir sagen:
  • "Eine bessere Gleichgewichtslage" ist dort schon vorhanden, "jedoch auf einem etwas niedrigeren Niveau" - auch richtig! Aber Alltags-Missverhältnisse gibt es dort ebenso, wie etwa hierzulande oder in anderen EU-Ländern. Die Frage ist nur ... und das bleibt sie auch:
    • ob dies mit dem EURO zutun hat?
Ich würde eher sagen NEIN! Ich würde eher sagen, daß dies mit der Vergangenheit der čSSR zutun hat! Man sagt nun nicht ganz umsonst, daß Armut zusammenschweißt ... das soll jetzt nicht heißen, daß dort alle arm waren. Aber in der Vergangenheit war der Zusammenhalt ... die zwischenmenschlichen Beziehungen wesentlich ausgeprägter als hierzulande. Davon zehrt die tschechische Gesellschaft heute noch.
  • (Auch hierzulande hat etwa die Covid-19-Pandemie etwas mehr menschlichen Zusammenhalt gebracht. die Covid-19-Pandemie: Vielleicht auch ein Zeichen von Armut?)
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von sünnerklaas »

Rautenberger hat geschrieben:(11 Oct 2021, 03:27)

Jemand scheint großes Interesse daran zu haben, dass es Zeman ist, der den Auftrag zur Regierungsbildung gibt. Sonst würde man nicht so ein Geheimnis um seinen Gesundheitszustand machen und er hätte schon längst aus gesundheitlichen Gründen - zumindest vorübergehend - seine Vollmachten abgeben können. Für mich weist das alles darauf hin, dass Babis im Amt gehalten werden soll. Das ist nichts anderes als Sabotage an der Demokratie. Zeman würde in dem Fall das eindeutige Ergebnis einer demokratischen Wahl missachten - eine absolute Frechheit. Wer seine Amtsführung aber ein bisschen verfolgt hat, der weiß, dass ihm alles zuzutrauen ist. Manche halten ihn ja sogar für einen russischen Einflussagenten...
Auch Zeman gehört mit zu jener Sorte von Politikern, die alles auf eine Karte setzen. Auch er ist ein Gefangener seiner selbst.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von sünnerklaas »

Der Neandertaler hat geschrieben:(11 Oct 2021, 14:40)

Man sagt nun nicht ganz umsonst, daß Armut zusammenschweißt ... das soll jetzt nicht heißen, daß dort alle arm waren.
Man sollte das Phänomen der "Kleinen Leute" nicht unterschätzen. In der alten EU hat sich dieses Milleu in der Zeit zwischen 1945 und 1990 irgendwie aufgelöst. In den ehemaligen RGW-Staaten und Teilen der ehemaligen DDR, v.a. im Süden gibt es dieses kleinbürgerliche Millieu aber noch.
Vor einiger Zeit habe ich zu dem Phänomen eine interessante Bemerkung des Historikers Golo Mann gefunden. Der hat im Zusammenhang mit den napoleonischen Kriegen und der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs 1806 sinngemäß gesagt, in Westdeutschland, vor allem im Rheinland hätten die Franzosen seit etwa 1795 den Regionen ihren Stempel aufgedrückt. Unter anderem, in dem sie das laizistische Rechtsverständnis durchgesetzt hätten. Diese damals moderne rechtliche Kultur hätte viele Vorteile mit sich gebracht. In Sachsen und Thüringen wären diese Denkweisen damals nicht angekommen, weil diese Länder nie von Napoleon und den Franzosen so geprägt wurden, wie dies in Westdeutschland der Fall war. In Sachsen und Thüringen wären, so Golo Mann die Leute noch "echte Deutsche" im althergebrachten Sinne geblieben.
Ich glaube, diese Auffassung lässt sich auch auf Osteuropa anwenden.Tschechien, die Slowakei, der Süden Polens, Ungarn etc. waren österreichisch geprägt, Zentralpolen russich. Der Einfluss der Franzosen zwischen 1795 und 1816 marginal. Preußen dagegen hat sich im Rahmen der Stein-Hardenbergschen Reformen durchaus stark von Frankreich prägen lassen.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Rautenberger »

sünnerklaas hat geschrieben:(11 Oct 2021, 14:49)

Auch Zeman gehört mit zu jener Sorte von Politikern, die alles auf eine Karte setzen. Auch er ist ein Gefangener seiner selbst.
Vielleicht auch ein "Gefangener des Geldes". Bei Zeman fällt auf, dass er oft Partei ergreift für Moskau und Peking. In Tschechien munkelt man, dass er womöglich finanzielle Gegenleistungen dafür bekommt oder auf sonstige Weise diesen Regimen "verpflichtet" sein könnte. Oder er hat einfach nur ne Macke. Ich hoffe, dass das Wahlergebnis darauf hinweist, dass die Zeit der "Illiberalen" à la Klaus, Zeman und Babiš zu Ende geht.
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Rautenberger
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Rautenberger »

sünnerklaas hat geschrieben:(11 Oct 2021, 15:04)Preußen dagegen hat sich im Rahmen der Stein-Hardenbergschen Reformen durchaus stark von Frankreich prägen lassen.
Wobei sich Preußen weiß Gott nicht als "Hort des Liberalismus" präsentiert hat. Ansonsten finde ich durchaus nachvollziehbar, was du schreibst. Allerdings glaube ich, dass die sowjetische Herrschaft über Osteuropa mit allen ihren Konsequenzen der weitaus bedeutendere Faktor für die Entstehung der heutigen Zustände ist. Das zeigen die Wahlergebnisse der AfD auf Länderebene ganz deutlich. In allen Ost-Ländern liegt die AfD rund um die 20-Prozent-Marke, in den West-Ländern liegt sie unter 10 %.
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Der Neandertaler
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Der Neandertaler »

Hallo Rautenberger.
Rautenberger hat geschrieben:Bei Zeman fällt auf, dass er oft Partei ergreift für Moskau und Peking. ... finanzielle Gegenleistungen ...
Zumindest erscheint ... oder erschien er vergangenheitlich als moskau-freundlich und es behagte ihm nicht, daß man Moskau vorwarf ... vorwerfen mußte, hinter Explosionen eines tschechischen Munitionsdepots vor knapp sieben Jahren zu stecken. Regierungschef Babiš sprach seinerzeit von "nie dagewesenen Enthüllungen". Wobei er betonte
  • "Tschechien ist ein souveräner Staat und muß auf diese nie dagewesenen Enthüllungen in entsprechender Form reagieren"
Zeman hat sich auffällig zurückgehalten.
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schokoschendrezki
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von schokoschendrezki »

Der Neandertaler hat geschrieben:(11 Oct 2021, 14:40)

