Lange Antwort, lange Bedenkzeit ...
H2O hat geschrieben:(24 Jun 2021, 12:09)
@ schokoschendretzki: 1. Industrielles
Im Zeitalter der Globalisierung und der weltweiten Lieferketten spielen nur noch die verfügbaren Fachkräfte und die erzielbaren Betriebsgewinne eine bestimmende Rolle... wenn die Qualität der Erzeugnisse überzeugt. So sehe ich Zweigbetriebe in der gesamten EU, wenn das Unternehmen nicht schon gleich von Anfang an eine multi-nationale Angelegenheit war... (AIRBUS). So lange Herr Orbán also seine Hochschulen und Schulen auf internationalem Stand hält, das Land die gesuchten Fachkräfte bietet, wird niemand auf den Gedanken kommen, dort Audi ab zu wracken. Sollte es Herrn Orbán aber gelingen, sein Land aus der EU heraus zu führen, dann können viele Vorteile dahin sein, die Ungarn derzeit genießt... nicht nur die Mittel der Regional- und Agrarförderung der EU, sondern auch der zollfreie Grenzverkehr. Der Politiker muß sich also vorsehen, daß er nicht verspielt, was sein Land mit Hilfe von Partnern mühevoll aufgebaut hat.
Wir werden derartige Verluste im Gefolge des BREXITs beobachten können; und dabei ist Großbritannien international viel besser vernetzt als Ungarn.
Die beiden Länder sind kaum zu vergleichen von Größe und Bedeutung. Ich will aber noch mal daran erinnern, dass Orbán mit seinem Privatvermögen (gut, das er definitiv mit der Abführung von EU-Geldern erweitert hat), vor der Brexit-Abstimmung in britischen Zeitungen Anzeigen geschaltet hat, in denen er
für den EU-Verbleib UKs geworben hat. Polens PiS-Partei dagegen war das zweitgrößte Mitglied in der EU-Parlamentsfraktion, in der die britischen Tories die erstgrößten waren. Die EKR-Fraktion, die Europäischen Konservativen und Reformer, das war eigentlich nur die British Conservative Party (25 Mitglieder) und die polnische PiS (15 Mitglieder) ... und noch etwas Tschechien (9) ... alles andere lief unter ferner liefen. Glauben Sie nicht, dass ich bis heute die politischen Zusammenhänge zwischen UK-England, Visegrád-Staaten, Brexit, UK-Schottland irgendwie verstehe. Obwohl ich alle betroffenen Länder eigenltich gut kenne.
Die Universitäten in Ungarn sind - gerade was die naturwissenschaftlich-technischen und medizinischen Richtungen betrifft, auf einem hervorragenden Stand. Das liegt zum einen an ihren eigenen Traditionen. Das kann auch ein Orbán auch selbst in 20 Jahren Regierungszeit nicht kaputtmachen. Will er auch nicht. Er will nur Sachen wie Gender-Forschung da raus nehmen. Zum anderen liegt es daran, dass Hochschulen in der Regel in größeren Städten liegen. Dazu gleich noch mal. Das Problem der Fachkräfte im Verhältnis zur eigentlich gut laufenden Wirtschaft in Ungarn besteht schlicht und einfach und erstens darin, dass Ungarn nur etwa 10 Millionen Einwohner hat. Und dass von denen, da sie in der Regel gut ausgebildet sind, auch noch ein Teil in Länder mit höheren Durchschnittseinkommen abwandert. Das ist im Verhältnis zu den inzwischen aufgebauten Produktions- und Entwicklungskapazitäten einfach zu wenig. Damit kann man nicht variabel auf Flauten und Höhen reagieren. Die Vermutung besteht, dass neuere größere Betriebe wie das von BMW (Debrecen) in Richtung Ukraine angesiedelt wurden.
