Everythingchanges hat geschrieben:(16 Sep 2021, 16:56)
[...]
1.
Ja natürlich, aber nicht sehr wahrscheinlich, wenn eben der Großteil der Bevölkerung das weiterhin so sieht. Das ist das „blöde“ an demokratischen Staaten, die Meinung der Bevölkerung muss berücksichtigt werden. Demokratien sind daher immer „opportunistisch“.
Polen:
Das sind Auseinandersetzungen zwischen der EU und Polen. Du hast behauptet Deutschland würde bewusst gegen Polen arbeiten. Wenn, dann ist es hier doch eher die PiS-Regierung die bewusst gegen die EU (nicht speziell Deutschland) arbeitet… aber sicherlich auch gerade nicht durch Balticpipe, das ist sogar ein überwiegend reines EU Projekt (wenn man das assoziierte Norwegen als Teil des Binnenmarktes ansieht) und auch im europäischen Interesse. Den Streit mit der EU sehe ich auch nicht als außenpolitischen Erfolg Russlands, da Russland mit der Rechtstaatlichkeit in Polen nichts zu tun hat.
2.
Nein, das können die Juristen nicht. Wenn explizit steht „unmittelbare“ dann ist auch nur unmittelbare Staatsfinanzierung gemeint. Ansonsten hätte man nur Staatsfinanzierung geschrieben ohne irgendwelche Spezifizierungen, dann müssten die Richter anfangen was alles unter Staatsfinanzierung subsumiert werden kann. Juristen können auslegen, wenn der Gesetzgeber diesen Spielraum lässt, wenn bspw. ein Gesetz eindeutig aufzählt was erlaubt ist und was nicht, gibt es keinen Interpretationsspielraum. Die ursprüngliche Behauptung war in der EU würde Recht hingebogen. Natürlich kann man das Vorgehen der EZB für falsch halten (ist aber auch ein anderes Thema), aber es ist nun mal keine Beugung des Rechts. Spielraum gibt es bspw. oft im Strafrecht, wo das Strafmaß meist vorgegeben ist mit Strafe von soundsoviel Monaten/Jahren bis soundsoviel Jahre, hier hat das Gericht z.B. Spielraum.
Was ist an Protesten verkehrt? Wenn Bürger protestieren wollen, können sie das tun, das sind Grundrechte. Das die Gaspreise in 2021 steigen werden, war lange bekannt, das hatte aber auch andere Gründe als den Weltmarktpreis (z.B. CO2 Abgabe). Ein Monopol ist aber ungünstig um Preise gering und stabil zu halten. Das beste Mittel sind mehrere Anbieter z.B. wenn man auch aus Norwegen bezieht. Daher wäre es unsinnig das „Unbundling“ einfach „weg zu biegen“. Zumindest aus Sicht der EU, natürlich nicht aus Sicht von Gazprom. Welche Interessen sollte die EU vertreten? Die der Europäer oder die eines russischen Staatskonzerns?
3.
Wenn die weltweite Nachfrage ansteigt, weil Corona-Lockdowns entfallen und sich die wirtschaftliche Aktivität wieder erhöht, steigt auch der Preis. Das ist normal und pendelt sich meist wieder ein, wenn die erhöhte Nachfrage sich wieder abflaut. Energiepreiserhöhungen haben viele Gründe (die Einkaufspreise machen schlussendlich nur ca. 50% des Verbraucherpreises aus). Das das den Verbrauchern nicht gefällt ist auch nicht überraschend. Die Diversifizierung in Südosteuropa gibt es also nicht wirklich, sie ist nur ein Wunschtraum? Es scheint, du vermischst hier kurzfristige Entwicklungen des Gaspreises mit der stattfindenden Diversifizierung. Die kurzfristige Entwicklung des Gaspreises ist aber auch eher ein Argument für Diversifizierung statt dagegen. Für den deutschen Gasverbraucher gilt, das diese eher selten den Gas-Anbieter wechseln, geschieht das häufiger, kann sich das ebenfalls auf die Preise auswirken, auch hier gäbe es noch Potential. Bei Telekommunikation oder Strom ist es schon eher so, das die Verbraucher häufiger zu günstigeren Anbietern wechseln. Ist natürlich noch keine Garantie für sinkende Preise.
4.