Hallo schokoschendrezki."Eine bessere Gleichgewichtslage": mag sein. Ich bin bin seither noch nicht in Griechenland oder Italien gewesen, aber abgesehen davon, daß meine Frau Tschechin ist, sowohl meine Tochter als auch meine Schwägerin dort lebt und ich mindestens zweimal im Jahr in Tschechien bin ... ich mich also sehr für die dortigen Verhältnisse interessiere, kann ich Dir sagen:
  • "Eine bessere Gleichgewichtslage" ist dort schon vorhanden, "jedoch auf einem etwas niedrigeren Niveau" - auch richtig! Aber Alltags-Missverhältnisse gibt es dort ebenso, wie etwa hierzulande oder in anderen EU-Ländern. Die Frage ist nur ... und das bleibt sie auch:
    • ob dies mit dem EURO zutun hat?
Ja. WIe geschrieben: Hier braucht man einfach nur einen Vergleich Tschechien/Slowakei anstellen. Zu welchem Ergebnis man da kommt ... das wird schon nicht mehr so einfach sein.
Ich würde eher sagen NEIN! Ich würde eher sagen, daß dies mit der Vergangenheit der čSSR zutun hat! Man sagt nun nicht ganz umsonst, daß Armut zusammenschweißt ... das soll jetzt nicht heißen, daß dort alle arm waren. Aber in der Vergangenheit war der Zusammenhalt ... die zwischenmenschlichen Beziehungen wesentlich ausgeprägter als hierzulande. Davon zehrt die tschechische Gesellschaft heute noch.
  • (Auch hierzulande hat etwa die Covid-19-Pandemie etwas mehr menschlichen Zusammenhalt gebracht. die Covid-19-Pandemie: Vielleicht auch ein Zeichen von Armut?)
Und auch hier der Vergleich; Jugoslawien-Kriege versus friedlicher Auftrennung der ČSSR. Ich glaub, das ist so friedlich vonstatten gegangen, dass mittlerweile vielleicht 8 von 10 Menschen in D gar nicht mehr wissen oder ihnen zumindest nicht mehr so recht bewusst ist, dass das mal ein Gesamtstaat war. Fährt man heute auf der Autobahn von Tschechien in die Slowakei dann fährt man durch ein Riesengelände von vor sich hinrostenden Zoll- und Passabfertigungsbuden. Die durch den beidseitigen EU- und Schengenbeitritt obsolet geworden sind. Der einzige Grund für die Aufrechterhaltung einiger noch belebter Inseln sind die getrennten Vignetten-Systeme.

Aber wenn Du dich direkt und persönlich auskennst: Ganz herausragend und sozusagen eigengesetzlich ist das Überleben und die Rolle der Piratenpartei in Tschechien. Welche Leute stehen dahinter?
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von sünnerklaas »

Rautenberger hat geschrieben:(11 Oct 2021, 16:19)

Wobei sich Preußen weiß Gott nicht als "Hort des Liberalismus" präsentiert hat. Ansonsten finde ich durchaus nachvollziehbar, was du schreibst. Allerdings glaube ich, dass die sowjetische Herrschaft über Osteuropa mit allen ihren Konsequenzen der weitaus bedeutendere Faktor für die Entstehung der heutigen Zustände ist. Das zeigen die Wahlergebnisse der AfD auf Länderebene ganz deutlich. In allen Ost-Ländern liegt die AfD rund um die 20-Prozent-Marke, in den West-Ländern liegt sie unter 10 %.
Russland war auch nie unter napoleonischen Einfluss. Die französische Revolution und die in deren Folge durchgeführten grundsätzlichen Reformen haben Russland noch weniger erreicht, als Osteuropa. In Russland hat man es letztendlich nach der Revolution nicht geschafft, sich von den Herrschaftsprinzipien und den Hegemonialansprüchen des Zarenreichs zu emanzipieren. Man hat die Namen der Ämter und die Personenkreise sowie die Fahnen ausgetauscht. Ansonsten blieb letztendlich alles beim alten.
Letztendlich haben wir es hier mit einem kulturellen Ost-West-Konflikt zu tun, der schon seit über 200 Jahren besteht.
In der alten EG hat man nach 1945 zwei Fäden zusammen geführt: zum einen die Rechtsprinzipien, die sich in der Folge der fanzösischen Revolution etabliert haben, dazu hatte man von der Idee her einen Staatenbund, der im Grund in der Tradition des HRR steht. Karl der Große und das daraus entstandene HRR bildeten die über fast 1000 Jahren tradierte Basis der EG. Diese Idee hat man ab 1945 fortentwickelt. Und weil sowohl das Recht, als auch die Idee der EG-Staatlichkeit als Staatenbund durch das HRR tradiert war, hatte es eine solide und in den alten Mitgliedsstaaten bis heute anerkannte Basis.
In Osteuropa und in Teilen der ehemaligen DDR gibt es diese gemeinsame Basis, das hat Golo Mann aufgezeigt, eben nicht. In Tschechien steht das HRR sogar eher für gewalttätige Fremdherrschaft. Sachsen und Thüringen wurden nicht von den Folgen Napoleons groß tangiert. Länder, wie Polen, Ungarn, die Slowakei etc. haben nie zum HRR gehört.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von schokoschendrezki »

Rautenberger hat geschrieben:(11 Oct 2021, 16:08)

Vielleicht auch ein "Gefangener des Geldes". Bei Zeman fällt auf, dass er oft Partei ergreift für Moskau und Peking. In Tschechien munkelt man, dass er womöglich finanzielle Gegenleistungen dafür bekommt oder auf sonstige Weise diesen Regimen "verpflichtet" sein könnte. Oder er hat einfach nur ne Macke. Ich hoffe, dass das Wahlergebnis darauf hinweist, dass die Zeit der "Illiberalen" à la Klaus, Zeman und Babiš zu Ende geht.
Die Zeit von Kurz ist gerade zu Ende gegangen. An der Politik Österreichs ändert das aber nicht so sehr viel.

Bei Babiš muss man - ausgehend von zahlreichen aktuellen Analysen und Kommentaren - eines noch hinzufügen: Der Mann redet rein vom sprachlichen her im Großen und Ganzen eine Menge Stuss daher. Noch dazu in einer Mischung aus Slowakisch und Tschechisch. Ich verstehe keine der beiden Sprachen. Ich stell ihn mir so ein bissel einfach als tschechischen Stoiber vor. Der morgens in seinem Garten nie vergisst, eine Blume hinzurichten. Aber er hat Geld. Und - nach übereinstimmenden Berichten - ein ganz hervorragendes, professionelles PR-Team.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Der Neandertaler »

Hallo schokoschendrezki.
schokoschendrezki hat geschrieben:Ja. WIe geschrieben: Hier braucht man einfach nur einen Vergleich Tschechien/Slowakei anstellen. Zu welchem Ergebnis man da kommt ... das wird schon nicht mehr so einfach sein.
Nein, ein Vergleich ist wohl nicht einfach. Aber ein Rückblick (wenn's Dich interessiert), warum sich Tschechien und die Slowakei 1993 aus der Tschechoslowakei (ČSSR) überhaupt verabschiedeten. Obwohl etwa zwei Drittel der Bürger gegen die Trennung waren, waren die Gründe nämlich vielfältig.

