Kohlhaas hat geschrieben:(27 Feb 2021, 12:46)Eben. Da liegt die Wurzel der Probleme, die sich heute in der Ost-Ukraine und "gestern" auf der Krim gezeigt haben: Im "Vielvölkerstaat" Sowjetunion spielten Grenzen zwischen Ethnien aus ideologischen Gründen keine Rolle mehr, sie wurden auf Befehl des Obersten Sowjet für abgeschafft erklärt. Und dann wurden irgendwann willkürlich Landesgrenzen gezogen. Heute, nach dem Zusammenbruch der SU, rächt sich das. Heute sind zum Beispiel fast 40 Prozent der Bewohner der baltischen Staaten russischer Abstammung. In der Ost-Ukraine stellen Russen vielleicht sogar die Bevölkerungsmehrheit. Auf der Krim gibt es auch eine sehr gemischte Bevölkerung. Welche "Staatsangehörigen" wo leben, ist zur Streitfrage geworden, seit die "Brudervölker" sich zerstritten haben. Die Frage wird heute gern mal mit Gewalt beantwortet.
Eine ganz ähnliche Entwicklung mit ganz ähnlichen Ursachen haben wir nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens gesehen. Da brachen ethnische Konflikte aus, die das osmanische Reich durch seine Ignoranz gegenüber ethnischen Unterschieden verursacht hatte. Auch da spielten willkürliche Grenzziehungen eine zentrale Rolle.
Zur Krim habe ich eine differenzierte Meinung. Völkerrechtlich gehört die zur Ukraine. Historisch gehörte sie seit Jahrhunderten zu Russland. Natürlich kann man sich Deiner Argumentation anschließen, dass völkerrechtlich eine "Abspaltung" vom "Mutterland" nur mit dessen Zustimmung zulässig ist. Das würde dann allerdings das Recht der Iren infrage stellen, sich Anfang des vergangenen Jahrhunderts von der britischen Kolonialmacht zu befreien. Oder das Recht Vietnams, sich von Frankreich loszusagen. Um nur zwei Beispiele zu nennen. Trotzdem bleibt die Besetzung der Krim durch Russland rechtswidrig. Die wurde vom Kreml nur mit der ach so bekannten Aussage legitimiert, dass die Krim-Russen um Hilfe gerufen hätten.
Nein, aus meiner Sicht blieben die Außengrenzen der baltischen Staaten nach ihrer Einverleibung in die Sowjetunion unverändert. Aber es gab eine sowjetische Nationalitätenpolitik, die ein für alle Male sicher stellen wollte, daß diese Staaten nicht wieder die SU verlassen könnten. Also wurden systematisch Russen angesiedelt. Daher stammt vermutlich auch die Ausgrenzung von ethnischen Russen aus den baltischen Gesellschaften. Der Wunsch nach "Heimholung russischer Erde" ist dort auf lange Sicht vereitelt durch deren NATO-Mitgliedschaft und damit Existenzgarantie.
Die Ukraine und Weißrußland haben eine verworrenere Geschichte, die mit der "Westverschiebung Polens" verbunden ist. Beide ehemalige Sowjetrepubliken haben also einen Geländegewinn in ihre Selbstbestimmung mitgenommen. Ich meine auch, daß dies für unseren EU-Partner Litauen zutrifft. Litauen war aber geschichtlich mit Polen verbunden im Polnisch-Litauischen Reich, so daß das Unrechtsgefühl der polnischen Minderheit sich dort in Grenzen hält. Auch wurden wiederholt polnisch-stämmige Mitbürger zu litauischen Ministern ernannt. Also, da wird sich nicht viel tun.
Man muß sehen, daß Polen nach dem 1. Weltkrieg ein Vielvölkerstaat war, der eben durch militärische Erfolge der Sowjetunion abgerungen worden war. Speziell in der westlichen Ukraine lebte eine starke polnische Minderheit... die zum größeren Teil nach 1945 in die deutschen Ostgebiete umgesiedelt wurden. Ähnlich wohl auch Weißrußland, wo es immer noch eine polnischsprachige Minderheit gibt, die aber unter der betont nationalistischen weißrussischen Führung keine besonderen Entfaltungsmöglichkeiten hat. Meine Beobachtung ist schon so, daß die national-klerikale polnische Regierung mit diesen Zuständen nicht sonderlich glücklich ist. Aber an eine Gebietsstreitigkeit mit Polen glaube ich in keinem der drei Nachfolgestaaten der SU Litauen, Weißrußland und Ukraine.
Im Osten der Ukraine leben mehrheitlich Russen; ob dort nun systematisch angesiedelt oder schon zur Zarenzeit dort zu Hause... das ist fast gleichgültig. Man muß damit rechnen, daß ein nationalistisch geführtes Rußland sich bei günstiger Gelegenheit den Südosten der Ukraine einverleibt. Dort sind russischsprachige Ukrainer keine vernachlässigbare Minderheit. Dementsprechende Spannungen und Trennungsbestrebungen gibt es reichlich mit russischer Unterstützung.
https://de.wikipedia.org/wiki/Donezbeck ... up2001.PNGMir ist nicht klar, ob die NATO oder die EU oder beide die Ukraine davor bewahren könnten. Beide Organisatione (NATO, EU) haben sich jedenfalls nicht bereit gefunden, die Ukraine unter ihren Schirm zu nehmen. Die Ukraine hat keine Bestandsgarantie über die OSZE und das Völkerrecht hinaus, die Dritte zum Eingreifen zugunsten der Ukraine veranlassen könnte. Rußland muß die günstige Gelegenheit abpassen; dann war's das. So wie in Georgien-Abchasien, Georgien-Südossetien oder der Krim. Das Völkerrecht gibt es für Rußland nur so lange, wie ein Mächtiger für seine Einhaltung sorgt!
So ist das nun einmal mit Nationalisten; man kann den Stellenwert der EU als friedenserhaltende Organisation in Europa gar nicht hoch genug einschätzen!