Wenn man sich auf Tatsachen beruft, und die Handlungen Russlands sind nun mal Tatsache, der handelt emotional. Warst Du es nicht, der dauernd davon sprach, dass man die Taten bewerten sollte? Wenn man das macht ist es aber nicht rational sondern emotionsgesteuert? Ob man sich schlussendlich für Gazprom entscheidet oder nicht, wird sich zeigen, wenn es das beste Angebot ist, dann wahrscheinlich ja.
Straftaten auf europäischem Boden haben erstmal nichts mit moralisierender, weißer Weste zu tun, sondern mit Gesetzesverstößen. Es gibt auch keine vergleichbaren Verfälle auf russischem Boden, die durch EU Staaten veranlasst wurden, also hätte man diese „weiße Weste“ sogar selber, aber darum geht es wie gesagt nicht. Straftaten haben Konsequenzen, ist halt so, muss man sich vorher überlegen, aber nicht hinterher heulen. Es ist auch nicht zu erwarten das es dann einen Bonus gibt und man EU-Richtlinien hinbiegt (selbst bei sehr positiven außenpolitischen Beziehungen wäre das fragwürdig). Wie naiv kann man denn eigentlich sein?
Militär:
Wenn man davon ausgeht das eine EU-Armee außerhalb Europas tätig wird, dann vielleicht. Aber eine EU-Armee wird sicher nicht in Russland aktiv und umgedreht die russische Armee auch nicht in Europa. Außerdem besteht auch die Nato noch und das spricht eher gegen eine Kooperation mit Russland, es sei denn es gibt Annäherung zwischen Nato und Russland. Ich denke grundsätzlich steht eine EU-Armee sowieso noch in den Sternen und auch politische Vorgaben wie z.B. ob Einsätze außerhalb des EU-Raums überhaupt gewollt sind. Von daher scheint das noch weit entfernte Zukunftsmusik.
Zu Mali: Man hat geäußert, dass man bei einem Einsatz russischer Söldner einen Abbruch des Einsatzes in Erwägung zieht. Denkst Du das geschieht weil man Bammel vor russischen Söldnern hat? Reguläre Truppen brauchen normalerweise vor Söldnern keine Bedenken haben, da diese nicht genauso ausgerüstet sind. Es geht darum das man Kooperation mit Wagner-Söldnern verweigert. Es spielt zwar keine Rolle, da die Soldaten nicht die Entscheidung treffen, aber Söldner sind bei regulären Truppen seit jeher nicht hoch angesehen. Reguläre Soldaten kämpfen für ihr Land, Söldner für Geld (und laufen bei Bedarf auch mal schnell über).
5.
Ich denke es interessiert in Deutschland die breite Öffentlichkeit herzlich wenig, was Putin, Lawrow oder sonst wer aus dem Kreml von sich gibt. Die meisten wissen gar nicht wer Lawrow überhaupt ist. Und was der so zu erzählen hat, hat in etwa die Relevanz des berühmten Sack Reis in China. Es gab keine nennenswerten Protestwellen in dieser Sache (außer ein paar Exilrussen und Russlanddeutsche, und das auch nur, weil russische Medien konsumiert wurden...). Und wer protestieren wollte, konnte das auch tun, das erschüttert dieses Land nicht. Lawrow hat sich hier zur Witzfigur gemacht, der Effekt war gleich Null. Zumal sich hinterher herausgestellt hat, dass es falsch war. Glaubst Du ernsthaft, man zittert in Deutschland, weil jemand wie Lawrow vermeintlich in der Lage wäre, Teile der Bevölkerung aufzuhetzen? Ein Fingerschnipp von Putin, ein kurzer Befehl gebellt von Lawrow und schon stürzen die Deutschen Ihre Regierung, brennen das Regierungsviertel nieder und errichten einen russlandhörigen Vasallenstaat? Lawrow wollte Trittbrettfahrer spielen und ist damit gehörig auf die Nase gefallen und das war tatsächlich recht komisch. Ich glaube der Regierungssprecher Seibert meinte nur süffisant „Lügen haben kurze Beine.“ Wer einmal als Dummschwätzer entlarvt ist, hat es schwer seine Integrität wieder zu erlangen. Ich weiß auch das in den Kremlmedien das Bild verbreitet wird, ein Großteil der deutschen Bevölkerung unterstützt klar die Meinung und Politik des Kreml. Das Problem ist nur, das ist völlig frei erfunden.
6.