Nach der "Samtenen Revolution" 1989 entwickelten sich beide Gesellschaften rasant auseinander. Somit war eine Scheidung letztlich unausweichlich. Formal war die Tschechoslowakei seit 1990 eine Föderation ("Tschecho-Slowakische Bundesrepublik" - ČSFR - erster Staatspräsident: Václav Havel), die sich aus zwei Republiken mit weitreichender Autonomie zusammensetzte. Trotz der zugesicherten Autonomie, wurde die Slowakei zentralistisch von Prag aus und der allmächtigen Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ) regiert. De facto war Tschechien wirtschaftlich überlegenen und hatte dementsprechend das Sagen im gemeinsamen Staat. Bratislava fühlte sich benachteiligt und Vorurteile beider Seiten schwelten weiter. Otto-Normaltscheche: "ihre" Steuermillionen landen (ausschließlich) in der angeblich rückständigen Slowakei. Umgekehrt schwor jeder Taxifahrer in Bratislava, daß die Tschechen sich mit slowakischen Steuergeldern eine schicke U-Bahn in Prag bauen. Zudem empfanden Slowaken Tschechen als überheblich, die sich als Missionare gebärdeten. Das Höchste der Gefühle: Historisch wurde angemerkt, daß Tschechien als sogenannte "Rest-Tschechei" von Hitler-Deutschlands besetzt wurde, wohingegen die Slowakei ein "Vasallenstaat von Hitler-Deutschland" wurde ... also, weitgehen frei blieb.

Zur Polarisierung trug die unterschiedliche Wirtschaftskraft der beiden Landesteile bei. Böhmen war immer schon das industrielle Herz und die Slowakei ursprünglich ein Agrarland. Dies wurde während des Sozialismus nochmals forciert und nur weitgehend einseitig industrialisiert. Die Slowakei besaß lediglich Schwer- und Rüstungsindustrie, die zudem ihre Absatzmärkte im Osten verloren hatte. Eine Schließung ergab ein Massensterben der Betriebe und dies hätte eine 20-prozentige Arbeitslosigkeit zur Folge. Das wollte Bratislava nicht hinnehmen und forderte einen eigenen Staat.

Die Tschechen hingegen konnten viel optimistischer in die Zukunft blicken und auf ein schnelles Wirtschaftswunder nach westdeutschem Vorbild hofften. Viele waren sogar der Meinung, ohne den "Ballast" Slowakei deutlich schneller den Anschluß an die Wohlstandszone Westeuropas finden zu können. Eine EU-Mitgliedschaft strebten beide Landesteile schon damals an.

Schaut man allerdings auf die nüchtenen Zahlen, ist ein Vergleich zwar einfacher, aber nicht einsichtiger und dementsprechend zu beurteilen.. Ich hab Dir hiermal eine Seite herausgesucht, die das verdeutlicht. Denn die Zahlen ergeben nicht unbedingt das Gefühl innerhalb der Bevölkerung.
schokoschendrezki hat geschrieben:... und die Rolle der Piratenpartei in Tschechien. Welche Leute stehen dahinter?
Die Piraten sind eine Partei sowohl im tschechischen Abgeordnetenhaus (22 Abgeordnete), als auch im Europäischen Parlament (seit 2019: drei Abgeordnete), wo sie der Fraktion "Die Grünen/Europäische Freie Allianz" (EFA) angehören.
Mitglieder sind unter anderen:
  • Marcel Kolaja, Markéta Gregorová, Mikuláš Peksa (alle drei Mitglieder des Europäischen Parlaments), Olga Richterová (Mitglied der Abgeordnetenkammer - von 2014 bis 2018 Vertreter des Stadtbezirks Prag 10), Ivan Bartoš (Mitglied des tschechischen Abgeordnetenhauses und Vorsitzender der Piraten-Partei), Jana Michailidu (ebenfalls Mitglied des tschechischen Abgeordnetenhauses und Stellvertretende Vorsitzende der Partei und der bekannteste: Zdeněk Hřib.
Mikuláš Peksa ist neben seiner Mitgliedschaft in der tschechischen Piratenpartei zusätzlich auch Mitglied in der Piratenpartei Deutschland. Marcel Kolaja ist einer der 14 Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments.

Bei Kommunalwahlen im Städtchen Schepankowitz (Štěpánkovice - in der Mährisch-Schlesischen Region) gewannen die Piraten zwei Sitze im Stadtrat (13,1 %) und in Hostau (Hostouň - Westböhmen) einen Sitz (9,3 %). Neben Hřib als Prager-Oberbürgermeister stellt die Partei noch Libor Michálek als weiteren Senator der Stadt Prag, im Bezirk 26. Außerdem noch Vojtĕch Franta als Bürgermeister der Stadt Mariánské Lázně (Marienbad).

Nrbenbei:
  • Zdeněk Hřib protestierte 2018 gegen die Aufforderungen Chinas, taiwanesische Repräsentanten auszuweisen und kritisierte zudem das Partnerstadt-Abkommen mit Peking, in dem ein uneingeschränktes Bekenntnis zur Ein-China-Politik eingefordert wird. 2020 ließ er den Platz vor der russischen Botschaft in Boris-Nemtsov-Platz umbenennen (Boris Nemtsov: Vizeministerpräsident unter Präsident Boris Jelzin zwischen 1997 und 1998 und 2015 im Zentrum Moskaus erschoßen), sowie im darauffolgenden Monat, als sein Meisterstück, wie ich finde, eine Statue des sowjetischen Marschalls Iwan Stepanowitsch Konew entfernen. Die brittische Zeitung: The Guardian kommentierte dies, daß Hřib damit das Image Tschechiens als Verteidiger von Menschenrechten wiederhergestellt habe. Erwartungsgemäß protestierte Russland und ebenso Babiš. Hřib erklärte, daß in der Stadt (Covid-) Maskenpflicht herrsche ... "er (der sowjetischen Marschall) hatte keine" Daraufhin mußte Hřib (und ein weiterer liberalen tschechischen Politiker, Ondřej Kolář) sogar unter Polizeischutz gestellt werden, da tschechische Sicherheitsbehörden Hinweise auf ein geplantes Attentat durch den russischen Geheimdienst erhalten hatten.
    • ... einen Anschlag, mit dem Giftstoff Rizin, der einzuführen durch eine Person mit Diplomatenausweis versucht worden sei.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von schokoschendrezki »

Der Neandertaler hat geschrieben:(11 Oct 2021, 20:56)

Hallo schokoschendrezki.Nein, ein Vergleich ist wohl nicht einfach. Aber ein Rückblick (wenn's Dich interessiert), warum sich Tschechien und die Slowakei 1993 aus der Tschechoslowakei (ČSSR) überhaupt verabschiedeten. Obwohl etwa zwei Drittel der Bürger gegen die Trennung waren, waren die Gründe nämlich vielfältig.

Nach der "Samtenen Revolution" 1989 entwickelten sich beide Gesellschaften rasant auseinander. Somit war eine Scheidung letztlich unausweichlich. Formal war die Tschechoslowakei seit 1990 eine Föderation ("Tschecho-Slowakische Bundesrepublik" - ČSFR - erster Staatspräsident: Václav Havel), die sich aus zwei Republiken mit weitreichender Autonomie zusammensetzte. Trotz der zugesicherten Autonomie, wurde die Slowakei zentralistisch von Prag aus und der allmächtigen Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ) regiert. De facto war Tschechien wirtschaftlich überlegenen und hatte dementsprechend das Sagen im gemeinsamen Staat. Bratislava fühlte sich benachteiligt und Vorurteile beider Seiten schwelten weiter. Otto-Normaltscheche: "ihre" Steuermillionen landen (ausschließlich) in der angeblich rückständigen Slowakei. Umgekehrt schwor jeder Taxifahrer in Bratislava, daß die Tschechen sich mit slowakischen Steuergeldern eine schicke U-Bahn in Prag bauen. Zudem empfanden Slowaken Tschechen als überheblich, die sich als Missionare gebärdeten. Das Höchste der Gefühle: Historisch wurde angemerkt, daß Tschechien als sogenannte "Rest-Tschechei" von Hitler-Deutschlands besetzt wurde, wohingegen die Slowakei ein "Vasallenstaat von Hitler-Deutschland" wurde ... also, weitgehen frei blieb.