@ schokoschendretzki: 2. Gesellschaftliches
Das Geschlechtliche, ob nun körperlich oder durch Neigung oder beides gehört aus meiner Sicht in das Intimleben eines Menschen. Das darf nicht, wie in der Vergangenheit geschehen, an die Öffentlichkeit gezerrt werden, um dann als Regelbruch abgestraft zu werden. Unser europäisches Familienbild mit Paarbildung und leiblichen Kindern sollte schon als gesellschaftliches Leitbild verstanden werden... auch in der sexuellen Aufklärung der Jugend. Dahin gehört auch die Vermittlung anderer Formen des geschlechtlichen Zusammenlebens und der Paarbildung. Allerdings empfinde ich es auch als Regelbruch und Mißbrauch der gewonnenen persönlichen Freiheit, mit der eigenen Befindlichkeit bewußt auf öffentliches Aufsehen hin zu arbeiten. Geschlechtsakte und Vorspiele dazu gehören nicht in die Öffentlichkeit. Das Liebespaar, das sich innig und öffentlich küßt, sollte schon der Grenzfall sein.
So lange sich die Gesellschaftspolitik in diesem Rahmen von Freiheit und Grenzziehung bewegt, ist für mich die Welt in Ordnung. Da ich Herrn Orbán nicht so gut beobachte, weiß ich nicht, was er wirklich auf diesem Gebiet verkündet. Ich habe verstanden, daß er sexuelle Orientierung und sexuellen Mißbrauch von Kindern in einen Topf wirft. Das halte ich für niederträchtig. Aber wir können auch nicht ausschließen, daß Menschen mit einer von der angestrebten Norm abweichenden sexuellen Orientierung sich an Kindern vergreifen. Solche Verfehlungen sind so zu bewerten wie Übergriffe jener Menschen, die der vorherrschenden Norm entsprechen.
Das ist ein ganz schwieriges Thema. Mich stört das öffentliche Herumgepoltere der EU-Politiker in dieser Angelegenheit genau so, wie die angebliche Hetze Orbáns gegen sexuelle Orientierung außerhalb der gesellschaftlichen Normen. Soll Herr Orban den Betroffenen doch einmal erklären, was sie denn tun können, um besser der Norm zu entsprechen! Obwohl die sexuelle Orientierung diesen Mann gar nichts angeht, wenn sie sich im Intimbereich abspielt![/quote]
Was die eigentlichen Präferenzen von Herrn Orbán in dieser Hinsicht sind, weiß ich nicht. Ist auch nicht so wichtig. Sicher ist allerdings, dass er Fußball mag. Seine Politik und die Politik der Fidesz zielt dahin, die Machtbasis auf dem Land und in den kleineren Städten auszubauen. Diese Machtbasis besteht nicht so sehr aus den Abgehängten sondern eher aus den Leuten, denen es gut geht. Und natürlich den Leuten, die sich mit Hilfe der Partei irgendwo einen Beamten- oder Bürgermeisterposten geholt haben. Und die gemeinsame Ideologie und Kultur dieser Leute kann man vereinfacht so beschreiben: Ungarn ist ein kleines Land mit einem besondern Volk im Karpatenbecken. Umgeben von mehr oder weniger großen Ländern, in denen slawische, romanische Sprachen oder deutsch gesprochen wird. Diese Ungarntum-Ideologie hat sich in den letzten 10 Jahren noch mal so richtig herausgebildet. Egal was er diesen Leuten erzählt: Wenn sie glauben, dass die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften Teil dieses "Ungarntums" ist, dann nehmen sie ihm das ab und feiern ihn dafür. Und am Ende feiern sie ihn selbst dafür, dass er sich gegen die Mehrheit der anderen EU-Staaten erfolgreich zur Wehr setzt.
Das ist aber nur die eine Seite. Die andere Seite ist, dass die Mehrheit der Menschen in Städten wie Budapest in krassestem Gegensatz zu dieser Ungarntum-Ideologie steht. Budapest ist eine Stadt mit liberalen Bürgerbewegungen, einem liberalen Bürgermeister, die erfolgreich die Austragung der Olympiade verhindert hat. Mit einem zwar reduziertem aber noch immer sehr lebendigen und reichen Anteil von Menschen jüdischer Herkunft. Eine durch und durch kosmopolitische Stadt. Ich will diesen abstrusen Zustand verhindern, dass jemand, der in Paris, Madrid oder Berlin jemandem anderen erzählt, dass er nächstes Jahr zum Sziget Festival fährt, Zum (offizielle Nebenbezeichnung "Island of Freedom") die dumme Antwort bekommt: Ach was, du bist wohl auch so einer ... Die Dummheit besteht in dieser traditionellen Bindung von Sympathien an Länder und Nationen.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)