Es gibt kein böses Blut, man hat in der Sache auch tatsächlich mal gesprochen. Konnte sich aber nicht einigen, daher gibt es den Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis Lissabon bis heute nicht. Russland wird auch nicht verteufelt. Wenn man sagt das Russland die Bedeutung nicht hat, die man sich selber andichtet, ist das eine wertfreie Einschätzung, die man natürlich nicht teilen muss. Derzeit scheint auch das Interesse in Europa gebremst. Vermutlich auch in Russland derzeit kein Thema.
6 c.
Wenn dann unterschätze ich die Kreml-Akteure, nicht die Russen an sich. Aber die Entwicklungen sind überschaubar. Den eigenen Agrarmarkt hätte man doch schon lange vorher fördern können, auch das Importverbot hätte man lange vorher machen können (obwohl ich der Meinung bin das es eine unsinnige Maßnahme ist, weil die negativen Effekte überwiegen). Man wollte eher der EU schaden, die hat aber stattdessen schon längst andere Absatzmärkte gewonnen.
Außerdem fördert Protektionismus nicht die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft. Nimm die protektionistischen Maßnahmen weg und in der Regel fällt die heimische Produktion zusammen wie ein Kartenhaus. Das droht langfristig auch bei Agrar-Exporten. Weizen ist noch unter der Stufe von Rohstoffen wie Erdöl und Erdgas (in Sachen Komplexität). Hinzu kommt der niedrige Rubel der Exporte billig macht. Man ist zum billigen Weizenexporteur geworden. Mag sein das hier diverse Lebensmittelskandale die es in Russland gab, sich dort noch nicht unmittelbar auswirken, aber langfristig wird sich kein Vertrauen in russische Lebensmittel entwickeln, wenn da nichts passiert. Und dann ist es auch mit dem Export vorbei bzw. wird in anderen Bereichen kaum ein Export von Lebensmitteln entstehen. Der größte Weizenproduzent ist übrigens die EU, sie verbraucht aber selber viel, nichtsdestotrotz wird ähnlich viel wie durch Russland exportiert. Aber das politische Ziel der EU-Agrarsubventionen ist nicht der Export, sondern ebenfalls die autonome Versorgung die man auch seit Jahrzehnten erreicht hat, was schlussendlich dazu geführt hat, dass es den „Butterberg“ an billigen Lebensmitteln gibt.
Kurios ist übrigens, dass man in russischen Supermärkten oft auch Produkte findet, wo drauf steht „Meine Liebe“ (auf Deutsch und in lateinischer Schrift, nicht kyrillisch). Stand direkt neben „Frosch“ Reiniger. Frosch ist tatsächlich ein deutsches Produkt, das andere soll zumindest den Eindruck erwecken (deswegen war es auch genau neben Frosch platziert). Gibt’s vergleichbar auch bei Milchprodukten (Käse der zumindest anscheinend etwas mit dem Alpenraum zu tun hat). Das illustriert wie viel Vertrauen die russischen Verbraucher in die heimische Produktion haben. Wie werden dann dauerhaft die Exportpotentiale sein?
https://meineliebe.eco/catalog/chistyas ... l/?lang=de
Industrie:
Deutlich langsamer ist schon sehr wohlwollend formuliert. Putin hatte jetzt 20 Jahre, wie viel Zeit soll es denn noch benötigen? Reichen nochmal 20 Jahre? Alles in a) ausreichender Menge, b) hoher Qualität und c) zu guten Preisen zu produzieren wird ebenfalls nicht funktionieren. Auch die Ansicht man könne alles von oben steuern (einfach anweisen und dann läufts) ist nicht unbedingt realitätsnah. Hinzu kommt die Korruption die die wirtschaftliche Entwicklung bremst. Wenn bei einem Unternehmer ab einer gewissen Entwicklung der FSB vor der Tür steht wegen „Beraterposten“, man also unqualifizierte und unproduktive Dummies mit durchfüttert, die Geld absaugen das dringend für die Entwicklung des eigenen Unternehmens benötigt wird, wird sich keine leistungsfähige Wirtschaft entwickeln oder deutlich langsamer. Die innovativsten US-Unternehmen schütten bspw. keine Dividende aus, Gewinne werden in das Unternehmen reinvestiert um das Unternehmen voran zu bringen (z.B. Apple erst seit 2012 und auch nur teilweise, Google/Alphabet A bis heute nicht, Amazon ebenso wenig).