Zur Polarisierung trug die unterschiedliche Wirtschaftskraft der beiden Landesteile bei. Böhmen war immer schon das industrielle Herz und die Slowakei ursprünglich ein Agrarland. Dies wurde während des Sozialismus nochmals forciert und nur weitgehend einseitig industrialisiert. Die Slowakei besaß lediglich Schwer- und Rüstungsindustrie, die zudem ihre Absatzmärkte im Osten verloren hatte. Eine Schließung ergab ein Massensterben der Betriebe und dies hätte eine 20-prozentige Arbeitslosigkeit zur Folge. Das wollte Bratislava nicht hinnehmen und forderte einen eigenen Staat.

Die Tschechen hingegen konnten viel optimistischer in die Zukunft blicken und auf ein schnelles Wirtschaftswunder nach westdeutschem Vorbild hofften. Viele waren sogar der Meinung, ohne den "Ballast" Slowakei deutlich schneller den Anschluß an die Wohlstandszone Westeuropas finden zu können. Eine EU-Mitgliedschaft strebten beide Landesteile schon damals an.

Schaut man allerdings auf die nüchtenen Zahlen, ist ein Vergleich zwar einfacher, aber nicht einsichtiger und dementsprechend zu beurteilen.. Ich hab Dir hiermal eine Seite herausgesucht, die das verdeutlicht. Denn die Zahlen ergeben nicht unbedingt das Gefühl innerhalb der Bevölkerung.
Nein. Ich weiß. Bei den Zahlen interessant ist insbesondere der Unterschied bei der Inflationsrate zugunsten der Slowakei interessant. In Europa bewegen die sich allgemein im einstelligen Prozentbereich. Da ist 3,16 (Tschechien) zu 1,94 (Slowakei) schon ziemlich beträchtlich. Vielleicht erklärt das auch zumindest zum Teil die besseren Werte im Bereich soziale Versorgung in Tschechien. Bekanntersmaßen setzte Babiš/ANO im Wahlkampf in ganz erheblichem Maße auf die Rentenhöhe. Er versprach sozusagen unter Eid eine Rente von 20 000 Kronen (ungefähr 780 Euro). Irgendwo im ganzen System muss die andere Seite solcher Versprechungen liegen. Vielleicht bei der Inflationsrate?

Und noch eine kleine Bemerkung zum Verhältnis Tschechien/Slowakei: Die betrifft die Person Alexander Dubček. Eine zentrale Figur in den Ereignissen des Prager Frühlings 1968. Regelmäßig mache ich Halt auf einem Autorastplatz in der Nähe von Humpolec, dort wo Dubček Anfang der 90er an den Folgen eines Autounfalls starb. In Tschechien. Abgesehen von seinem Grab in Bratislava gibts dort am Rand eine Art kleine Gedenkstätte. Dubček verstand sich wirklich als "Slowake".

Unabhängig davon drängt sich einfach der Vergleich a) zu den Jugoslawien-Kriegen und b) zum sehr schlechten rumänisch-ungarischen Verhältnis (wegen der Siebenbürgenfrage, die aber eigentlich gar keine Frage ist) auf. Verglichen damit verlief die Trennung der ČSSR so gut wie geräuschlos.
Die Piraten sind eine Partei sowohl im tschechischen Abgeordnetenhaus (22 Abgeordnete), als auch im Europäischen Parlament (seit 2019: drei Abgeordnete), wo sie der Fraktion "Die Grünen/Europäische Freie Allianz" (EFA) angehören.
Mitglieder sind unter anderen:
  • Marcel Kolaja, Markéta Gregorová, Mikuláš Peksa (alle drei Mitglieder des Europäischen Parlaments), Olga Richterová (Mitglied der Abgeordnetenkammer - von 2014 bis 2018 Vertreter des Stadtbezirks Prag 10), Ivan Bartoš (Mitglied des tschechischen Abgeordnetenhauses und Vorsitzender der Piraten-Partei), Jana Michailidu (ebenfalls Mitglied des tschechischen Abgeordnetenhauses und Stellvertretende Vorsitzende der Partei und der bekannteste: Zdeněk Hřib.
Mikuláš Peksa ist neben seiner Mitgliedschaft in der tschechischen Piratenpartei zusätzlich auch Mitglied in der Piratenpartei Deutschland. Marcel Kolaja ist einer der 14 Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments.

Bei Kommunalwahlen im Städtchen Schepankowitz (Štěpánkovice - in der Mährisch-Schlesischen Region) gewannen die Piraten zwei Sitze im Stadtrat (13,1 %) und in Hostau (Hostouň - Westböhmen) einen Sitz (9,3 %). Neben Hřib als Prager-Oberbürgermeister stellt die Partei noch Libor Michálek als weiteren Senator der Stadt Prag, im Bezirk 26. Außerdem noch Vojtĕch Franta als Bürgermeister der Stadt Mariánské Lázně (Marienbad).

Nrbenbei:
  • Zdeněk Hřib protestierte 2018 gegen die Aufforderungen Chinas, taiwanesische Repräsentanten auszuweisen und kritisierte zudem das Partnerstadt-Abkommen mit Peking, in dem ein uneingeschränktes Bekenntnis zur Ein-China-Politik eingefordert wird. 2020 ließ er den Platz vor der russischen Botschaft in Boris-Nemtsov-Platz umbenennen (Boris Nemtsov: Vizeministerpräsident unter Präsident Boris Jelzin zwischen 1997 und 1998 und 2015 im Zentrum Moskaus erschoßen), sowie im darauffolgenden Monat, als sein Meisterstück, wie ich finde, eine Statue des sowjetischen Marschalls Iwan Stepanowitsch Konew entfernen. Die brittische Zeitung: The Guardian kommentierte dies, daß Hřib damit das Image Tschechiens als Verteidiger von Menschenrechten wiederhergestellt habe. Erwartungsgemäß protestierte Russland und ebenso Babiš. Hřib erklärte, daß in der Stadt (Covid-) Maskenpflicht herrsche ... "er (der sowjetischen Marschall) hatte keine" Daraufhin mußte Hřib (und ein weiterer liberalen tschechischen Politiker, Ondřej Kolář) sogar unter Polizeischutz gestellt werden, da tschechische Sicherheitsbehörden Hinweise auf ein geplantes Attentat durch den russischen Geheimdienst erhalten hatten.
    • ... einen Anschlag, mit dem Giftstoff Rizin, der einzuführen durch eine Person mit Diplomatenausweis versucht worden sei.
[/quote]
Diese Taiwan-Geschichte des Prager Bürgermeisters wird auch im China-Supermacht-Thread diskutiert. Er hat immerhin auch zeitweilig in Taiwan studiert.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von schokoschendrezki »

Ich will, da anlässlich der Parlamentswahlen nun einmal Tschechien doch ein wenig, ein klein wenig im Fokus der Berichterstattung steht, nur noch zwei Bemerkungen machen.

Erstens. Die Tatsache, dass ein Milliardär an der Spitze des Staates stand (und möglicherweise immer noch stehen wird), der mit Staatsgeldern sein Unternehmensnetzwerk schmiert ... erinnert irgendwie an ein Land mit Richtung auf einen failed state. Das hat mit dem Bild der sehr gut funktionierenden tschechischen Zivilgesellschaft aus der Nähe absolut nix zu tun. Im Gegensatz etwa zu Berlin kommen die Züge in Tschechien pünktlich. Die Mieten sind bezahlbar und die Arbeitslosenrate in Tschechien liegt bei sagenhaften 2,9 Prozent. Also de facto Vollbeschäftigung. Absolute Spitze in Europa. Und das unmittelbar nach der Corona-Pandemie, die auch in Tschechien zeitweise geradezu dramatische Formen angenommen hatte.

Zweitens. Was viele aktuelle politische Kommentatoren, darunter auch der bekannte Wiener Publizist Robert Misik, der es eigentlich besser wissen müsste, völlig vergessen haben: Dass die sogenannte Masaryk-Republik, die "Tschecho-Slowakei" nach 1918 und bis Anfang der 30er Jahre der einsame Hort für Demokratie, Parlamentarismus, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit in Europa war. Die gegenwärtigen politischen Entwicklungen in Mittelosteuropa werden sehr häufig so gedeutet, dass es dort angeblich keine Tradition von Demokratie und Parlementarismus gäbe. Was für ein totaler Unsinn!
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von schokoschendrezki »

Rautenberger hat geschrieben:(11 Oct 2021, 16:19)

Wobei sich Preußen weiß Gott nicht als "Hort des Liberalismus" präsentiert hat. Ansonsten finde ich durchaus nachvollziehbar, was du schreibst. Allerdings glaube ich, dass die sowjetische Herrschaft über Osteuropa mit allen ihren Konsequenzen der weitaus bedeutendere Faktor für die Entstehung der heutigen Zustände ist. Das zeigen die Wahlergebnisse der AfD auf Länderebene ganz deutlich. In allen Ost-Ländern liegt die AfD rund um die 20-Prozent-Marke, in den West-Ländern liegt sie unter 10 %.
Das sehe ich ein klein wenig anders. Es gibt, nur mal als Beispiel, einige inzwischen völlig verdrängte historische Tatsachen. Die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands 1956 muss man selbstverständlich kritisch und als Teil einer hegemonionalen Politik der SU sehen. Kaum bekannt ist die Tatsache, dass die Minderheit der Roma-Bevölkerung in Ungarn die sowjetische Armee als eine Art Befreier ansahen. Und selbst viele viele Jahre danach, Ender der 80er in der Ex-DDR ... sowjetische Filme und einige sowjetische Publikationen galten zumindest für kurze Zeit als eine Art Dissidenten-Kultur in der DDR. Als Beispiel sei hier nur der großartige Film "Abschied von Matjora" genannt. Der Ende der 70er, Anfang der 80er gedreht wurde. Aber erst 1987 in den (West)Berliner Filmfestspielen lief. Es geht um den frühen Widerstand gegen sowjetische Wahnsinnsprojekte wie den Bau von Riesenstaumauern. Es gab noch andere Filme dieser Art aus der Ex-SU. Auf einmal war die Honecker-Klicke eine Art Greisen-Autokratie und die SU ein junger Hoffnungsträger.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von H2O »

schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Oct 2021, 09:20)

(...)
Die gegenwärtigen politischen Entwicklungen in Mittelosteuropa werden sehr häufig so gedeutet, dass es dort angeblich keine Tradition von Demokratie und Parlamentarismus gäbe. Was für ein totaler Unsinn!
Dazwischen liegen aber 60 weniger demokratische Jahrzehnte, also 2 Generationen... muß man doch auch sehen, daß solche Zeiten prägen. Auch Widerstandsbewegungen gegen Gewaltherrschaften sind nicht unbedingt Veranstaltungen eines demokratischen Rechtsstaats.

So, wie sich in Deutschland recht allgemein anerkannt der demokratische Rechtsstaat entwickelt hat, uns aber, auch wieder allgemein, sehr gern das menschenmordende Herrschaftssystem der Nazis um die Ohren gehauen wird.... na ja, Vorbeugen ist besser als Heilen! :)
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von schokoschendrezki »

H2O hat geschrieben:(12 Oct 2021, 09:48)

Dazwischen liegen aber 60 weniger demokratische Jahrzehnte, also 2 Generationen... muß man doch auch sehen, daß solche Zeiten prägen. Auch Widerstandsbewegungen gegen Gewaltherrschaften sind nicht unbedingt Veranstaltungen eines demokratischen Rechtsstaats.

So, wie sich in Deutschland recht allgemein anerkannt der demokratische Rechtsstaat entwickelt hat, uns aber, auch wieder allgemein, sehr gern das menschenmordende Herrschaftssystem der Nazis um die Ohren gehauen wird.... na ja, Vorbeugen ist besser als Heilen! :)
Ja. Das ist schon richtig. Aber ganz speziell auf Deutschland und Tschechien bezogen: Tschechien, Prag war ab Anfang der 30er einer der Zufluchtsorte für sehr sehr viele verfolgte NS-Regimegegner und Menschen jüdischer Herkunft. Verstehen Sie, dass diese hochnäsige deutsche Haltung erstens völlig berechtigt einen Tschechen irgendwie ärgert und dass es zweitens ziemlich erstaunlich ist, wie höflich man als Mensch mit einem deutschen Reisepass dennoch in Tschechien behandelt wird? Die jüngere Generation im Übrigen weiß eigentlich von alledem kaum etwas und redet mich zum Beispiel einfach als irgendeinen Ausländer auf Englisch an.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von H2O »

schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Oct 2021, 10:05)

Ja. Das ist schon richtig. Aber ganz speziell auf Deutschland und Tschechien bezogen: Tschechien, Prag war ab Anfang der 30er einer der Zufluchtsorte für sehr sehr viele verfolgte NS-Regimegegner und Menschen jüdischer Herkunft. Verstehen Sie, dass diese hochnäsige deutsche Haltung erstens völlig berechtigt einen Tschechen irgendwie ärgert und dass es zweitens ziemlich erstaunlich ist, wie höflich man als Mensch mit einem deutschen Reisepass dennoch in Tschechien behandelt wird? Die jüngere Generation im Übrigen weiß eigentlich von alledem kaum etwas und redet mich zum Beispiel einfach als irgendeinen Ausländer auf Englisch an.
Meine Mutter selig sagte gern: "Für's Gehabte gibt der Kaufmann nix!" Ich kann mir auch Sternstunden Deutschlands heraus suchen und mich überlegen dünken. Nehmen wir das, was hier und jetzt ist. Darauf kann man aufbauen... ganz lebensnah! Hochnäsig ja, wenn mir Leute dumm kommen. Ist mir erst einmal in Italien passiert. Tut in Polen niemand, jedenfalls nicht mir gegenüber. Also bin ich lieb und nett, versuche mit meinem allerbesten Polnisch eine zivilisierte Unterhaltung, erfahre höfliche bis herzliche Zuwendung... so wie das unter zivilisierten Menschen üblich ist. Geht doch, ganz umstandslos!
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von schokoschendrezki »

H2O hat geschrieben:(12 Oct 2021, 10:25)

Meine Mutter selig sagte gern: "Für's Gehabte gibt der Kaufmann nix!" Ich kann mir auch Sternstunden Deutschlands heraus suchen und mich überlegen dünken.
:) Ja. Es gibt schon Sternstunden. Aber das Problem ist, dass es eine wirklich "deutsche Geschichte" im Grunde erst seit in historischen Maßstäben kurzer Zeit gibt (1871).

Der "westfälische Frieden" im 17. Jahrhundert war so eine Sternstunde. Damit wurde im Grunde genommen das moderne Europa geschaffen. Aber das kann man nicht so einfach irgendeinem "Deutschland", einer deutschen Nation zuordnen. Im Gegenteil: Dieser westfälische Frieden wurde später, im 19. Jahrhundert von Nationalisten als Verrat, als Ausverkauf dieses paradoxen "Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation" dargestellt. Ich sehe diese Unmöglichkeit, als Deutscher im klassischen Sinne irgendeiner "Nation" anzugehören als großen Glücksfall, als ein Geschenk Gottes (wenns ihn denn gibt) an.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von sünnerklaas »

schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Oct 2021, 09:20)


Zweitens. Was viele aktuelle politische Kommentatoren, darunter auch der bekannte Wiener Publizist Robert Misik, der es eigentlich besser wissen müsste, völlig vergessen haben: Dass die sogenannte Masaryk-Republik, die "Tschecho-Slowakei" nach 1918 und bis Anfang der 30er Jahre der einsame Hort für Demokratie, Parlamentarismus, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit in Europa war. Die gegenwärtigen politischen Entwicklungen in Mittelosteuropa werden sehr häufig so gedeutet, dass es dort angeblich keine Tradition von Demokratie und Parlementarismus gäbe. Was für ein totaler Unsinn!
Man kann eben nicht alle über einen Kamm scheren. Polen und Ungarn wurden mit der Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit nach 1918 sehr schnell autoritär geführte Staaten. Beide Länder wurden von starken Männern (Horty in Ungarn und Pilsudski in Polen) regiert. Pilsudski und Horty haben in der nationalen Erzählung Heldenstatus, obwohl beide eben alles andere, als Demokraten waren.
Vielleicht ist diese Geschichte der Grund, warum Länder wie Polen und Ungarn auch heute zu autoritären Herrschaftsformen tendieren. In Tschechien, der Slowakei und den baltischen Staaten sieht das ja z.T. ganz anders aus.
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks hat man in Polen ungefähr 25 Jahre gebraucht, bis der autoritäre Rückschlag kam, in Ungarn ca. 20 Jahre.
Ich bin der Meinung, dass man die politische und rechtliche Tradition im Auge behalten muss. Die Menschen sind bequem. Sie entscheiden sich sehr oft für das bekannnte und scheinbar bewährte.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von H2O »

@ schokoschendrezki:

Nein, ich sehe "mein" Deutschland schon noch dort, wo Menschen mit der Muttersprache Deutsch aufwachsen und aufgewachsen sind. Auch wenn sich Österreicher oder Schweizer darüber erzürnen mögen: Wir haben eine gemeinsame deutsche Kultur, und ich finde mich dort mit geschlossenen Augen zurecht. Obwohl ich in Italien oder Frankreich sehr tief in die dortigen Kulturen eingestiegen bin, muß ich dort doch einige Schrecksekunden nachdenken, bis ich wieder synchronisiert bin... kein sprachliches Problem, aber ein kulturelles. In Polen brauche ich inzwischen nur noch etwa drei Schrecksekunden...

Nationalismus halte ich für arg beschränkt... "begrenzt", wie "meine" Niederländer sagen, wo ich es nicht unter 2 Schrecksekunden bringe, um mich auf deren Vorstellungen ein zu lassen. Na ja, Nordlichter sind wir nun einmal gemeinsam.

Man kann sich also ganz unterschiedlich "deutsch" verorten, den Respekt vor anderen Kulturen aber ebenso sorgfältig pflegen. Sozusagen meine europäische Heimat! Im Fall Polen muß ich mit meiner West-Vergangenheit aber noch tüchtig üben!
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von schokoschendrezki »

sünnerklaas hat geschrieben:(12 Oct 2021, 11:02)

Man kann eben nicht alle über einen Kamm scheren. Polen und Ungarn wurden mit der Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit nach 1918 sehr schnell autoritär geführte Staaten. Beide Länder wurden von starken Männern (Horty in Ungarn und Pilsudski in Polen) regiert. Pilsudski und Horty haben in der nationalen Erzählung Heldenstatus, obwohl beide eben alles andere, als Demokraten waren.
Vielleicht ist diese Geschichte der Grund, warum Länder wie Polen und Ungarn auch heute zu autoritären Herrschaftsformen tendieren. In Tschechien, der Slowakei und den baltischen Staaten sieht das ja z.T. ganz anders aus.
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks hat man in Polen ungefähr 25 Jahre gebraucht, bis der autoritäre Rückschlag kam, in Ungarn ca. 20 Jahre.
Ich bin der Meinung, dass man die politische und rechtliche Tradition im Auge behalten muss. Die Menschen sind bequem. Sie entscheiden sich sehr oft für das bekannnte und scheinbar bewährte.
Da musst du unterscheiden. Und zwar zwischen der Landbevölkerung und der Bevölkerung in den großen Städten. Budapest war wie auch Prag oder Städte in Polen oder der Ukraine Zentren jüdischen Lebens und darüber hinaus und allgemein Zentren kosmopolitischer Denkweise. Meine eigene Familie väterlicherseits war betroffen von der "Magyarisierungspolitik" des Horthy-Regimes. Deutsche Familiennamen zum Beispiel mussten "eingeungarischt" werden. In der ungarischen Literaturwissenschaft wird allgemein zwischen "Populisten" oder auch "Volkstümlern" und "Urbanen" unterschieden. Nicht nur von einzelnen Wissenschaftlern sondern ganz grundsätzlich und schon seit langem. Und dieser Konflikt wirkt in Mittelosteuropa bis heute und bestimmt weitgehend die politische Entwicklung.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von schokoschendrezki »

H2O hat geschrieben:(12 Oct 2021, 11:08)

@ schokoschendrezki:

Nein, ich sehe "mein" Deutschland schon noch dort, wo Menschen mit der Muttersprache Deutsch aufwachsen und aufgewachsen sind. Auch wenn sich Österreicher oder Schweizer darüber erzürnen mögen: Wir haben eine gemeinsame deutsche Kultur, und ich finde mich dort mit geschlossenen Augen zurecht. Obwohl ich in Italien oder Frankreich sehr tief in die dortigen Kulturen eingestiegen bin, muß ich dort doch einige Schrecksekunden nachdenken, bis ich wieder synchronisiert bin... kein sprachliches Problem, aber ein kulturelles. In Polen brauche ich inzwischen nur noch etwa drei Schrecksekunden...
Darüber wurde und wird in zahlreichen Threads heftig diskutiert. Selbstverständlich bin ich vollkommen zu Hause und verwurzelt in der deutschen Sprache. Heine, Goethe, Brecht usw. Bei allen diesen deutschsprachigen Autoren, die nicht irgendwelchen Mist sondern bedeutsame Literatur hervorgebracht haben ... durchwegs ... können Sie diese Distanzierung von der "Nation" wahrnehmen. Mal mehr und mal weniger. Das ist "Deutschland". Das mag woanders anders sein. Die deutsche Sprache ist die zweite Exilheimat angesichts einer fehlenden oder auch einfach nicht annehmbaren Nation.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von H2O »

schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Oct 2021, 11:16)

Da musst du unterscheiden. Und zwar zwischen der Landbevölkerung und der Bevölkerung in den großen Städten. Budapest war wie auch Prag oder Städte in Polen oder der Ukraine Zentren jüdischen Lebens und darüber hinaus und allgemein Zentren kosmopolitischer Denkweise.
(...)
Dann besteht in der näheren Zukunft doch einige Hoffnung durch die anhaltende Landflucht auch in Polen. Am Ende leben wir ganz lustig als Europäer zusammen! Na ja, als was denn sonst? :)
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von sünnerklaas »

schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Oct 2021, 11:16)

Da musst du unterscheiden. Und zwar zwischen der Landbevölkerung und der Bevölkerung in den großen Städten. Budapest war wie auch Prag oder Städte in Polen oder der Ukraine Zentren jüdischen Lebens und darüber hinaus und allgemein Zentren kosmopolitischer Denkweise. Meine eigene Familie väterlicherseits war betroffen von der "Magyarisierungspolitik" des Horthy-Regimes. Deutsche Familiennamen zum Beispiel mussten "eingeungarischt" werden. In der ungarischen Literaturwissenschaft wird allgemein zwischen "Populisten" oder auch "Volkstümlern" und "Urbanen" unterschieden. Nicht nur von einzelnen Wissenschaftlern sondern ganz grundsätzlich und schon seit langem. Und dieser Konflikt wirkt in Mittelosteuropa bis heute und bestimmt weitgehend die politische Entwicklung.
Zum tradierten Stadt/Land-Konflikt war ich noch gar nicht gekommen. Das hätte meinen Beitrag gesprengt.
Natürlich waren die "Kosmopoliten" in den Städten nach 1918 Ih-Pffui. Daran hat sich auch nach 1945 nichts geändert und dieser Stadt/Land-Konflikt spielt ja heute noch eine nicht unerhebliche Rolle. Die Autokraten holen sich ihre Stimmen, ihre Unterstützer auf dem Lande, in den peripheren Regionen. Dort, wo man sich als Opfer sieht und die Welt nicht mehr versteht. Ähnliches ist ja durchaus auch in einigen ländlichen Regionen in der ehemaligen DDR zu beobachten - besonders stark in Thüringen und Sachsen.
Ich fand in dem Zusammenhang die Bemerkung von Golo Mann (1909-1994) zum unterschiedlichen Einfluss der französischen Revolution auf die unterschiedliche deutsche Staats- und Rechtskultur sehr bemerkenswert und als Erklärungsansatz auch sehr bestechend.
Interessant wird natürlich sein, warum sich in Finnland und den baltischen Staaten nicht so ein Hang zu autoritären Regimen entwickelt hat.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von H2O »

schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Oct 2021, 11:28)

(...)
Die deutsche Sprache ist die zweite Exilheimat angesichts einer fehlenden oder auch einfach nicht annehmbaren Nation.
Dadurch wird auch klarer, weshalb Vielvölkerstaaten zeitweise durchaus erfolgreich sein können... sich aber doch gelegentlich die Wege trennen. Um so wichtiger, das europäische Projekt als ein Projekt unter Gleichwertigen zu entwickeln. In dem Punkt sind Sie... und hoffentlich auch ich... ganz unverdächtig... :)
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von sünnerklaas »

H2O hat geschrieben:(12 Oct 2021, 11:31)

Dann besteht in der näheren Zukunft doch einige Hoffnung durch die anhaltende Landflucht auch in Polen. Am Ende leben wir ganz lustig als Europäer zusammen! Na ja, als was denn sonst? :)
Die Landflucht kann zu einem Problem werden, wenn sich der ländliche Raum umgekehrt zu einem Rückzugsort von politischen Extremisten entwickelt und sich somit dort Parallelgesellschaften bilden, die dann zu politischem Einfluss kommen. Ich halte es für einen ganz großen Fehler, den ländlichen Raum aufzugeben. Damit kann man Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterhöhlen und zerstören.
Man schaue einmal, wo in den muslimisch geprägten Staaten die Extremisten sitzen: in den Bergen, in der Peripherie. Nicht in den Großśtädten. Die galten schon im Alten Testament als Hort der Sünde und der Verderbtheit (Stichworte: Sodom und Gomorrha). Die Erzählung von den verdorbenen Großśtädtern spielt auch hierzulande heute wieder in der Erzählung der Rechtspopulisten und -extremisten eine ganz große Rolle. Und nicht nur da. Weil die Menschen in diesen Städten aus deren Sicht "falsch wählen", gelten sie als "wohlstandsverwahrlost". Auch wenn sie bürgerliche Berufe haben, Unternehmer seien, so der Narrativ, seien sie keine "Bürgerlichen" im politischen Sinn. Dazu gab es gestern einen bemerkenswerten Artikel in der Zeit:

Bürgerlichkeit: Alle Menschen werden Bürger - von Johannes Schneider.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von sünnerklaas »

H2O hat geschrieben:(12 Oct 2021, 11:38)

Dadurch wird auch klarer, weshalb Vielvölkerstaaten zeitweise durchaus erfolgreich sein können... sich aber doch gelegentlich die Wege trennen. Um so wichtiger, das europäische Projekt als ein Projekt unter Gleichwertigen zu entwickeln. In dem Punkt sind Sie... und hoffentlich auch ich... ganz unverdächtig... :)
In den alten EG-Ländern hatte man die Tradition des Heiligen Römischen Reichs. Das hat fast 1000 Jahre mehr recht als schlecht funktioniert, es hat aber funktioniert. Rheinbund und norddeutscher Bund funktionierten ja nach einem ähnlichen Prinzip. Das ganze hat man dann in seiner Konstruktion optimiert und den modernen Gegebenheiten angepasst. Bei den Gründungsmitgliedern war es ja so, dass große Teile davon zumindest zeitweise dem HRR angehörten (Teile des heutigen östlichen Frankreichs, dazu Belgiens, die Niederlande, Luxemburg, Teile Italiens). Frankreich selbst war stets im HRR irgendwie involviert, ebenso Dänemark. Daraus hat sich über die Jahrhunderte hinweg eine gemeinsame rechtliche, politische und kulturelle Tradition entwickelt, auf deren Basis man EWG und EG aufgebaut hat.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von H2O »

Bertold Brecht 1944
Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne
Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.

Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.
Tja, auch HRR... oder doch nicht?
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Der Neandertaler »

Hallo H2O.
Dazwischen liegen aber 60 weniger demokratische Jahrzehnte, also 2 Generationen... muß man doch auch sehen, daß solche Zeiten prägen.
Erstens (aber nur am Rande bemerkt):
  • Deine Rechnung, daß 60 Jahre zwei Generationen sind, möchte ich bezweifeln - es sind max. 1,5.
Zweitens:
  • Es ist aber auch nicht so (unabhängigder länge der Zeit), "daß solche Zeiten prägen." Erzählungen und Erinnerungen daran werden teilweise von Generation zu Generation weitergegeben. Unabhängig davon: unsere Demokratie ... wie es funktioniert, ... das wußte vorher auch niemand (ich spreche jetzt nicht von 1945 - Stichwort: "Hambacher Fest"), trotzdem hat man für Demokratie gekämpft. Man wußte ja, was man wollte:
    • Mitsprache!
Insofern ist auch Deine zweite Bemerkung richtig! Aber es ist wie immer: Gewalt erzeugt Gegengewalt. Und in der Ablehnung, etwa gegen Gewaltherrschaft, ist man einig. Ob nach deren Niederschlagung eine neue Gewalt- oder zumindest undemokratische Herrschaft entsteht, bleibt dahingestellt.
"Ich teile Ihre Meinung nicht, ich werde aber bis zu meinem letzten Atemzug kämpfen, daß Sie Ihre Meinung frei äußern können." (Voltaire)
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von sünnerklaas »

H2O hat geschrieben:(12 Oct 2021, 11:56)

Bertold Brecht 1944



Tja, auch HRR... oder doch nicht?
In Tschechien spielt ein anderer Faktor eine große Rolle und macht Tschechien zu einem Sonderfall: die Gewalterfahrungen ab 1618. Damals geriet Böhmen unter eine 400 Jahre andauernde österreichische Fremd- und Gewaltherrschaft. Die Tschechen wurden in der Folgezeit von Wien aus drangsaliert, mit der staatlichen böhmischen Eigenständigkeit war es ab dem 30-jährigen Krieg vorbei. Sie konnten sich erst 1918 daraus lösen.
Und selbst die Auflösung des HRR 1806 hatte ja für die Tschechen keinerlei Konsequenzen. Die Habsburger beherrschten das Land. Eine gewisse Eigenständigkeit, wie sie die Ungarn in der k.u.k.-Monarchie hatten, wurde den Tschechen nie zugestanden.
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von H2O »

Eine gewisse Eigenständigkeit, wie sie die Ungarn in der k.u.k.-Monarchie hatten, wurde den Tschechen nie zugestanden.
War wohl auch nicht so einfach bei 30% (mindestens) deutscher Bevölkerung. Vielleicht sind die Tschechen aber auch wurstiger als die Ungarn... und konnten mit der KuK-Herrschaft leben. Weit weg von meinen Erfahrungen...
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Re: Parlamentswahl in Tschechien

Beitrag von Der Neandertaler »

Hallo schokoschendrezki.
schokoschendrezki hat geschrieben:... Unterschied bei der Inflationsrate ... 3,16 (Tschechien) zu 1,94 (Slowakei) schon ziemlich beträchtlich.
Das kann und sollte aber nicht dem EURO zugeschrieben werden. Die Slowakei war im Verhältnis zu Tschechien immer schon etwas ... na, sagen wir mal: sie hinkte hinterher. Wenn man Fachleuten ... BWLlern glauben schenken darf, benötigt eine funktionierende Wirtschaft 2% Inflation.
  • ... zumindest würde es ihr nicht schaden.
Also dürfte es theoretisch beiden Staaten nicht besonders gut geh'n. Du hast Recht:
  • Die höhere Tschechien-Inflation dürfte in der Tat mit den "Wohltaten" zutun haben.
À propos Alexander Dubček, Prager Frühling und kleine Gedenkstätte:
  • Das dürfte auch eventuell mit seiner Rolle, bzw.: seinem Vorhaben zutun haben?!?

    Vor 1968 hieß die Tschechoslowakei ČSR. Mit der Verfassungsreform von 1958 durch Antonín Novotný, den damaligen Ersten Sekretär des Zentralkomitees der KPČ, sollte die ČSR eine Namensänderung in ČSSR erfahren – also mit dem Zusatz: "sozialistisch". Damit war Dubček nicht einverstanden, weil seiner Meinung nach die Rechte der Slowakei innerhalb der ČSR/ČSSR beschnitten und so die Errungenschaften von 1944/45 beseitigt würden. Zudem befüchtete er, letztlich würden dadurch die slowakische Nationalregierung und andere slowakische Einrichtungen abgeschafft. Zumindest wurde Dubček Erster Sekretär des ZK der KPS (in der Slowakei) und zuzgleich Vollmitglied des ZK der KPČ. Infolge vollzog sich unter Dubček in der Slowakei eine Ansatz zur Meinungsfreiheit, aber im tschechischen Teil der ČSSR blieb alles wie gehabt.

    Nachdem Alexander Dubček 1968 Antonín Novotný auch als Ersten Sekretär der KPČ ablöste ... mit Moskaus Segen übrigens, forderte er einen reformierten, demokratischen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" (besser bekannt als "Prager Frühling") - also keine Demokratie nach westlichem Standart, wie wir sie heute kennen.
Thema Stadt - Land:
  • erweiternd was ich zu H2O gesagt habe, daß Erfahrungen mit oder in Demokratie von Generation zu Generation weitergegeben wird, wird dies auch etwa von Lehrpersonal in Schule, bzw. Unis getragen und dort weitergegeben.
  • Es war Jan Palach (Student,20), der sich aus Protest und der Lethargie und Hoffnungslosigkeit der tschechoslowakischen Öffentlichkeit selbst verbrannte.
  • Es waren zuvorderst Studenten, die am 16. November 1989 in Bratislava eine Demonstration veranstalteten. Am Tag darauf fand in Prag anläßlich des "50. Jahrestags der Schließung tschechischer Hochschulen 1939" eine genehmigte Studentendemonstration statt. Vielleicht, weil die Polizei im Verlauf des Abends die Prager Kundgebungen zerschlug und dabei etwa 600 Menschen verletzte, und die Prager Studenten zu einem zeitlich unbegrenzten Studentenstreik aufriefen, schloßen sich unter anderen die Schauspieler der Prager Bühnen an. Das alles kennen wir unter dem Begriff der "Samtene Revolution", weil der Wechsel innerhalb weniger Wochen und weitgehend gewaltfrei erfolgte.
  • Es waren auch überwiegend Studenten der Piraten-Partei, die Passanten teils in Fußgängerzonen in Gespräche und Diskussionen verwickelten, und so eventuell zum politischen Umdenken derer begetragen haben.

    Im Grunde ist es wie überall: die Jungen verlassen das Dorf, ziehen in eine Stadt ... zumindest in Uni-Nähe und erfahren dort eventuell von den Vorzügen der Demokratie ... sie wollen Veränderung.
    • (der Vergleich zu "Fridays-for-future" drängt sich unweigerlich auf)
"Ich teile Ihre Meinung nicht, ich werde aber bis zu meinem letzten Atemzug kämpfen, daß Sie Ihre Meinung frei äußern können." (Voltaire)
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